Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kapitel XIII im erkenntnistheoretischen Gesamtduktus der Probleme der Philosophie
3. Wissen als
3.1 das Wissen der Wahrheit
3.1.1 Abgeleitetes Wissen
3.1.2 Intuitives Wissen
3.2 das Wissen von Dingen
3.2.1 Wissen durch Beschreibung
3.2.2 Wissen durch Bekanntschaft
4. Wissen, Irrtum, Wahrscheinlichkeitsglaube
4.1 Das Wissen
4.2 Irrtum und Wahrscheinlichkeitsglaube
5. Schluss
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Wie können wir wissen, was wahr oder falsch ist?[1] Dieser Frage widmet Bertrand Russel ein eigenes Kapitel in einer ersten einfachen Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie Problems of Philosophy (1912, dt. Probleme der Philosophie). Hierin bezeichnet Russell als eine der Hauptaufgaben der Philosophie das Ordnen und Organisieren von Wissen mit dem Ziel des Ausschlusses von Zweifeln.[2] Diesen frühen philosophischen Standpunkt bezeichnet er selbst als analytischen Realismus. Realismus versteht sich im Sinne von nichtmentalen unabhängigen Enitäten, unabhängig vom erkennenden Subjekt, aus denen sich die Welt zusammensetzt. Das Subjekt tritt in erkenntnismäßige Relationen zu den Gegenständen der Welt. Der Akt der Erkenntnis verändert diese Relationen nicht, denn diese sind extern. Analytisch ist Russells Realismus dadurch, dass das Komplexe in Abhängigkeit zum Einfachen steht und nicht umgekehrt. Ein Objekt bleibt unverändert, ob als Teil eines komplexen Objekts oder nicht. Ob wir Teile oder Ausschnitte der Welt erkennen, das Objekt bleibt unverändert, eine Verfälschung ist nicht möglich. Russell sieht hinter den vagen und unbestimmten Alltagserscheinungen eine höhere, genau bestimmtere und präzisere Welt, deren Gegenstände und Relationen ebenso genau und präzise bestimmt werden können. Die Welt ist für den frühen Russell eine logische Welt. Diese hat eine logische Struktur, die allerdings erst durch die logische Analyse gefunden werden muss, denn an der Oberfläche liegen Vagheit und Unbestimmtheit. Erst im Laufe seiner späteren Arbeit verabschiedet sich Russell allmählich von seinem logischen Weltbild, indem er eingesteht, dass die logische Struktur der Welt allererst durch große begriffliche Anstrengungen erfordernde Analysen herausgearbeitet werden muss, um schließlich sehr viel später einzusehen, dass sich Vagheit und Unbestimmtheit in der Erkenntnis der wirklichen Welt nicht verbannen lassen.[3]
Die vorliegende Hausarbeit Die Struktur des Wissens in Bertrand Russells Wissen, Irrtum und Wahrscheinlichkeitsglaube lt. Kapitel XIII der erkenntnistheoretischen Abhandlung Probleme der Philosophie folgt der logischen Analyse Russells auf dem Weg zu seiner komplexen Theorie des Wissens, die ein logisches Wissensideal impliziert, das Russell als absolute Grenze, die niemals erreichbar ist, logisch konstruiert und in seiner Arbeit und mit der Einführung seines Wahrscheinlichkeitsglaubens dahingehend relativiert, dass Wissen in seiner Definition erneut in Frage gestellt wird und Evidenz generell bezweifelt. Die Unmittelbarkeit des Wissens ist in der logischen Analyse der Struktur des Wissens nach Russell durchaus zweideutig. Zum einen wird die Evidenz des Wissens zur Grundlage einer absoluten Wahrheit mit absoluter Evidenz, die er als petitio principii verwirft und als eben diese Grundlage weiter ausbaut, als zweite Art von Evidenz mit einer Abstufung von Graden, die zu seinem Wahrscheinlichkeitsglauben führt. Zum zweiten zeigt die Korrespondenztheorie das Problem der Wahrheit im doppelten Sinne, als Verhalten der Sache und das entsprechende Urteil mit der speziellen Geltung, die mehr oder weniger verbunden miteinander korrespondieren. Als formal logische Theorie erweist sich diese auf den ersten Blick als evident, bei näherer Betrachtung insbesondere mit Blick auf den menschlichen Handlungs- und Praxisbezug der Wahrheit bleibt die Theorie im Zweifel verhaftet, der nach ständiger Verifikation verlangt.[4]
Nach einer kurzen Einordnung des Kapitel XIII der Probleme der Philosophie in den Gesamtduktus der Abhandlung (2.) soll die Struktur des Russellschen Wissens nach seiner ersten Einordnung als Wissen der Wahrheit (3.1) und Wissen von Dingen (3.2), sowie deren jeweils weitere zwei Bestandteile, das abgeleitete Wissen (3.1.1) und das intuitive Wissen (3.1.2), sowie das Wissen durch Beschreibung (3.2.1) und das Wissen durch Bekanntschaft (3.2.2) analog der Argumentationsstruktur des Kapitel XIII analysiert werden. In einem weiteren Schritt (4.) wird das Wissen als Wahrheit (4.1), Irrtum und Wahrscheinlichkeitsglaube (4.2) offengelegt und einer kritischen Prüfung unterzogen.
Gesamtduktus der Probleme der Philosophie
Mit einer ersten einfachen Erkenntnistheorie beschäftigt sich Russell in den Problemen der Philosophie, „The Shilling Shocker“[5], eine Abhandlung, die aus 15 Einzelkapiteln besteht. In dieser Schrift widmet er sich den Begriffen Erscheinung und Wirklichkeit, der Frage nach der Existenz von Materie, sowie deren Natur, dem Wesen des Idealismus, den Erkenntnisformen, der Induktion, der Erkenntnis allgemeiner Prinzipien, der Frage, wie Erkenntnis a priori möglich ist, der Welt der Universalien und unserer Erkenntnis der Universalien, der intuitiven Erkenntnis, der Theorie von Wahrheit und Falschheit, Wissen, Irrtum und Wahrscheinlichkeit, den Grenzen philosophischer Erkenntnis und abschließend dem Wert der Philosophie.[6] In Kapitel I Erscheinung und Wirklichkeit nimmt Russell eine Differenzierung beider Begriffe vor. Das Individuum erfährt demnach durch die sinnliche Wahrnehmung lediglich die Erscheinung des Gegenstandes, sogenannte Sinnesdaten, die von dem Gegenstand in dessen unabhängiger Existenz zu unterscheiden sind.[7] Russell stellt fest, dass die Philosophie die Macht hat, „Fragen zu stellen, die das Interesse an der Welt mehren und die zeigen, wie das Wunder dicht unter der Oberfläche der alltäglichsten Dinge liegt“[8]. Kapitel II Die Existenz der Materie zeigt anhand instinktiver Überzeugungen, die als plausibel anzunehmen sind, auch ohne schlüssigen Beweis, dass Sinnesdaten ein tatsächliches Zeichen der Existenz der Wahrnehmungen des Betrachters unabhängiger Dinge sind[9], wenngleich „wir niemals die Existenz anderer Dinge als die unserer selbst und unserer Erlebnisse beweisen können“.[10] Als Resultat der Reflexionen ergibt sich in Kapitel III Die Natur der Materie, dass das innere Wesen von physikalischen Gegenständen selbst bleibt, allerdings für die sinnliche Wahrnehmung unerkennbar. Es sind die Eigenschaften der Beziehungen zwischen physikalischen Gegenständen, die analog den Beziehungen zwischen Sinnesdaten abgeleitet werden können.[11] Kapitel IV Der Idealismus verwirft Russell einerseits den Idealismus im Allgemeinen und andererseits den Idealismus und seine Argumentation von Berkeley im Besonderen. Durch Zurückweisen des Satzes, dass wir nicht wissen können, was wir nicht kennen, leitet Russell hieraus zwei Bedeutungen des Wortes „know“ das Wissen um Wahrheiten und das Wissen der Dinge ab.[12] Kenntnis durch Bekanntschaft und Kenntnis durch Beschreibung ist die Überschrift des Kapitel V, in dem Russell erstmals seine Theorie des Wissens darlegt. Bekanntschaft ist eine direkte Bewusstwerdung, die ohne logische Herleitung aus Konklusionen oder vorhergehender Erkenntnis von Wahrheiten erfolgt. Bekannt sind uns damit die eigenen Sinnesdaten, Universalien, allgemeine Ideen und unser eigenes Ich. Die Bekanntschaft findet in der Introspektion, dem Selbstbewusstsein ebenso statt, wie in unserem Gedächtnis. Erkenntnis durch Beschreibung als zweite Form des Wissens von Dingen beinhaltet jeden Ausdruck der Form „ein so-und-so“ oder „der, die, das so-und-so“. Die Beschreibungen können mehrdeutig oder auch eindeutig sein. Die Erkenntnis durch Beschreibung ermöglicht dem Individuum die Schranken seiner persönlichen Erfahrung, die Schranken der Introspektion bzw. des Selbstbewusstseins zu überwinden.[13] Kapitel VI behandelt das Induktionsprinzip, das für die Geltung aller auf Erfahrung beruhender Schlussfolgerungen unverzichtbar ist. Das Induktionsprinzip selbst ist nicht durch Erfahrung zu beweisen und wird in concreto für wahr gehalten, es gilt als evident.[14]
„So ist alles Wissen, das uns etwas auf Grund einer Erfahrung über etwas nicht Erfahrenes sagt, auf einen Glauben begründet, den Erfahrung weder bestätigen noch widerlegen kann, der aber wenigstens in seinen konkreteren Anwendungen ebenso fest in uns wurzelt wie das Wissen um viele der Erfahrungstatsachen.“[15]
Weitere Prinzipien, die eine Evidenz aufweisen, wie logische, mathematische und ethische Prinzipien, stellt Russel in Kapitel VII dar. Russel nimmt bei der Anerkennung apriorischer Prinzipien eine Position zwischen Empiristen und Rationalisten ein. Diese Prinzipien sind zwar von der Erfahrung logisch unabhängiges Wissen und durch Erfahrung nicht beweisbar, doch werden diese erst durch Erfahrung selbst hervorgerufen. Traditionell benennt Russell hier drei „Denkgesetze“ als Beispiele evidenter logischer Prinzipien: „(1) Der Satz der Identität: „Alles was ist, ist“. (2) Der Satz des Widerspruchs: „Nichts kann sowohl sein als auch nicht sein“. (3) Der Satz vom ausgeschlossenen Dritten: „Alles muß entweder sein oder nicht sein.“[16] Daran anschließend in Kapitel VIII zeigt Russell Wie apriorische Erkenntnis möglich ist. Im Hinblick auf die Möglichkeit apriorischer Erkenntnis greift der Verfasser die Philosophie Kants auf. Apriorisches Wissen ist für Russell nicht nur ein Wissen von der Verfassung des Bewusstseins. Er wendet apriorisches Wissen auch auf alles nicht zum Bewusstsein Zählendes an. Problematisch ist hierbei die Einordnung von Beziehungen, wie in dem Satz „Ich bin in meinem Zimmer“. Die Wahrheit des Satzes ist nicht durch Denken feststellbar und daher können Beziehungen weder im Bewusstsein noch in der Außenwelt lokalisiert werden.[17] Synonym zu Platons Ideen geht Russell in Kapitel IX Die Welt der Universalien auf die Bekanntschaft zurück (Kapitel V), die Voraussetzung für die Erkenntnis von Wahrheiten ist. Universalien sind unabhängig vom Bewusstsein keine Denkakte. Die Universalien bestehen als eigenständige Gegenstände des Denkens, sobald sie erkannt sind.[18] Kapitel X Über unsere Kenntnis der Universalien teilt Russell das Wissen von Universalien und Konkreta in drei Gruppen ein, erstens als Wissen durch Bekanntschaft, zweitens als Wissen durch Beschreibung oder drittens als Wissen weder durch Bekanntschaft noch durch Beschreibung. Über zahlreiche Beispiele stellt er die Behauptung auf, dass alle apriorische Erkenntnis ausschließlich mit den Beziehungen zwischen Universalien zu tun hat, um schließlich das Kapitel mit einem Überblick über die Quellen unseres Wissens zu beschließen. Er unterscheidet Wissen von Dingen und Wissen von Wahrheiten und unterteilt diese wiederum in zwei weitere Arten, eine jeweils unmittelbare und eine abgeleitete. Die unmittelbare Kenntnis von Dingen durch Bekanntschaft sind Konkreta, denen empirische Prinzipien zugrundeliegen und Universalien, die keinem Prinzip folgen. Abgeleitetes Wissen von Dingen ist Wissen durch Beschreibung, das die Bekanntschaft mit etwas voraussetzt, ebenso wie das Wissen von Wahrheit. Das Wissen von Wahrheit unterteilt sich in intuitives Wissen, das unmittelbar ist und aus evidenten Wahrheiten besteht. Diese evidenten Wahrheiten sind Sinnesdaten, abstrakte logische und arithmetische Prinzipien und auch teilweise ethische Grundsätze mit geringerer Evidenz. Abgeleitetes Wissen von Wahrheiten beinhaltet alles Wissen aus evidenten Wahrheiten, das mit Hilfe von evidenten Prinzipien der Deduktion abgeleitet ist. Alles Wissen um Wahrheiten hängt somit vom intuitiven Wissen ab.[19] Dem intuitiven Wissen widmet Russell das Kapitel XI Über intuitives Wissen, die unmittelbare Erkenntnis von Wahrheiten. Das Induktionsprinzip, wie auch andere logische Prinzipien gelten nach Russell als in höchstem Grade evident, ebenso wie „Wahrnehmungsurteile“. Diesen Begriff führt Russel hier ganz neu ein. „Wahrnehmungswahrheiten“ sind von den Sinnesdaten zu unterscheiden, sie stammen direkt aus Empfindungen und drücken sich in den „Wahrnehmungsurteilen“ aus. Verwandt mit diesen Urteilen sind die „Erinnerungsurteile“, die in Abhängigkeit vom Gedächtnis stehen. Wesentliche Eigenschaft von Evidenz ist hier die graduelle Verschiedenheit von absoluter Gewissheit bis hin zu einer unmerklichen Nuance von Glaubhaftigkeit.[20] In Kapitel XII Wahrheit und Falschheit führt Russell seine Theorie der Wahrheit ein; hier wird Wahrheit als eine Eigenschaft des Glaubens dargestellt, die dann gegeben ist, wenn die Gegenstände des Glaubens mit den entsprechenden Tatsachen übereinstimmen, wobei Meinungen stets vom Subjekt abhängig sind, der Wahrheitswert ist subjektunabhängig. Ein Glaube ist dann wahr, wenn es einen ihm entsprechenden Tatbestand gibt.[21] Nachdem die Bedeutung von Wahrheit und Falschheit festgestellt ist, wendet sich Russell in Kapitel XIII Wissen, Irrtum und Wahrscheinlichkeitsglaube den Mitteln zu, mit denen festgestellt werden kann, ob ein Glaube wahr oder falsch ist, „wie können wir wissen, was wahr oder falsch ist.“[22] Aus dem Wissen von Wahrheit, seiner Theorie der Wahrheit, abgeleitetem und intuitivem Wissen und aus dem Wissen von Dingen, seiner Theorie des Wissens, durch Bekanntschaft und durch Beschreibung arbeitet Russell in der Synthese beider Theorien zwei Arten von Evidenz heraus, die ihn zu folgender Definition für das Wissen führen:
[...]
[1]Russell, Bertrand: Probleme der Philosophie. Wien 1950, S. 133.
[2]Mormann, Thomas: Bertrand Russell. München 2007, S. 101.
[3]Ebd.: S. 95-97.
[4]Vgl. hierzu die Ausführungen: Ritter, Joachim (Hrsg.): Verifikation In: Ders.: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1971. Band 11, S. 697 und ders.: Wahrheitskriterium In: Ders.: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt 1971. Band 12, S. 186, desweiteren zum Thema Korrespondenztheorie und ihre Problematik: Beckmann, Jan P.: Ausgewählte Probleme der Erkenntnistheorie. Band 2, Hagen 2010, S. 67-74.
[5]Landini: Gregory: Russell. New York 2011, S. 221.
[6]Sandvoss, Ernst R.: Russell. Hamburg 1980, S. 30.
[7] Russell: Probleme der Philosophie, S. 7-17.
[8] Ebd.: S. 17.
[9] Ebd.: S. 18-27.
[10] Ebd.: S. 23.
[11] Russell: Probleme der Philosophie, S. 28-37.
[12] Ebd.: S. 38-46.
[13] Ebd.: S. 47-60.
[14] Ebd.: S. 61-71.
[15] Ebd.: S. 70-71.
[16] Russell: Probleme der Philosophie, S. 72-82; Denkgesetze S. 74.
[17] Ebd.: S. 83-91.
[18] Ebd.: S. 92-102.
[19] Russell: Probleme der Philosophie, S. 103-112.
[20] Ebd.: S. 113-120.
[21] Ebd.: S. 121-132.
[22] Russell: Probleme der Philosophie, S. 133.