Kognitives Lernen auf der Grundlage von Bewegung im Schulalter


Examensarbeit, 2010

91 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Historischer Hintergrund von Bewegung und Lernen

3 Bewegung und kindliche Entwicklung
3.1 Auswirkungen von Bewegungsmangel
3.2 Kognitive Entwicklung bei Kindern
3.3 Bedeutung von Bewegung im Kindesalter
3.4 Weltaneignung der Kinder durch Bewegung
3.5 Vom Handeln zum konkreten Denken
3.6 Bewegung und Gesundheit

4 Zusammenhang zwischen Bewegung, Gehirnfunktion und kognitivem Lernen
4.1 Nervenzelle und synaptische Verbindungen
4.2 Hippokampus und Kortex
4.3 Exekutive Funktion
4.4 Neurotransmitter
4.5 Endorphine
4.6 Gehirndurchblutung
4.7 Eiweißsynthesekapazität
4.8 Kortikale Karten
4.9 Sensomotorik

5 Bedeutung der Sinne für die kognitive Entwicklung

6 Einfluss von Motorik auf Konzentration und Intelligenz
6.1 Konzentration und Lernen
6.2 Motorik und Intelligenz
6.3 Koordinationsvermögen

7 Die Schule kommt in Bewegung
7.1 Bewegtes Lernen
7.1.1 Bewegung im Deutschunterricht
7.1.2 Bewegung im Mathematikunterricht
7.3 Bewegung und Schulleistung

8 Fazit und Ausblick

9 Literaturverzeichnis

Internetquellen:

1 Einleitung

Aktuell stößt man immer wieder auf Veröffentlichungen, in denen bedenkliche Entwicklungen hinsichtlich der schulischen Leistungsfähigkeit und dem Gesundheitszustand unserer Kinder beschrieben sind. In der heutigen Zeit verbringen viele Kinder immer mehr Freizeit mit elektronischen Spielen und vor dem Fernsehapparat. Dieses Verhalten schränkt nicht nur die Aufnahme und Beibehaltung sozialer Kontakte ein, sondern unterbindet auch vielfach die Möglichkeit zu ausreichender Bewegung. Wie bedeutend körperliche Aktivitäten allerdings für die kognitive Entwicklung von Kindern sind, zeigt die große Bandbreite an Studien und neurowissenschaftlichen Untersuchungen. Inzwischen erreichen ca. 50 % der Jugendlichen in Europa den Richtwert für gesundheitsbezogene körperliche Aktivität, d.h. eine Stunde kumulierte moderate Bewegung pro Tag, nicht (vgl. Brettschneider in Hummel, 2008, S. 7, www.5toair.de). Die Folgen von Bewegungsmangel sind vielfältig und reichen von körperlichen, gesundheitlichen, sozialen und kognitiven Problemen über Unausgeglichenheit bis hin zu Konzentrationsstörungen. Inwiefern bei Kindern durch körperliche Aktivitäten insbesondere die kognitive Leistung gefördert bzw. bei Defiziten entgegengewirkt werden kann, ist Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit.

In dieser Wissenschaftlichen Hausarbeit leitet ein kurzer historischer Rückblick auf die Rolle, die Bewegung im Hinblick auf das Lernen spielt, in das Thema „Kognitives Lernen auf der Grundlage von Bewegung im Schulalter“ ein. Hier werden verschiedene pädagogische Ansätze, die sich schon früher vom rein verkopften Lernen abwandten, skizziert. Anschließend wird auf die Relevanz von Körperbetätigung für die allgemeine kindliche, unter besonderer Berücksichtigung der geistigen Entwicklung, eingegangen. Zudem werden die negativen Folgen, die auf unzureichende Bewegung zurückzuführen sind, beschrieben. Weiter wird aufgezeigt wie grundlegend die handelnde und aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt für das Kennenlernen und Verstehen der (materiellen) Welt ist.

Es folgt ein Überblick über die Gehirnfunktionen und Gehirnstrukturen, die durch sportliche Aktivität verändert, bzw. leistungsfähiger werden. Es wird aufgezeigt inwiefern diese Modifikation des Gehirns das kognitive Lernen beeinflusst und unterstützt. Das nächste Kapitel informiert über den Stellenwert gut ausgebildeter Sinne für die Informationsaufnahme und somit auch für Lernprozesse.

Im sechsten Kapitel ist der Zusammenhang zwischen körperlichen Aktivitäten und einer verbesserten Konzentrationsfähigkeit dargestellt. Eine Studie zeigt auf, dass durch Bewegung während des Schulvormittags die Konzentrationsfähigkeit der Schüler nicht nur gehalten, sondern sogar gesteigert werden kann. Es schließt sich eine Betrachtung über Motorik und Lernen an. Vor allem die Feinmotorik ist für viele kognitive Aspekte, wie Sprechen und Schreiben, unerlässlich. Das Folgende thematisiert die Bedeutung der koordinativen Fähigkeiten bezüglich der kognitiven Leistung, insbesondere der Konzentrationsfähigkeit. Auf verschiedene koordinative Teilkomponenten wird eingegangen und kurz erläutert wie sie jeweils geschult werden können.

Das Kapitel über Bewegung mit besonderem Augenmerk auf die Schule illustriert wie bewegtes Lernen sich im Deutsch- und Mathematikunterricht auswirken kann. Anschließend werden Anregungen zu verschiedenen Bewegungsangeboten während des gesamten Schulalltags gegeben und auf den Stellenwert hingewiesen, dem Bewegung in den Bildungsplänen beigemessen wird. Zum Abschluss sind noch verschiedene Studien aufgezählt, die die Abhängigkeit zwischen Körperbetätigung und geistiger Leistungssteigerung sowie verbesserten Schulleistungen wissenschaftlich belegen.

Im Fazit erfolgt eine kurze Zusammenfassung der zentralen Aussagen der vorliegenden Arbeit, die Bedeutung von Bewegung auf das kognitive Lernen wird diskutiert und der eigene Standpunkt zum behandelten Thema dargelegt. Abschließend folgen noch offener Fragen, denen in Zukunft nachgegangen werden müsste.

Praxisbeispiele über die konkrete Gestaltung des Unterrichtes sind nur am Rande erwähnt. Interessierte Pädagogen werden in diesem Bereich schnell fündig und stoßen in entsprechender Literatur auf gute Anregungen. Dennoch ist an einigen Textstellen auf empfehlenswerte Literatur, die eine Fülle von Umsetzungsbeispielen aufzählt, hingewiesen.

In der vorliegenden Arbeit wird aus Gründen des einfacheren Leseflusses auf eine getrennte Ausweisung der weiblichen Schreibform verzichtet, wo möglich werden allgemeine Begriffe verwendet, ansonsten ist in der männlichen Form die weibliche jeweils mitgedacht.

Internetquellen sind - wo möglich - mit dem Nachnamen des Autors und soweit vorhanden mit dem Datum der Veröffentlichung zitiert; ist kein Autor bekannt, wird der Titel angegeben. Die Internetadressen sind nach einem Zitat jeweils in Kurzform aufgeführt und erscheinen in kompletter Form im Literaturverzeichnis.

Forschungs- und Literaturstand

Die „Bewegungs-Neurowissenschaft” ist auf den Sportwissenschaftler Wildor Hollmann zurückzuführen (vgl. Siefer & Miltner & Pratschko, 2007, www.focus.de). Diese Wissenschaft untersucht den Zusammenhang von “regionalen hämodynamischen[1], metabolischen, kognitiven und psychischen Verhaltensweisen während körperlicher Aktivität.” (Hollmann, 2001, S. 337, www.zeitschrift-sportmedizin.de) Auf Grund technischen Fortschritts, wie beispielsweise bildgebender Verfahren, etablierte sich dieser Wissenschaftszweig etwa ab der zweiten Hälfte der 80er Jahre (vgl. Hollmann & Löllgen, 2002, www.aerzteblatt.de). Die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) ermöglicht es die Gehirnaktivität mit hoher Auflösung zu untersuchen (vgl. Spitzer & Kubesch, S. 16, www.tznl.de). So wurde es möglich, ab Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre sowohl die regionale Gehirndurchblutung als auch die Stoffwechselvorgänge im Gehirn während einer körperlichen Aktivität auf dem Fahrradergometer zu erheben (vgl. Hollmann, 2001, S. 337, www.zeitschrift-sportmedizin.de). Neue technische Verfahrensweisen brachten 1998 eine Wende in der Neurobiologie (vgl. Siefer & Miltner & Pratschko, 2007, www.focus.de). Bis dahin herrschte noch die Ansicht vor, dass bei Erwachsenen keine Nervenzellen neu gebildet und keine neuen synaptischen Verbindungen entstehen können, Ende des 20. Jahrhunderts konnte aber das Gegenteil bewiesen werden (vgl. ebd.).

Schon bevor bildgebende Verfahren Einblick in die Prozesse des Gehirns während körperlicher Aktivität ermöglichten, wurde in Studien die Beziehung zwischen Bewegung und kognitiven Fähigkeiten untersucht. Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt nur möglich die Wirkung von sportlicher Aktivität auf die geistige Leistung beispielsweise durch einen Konzentrations- oder Leistungstest zu messen. Der technische Fortschritt in den letzten Jahren macht es möglich, Veränderungen im Gehirn auf Grund körperlicher Belastung festzustellen. Der schon zuvor erkannte Zusammenhang zwischen Bewegung und geistiger Leistungssteigerung konnte nun neurowissenschaftlich erklärt werden. So konnte eine gesteigerte Gehirndurchblutung, Neubildung von Nervenzellen sowie neue synaptische Verschaltungsmuster mit Bewegung in Verbindung gebracht werden. Diese Vorgänge im Gehirn beeinflussen kognitive Lernprozesse.

Um weitere Erkenntnisse über den Einfluss physischer Aktivität auf das Gehirn zu erlangen, werden Tierversuche, häufig an Mäusen, vorgenommen. Die gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisse müssen daraufhin überprüft werden, ob sie auf den Menschen übertragbar sind. Auf dem Gebiet der Be- wegungs-Neurowissenschaft ist auch für die Zukunft mit weiteren Entdeckungen zu rechnen, so dass vermutlich immer mehr über den Zusammenhang von Bewegung und Lernen bekannt wird. Ein solcher Wissenszuwachs sollte dann Einzug in die Pädagogik und die Gestaltung des Schullebens finden, damit das Lernen optimiert werden kann.

Aussagekräftige Veröffentlichungen und Hinweise zum Thema meiner Wissenschaftlichen Hausarbeit fand ich überwiegend in Literatur sowie Internetquellen von Sport- und Neurowissenschaftlern sowie Entwicklungsund Lernpsychologen.

Die Sportwissenschaftlerin Sabine Kubesch befasst sich in ihrem 2007 veröffentlichten Fachbuch „Das bewegte Gehirn. Körperliche Aktivität und exekutive Funktionen“ mit der Frage, wie sich Bewegung auf das Gehirn auswirkt. Insbesondere geht sie auf den Einfluss ein, den Bewegung auf die exekutive Funktion, die unter anderem das Planungsvermögen und Arbeitsgedächtnis umfasst, hat. Sie beschreibt synaptische Anpassungserscheinungen und die Neurogenese, welche durch physische Aktivität beeinflusst werden. Der Neurobiologe Manfred Spitzer befasst sich mit dem Thema, wie wir lernen und was Lernen beeinflusst. Vor allem in seinen Werken „Selbstbestimmen: Gehirnforschung und die Frage: Was sollen wir tun?“ (2004) und „Lernen: Gehirnforschung und die Schule des Lebens“ (2003b) betont er die Bedeutung der synaptischen Verschaltungsmuster für das Lernen. Der Entwicklungspsychologe Jean Piaget hat sich in seinem Werk „Meine Theorie der geistigen Entwicklung“ (1970) intensiv damit auseinandergesetzt, welche Rolle die Interaktion zwischen dem Kind und seiner materiellen Umwelt in Bezug auf das Lernen und das Gewinnen von Erkenntnissen spielt. Das Bewegen und die aktive Auseinandersetzung mit der Umgebung sieht er als Grundlage der (geistigen) Entwicklung.

2 Historischer Hintergrund von Bewegung und Lernen

Die Entdeckung des Zusammenhangs zwischen Bewegung und Lernen ist kein neues Phänomen. Bereits bei dem Philosophen und Pädagogen JeanJacques Rousseau (1712-1778) findet man hierzu pädagogische Ansätze Dieser wiederum beeinflusste mit seinen Theorien andere wie die Reformpädagogin Maria Montessori (1870-1952) und Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827), Pädagoge und Schulreformer, dessen Grundideen heute noch vielfach in der modernen Pädagogik zu finden sind. Auch der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896-1980) liefert zu diesem Thema interessante pädagogische Ansätze und orientiert sich wie die zuvor genannten Persönlichkeiten an einer erfahrungsnahen Erziehung.

Erlebnis, Erfahrung und Abenteuer sind nach Rousseau notwendige Lernprinzipien. Das unmittelbare Lernen über die Sinne und nicht das kognitive Belehren und Unterrichten entspricht der Lebenswelt des Kindes. Die einfache Logik Rousseaus ist: „Wer handelt, lernt besser und mehr, und wer gut handelt wird ein guter Mensch.“ (Rousseau, 1975, S. 9) Seiner Meinung nach sollen Kinder ihre Zeit nicht nur mit Büchern verbringen, sondern lieber praktisch mit ihren Händen Dinge erstellen und erfahren. Auf diese Art ist die Welt für den Geist leichter zu begreifen, als wenn sie nur theoretisch betrachtet wird. Nach Rousseau sind Handeln, Erfahren und Erleben zentrale Unterrichtsprinzipien. Kinder vergessen theoretisches Wissen schneller, praktische Anwendungen hingegen, in die die Sinne mit einbezogen werden, prägen sich in das Gehirn des Kindes leichter ein.

Nach dem Erziehungswissenschaftler Bijan Adl-Amini steht immer noch die von Pestalozzi angesprochene Dreiteilung der Menschenbildung nämlich „Herz, Kopf und Hand“ im Zentrum der modernen Didaktik (2001, S. 153). Geändert hat sich nur die Ausdrucksweise: „Statt Herz, Kopf und Hand sagen wir heute: kognitiv (Bereich des rationalen Erkennens), affektiv (Bereich der Einstellungen und Emotionen) und psychomotorisch (Bereich des Könnens) (ebd. S.153). Nach Pestalozzi kann also erfolgreiches Lernen nur stattfinden, wenn sowohl Empfindungen (Herz) angesprochen werden, aktives Handeln (Hand) möglich ist, sowie der Geist (Kopf) mit einbezogen wird.

Maria Montessori hebt folgendermaßen die Bedeutung von Bewegung auf den Geist hervor: „In fast allen Schulen der heutigen Zeit, in der die Kinder beim Unterricht passiv sind, müssen Geist und Bewegung getrennt handeln. Diese Trennung führt zur Spaltung der kindlichen Persönlichkeit. Den Sinn, den wir in die Bewegung legen, ist ein viel tieferer, der nicht nur die motorischen Funktionen unseres Körpers betrifft, sondern der den ganzen Menschen in seinen korrespondierenden Ausdrucksmöglichkeiten erfasst.“ (1988, S. 18f.)

Nach Piaget gehen ausgeführte Handlungen in geistige Operationen über, d.h. geistige Leistungen sind verinnerlichte Tätigkeiten (vgl. Piaget, 2003, S. 48). Er betont auch den Einfluss von psychomotorischem Lernen auf die intellektuelle Fähigkeit. Dieses Wissen vom engen Zusammenhang zwischen Bewegung und Lernen findet heutzutage immer noch zu wenig Anwendung im Schulalltag; das rein kognitive Lernen steht im Mittelpunkt.

Auch die aktuelle Forschung bestätigt die Beziehung zwischen Bewegung und kognitiven Lernprozessen, sowie die Bedeutung von ganzheitlichem Lernen. Nach dem Sportwissenschaftler Jürgen Weineck wirkt sich die „Verkopfung“, die einseitige kognitive Belastung, verbunden mit zu wenig körperlicher Anstrengung auf das Verhalten, die Konzentration sowie auf die geistige Leistungsfähigkeit der heutigen Schulkinder negativ aus (vgl. 2007, S. 6). Auch Sabine Kubesch weist darauf hin, dass bei Menschen, die sich körperlich betätigen, während des gesamten Lebens Aussicht auf eine verbesserte Struktur des Gehirns besteht sowie mit einer reibungsloseren Funktionsweise desselben zu rechnen ist (vgl. 2007, S. 9).

Im Blick auf die bisherigen Erfahrungen bedeutender Pädagogen, dass Körperbetätigung sich günstig auf kognitives Lernen und die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt, kann es nicht ausbleiben, ein ganz spezielles Augenmerk auf den Aspekt von Bewegung und deren Einfluss auf die kindliche Entwicklung zu richten.

3 Bewegung und kindliche Entwicklung

Bewegung spielt hinsichtlich einer gesunden und altersgemäßen Entwicklung, insbesondere bei Säuglingen und Kindern eine bedeutende Rolle, denn über sie können wichtige Basiskompetenzen erworben werden. Durch Bewegung lernen Kinder, sich in ihrer Umwelt zurechtzufinden und sie sich zu erschließen. In der gängigen wissenschaftlichen Literatur scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass eine physische Aktivität für die körperliche und motorische Entwicklung des Menschen grundlegend ist. Zudem kann sich eine sportliche Betätigung vorteilhaft auf das emotionale Empfinden und die Persönlichkeitsbildung auswirken. Körperliche Aktivität ist nach Wildor Hollmann nicht nur für eine optimale körperliche, sondern auch für die geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen bedeutend (vgl. 2004, S. 32).

3.1 Auswirkungen von Bewegungsmangel

Die Gefahr, dass Internetnutzung auch in den Schulen mehr an Bedeutung erfahren könnte als sportliche Aktivitäten, veranlasste schon Alt-Bundes- präsident Johannes Rau im Jahr 2000 anlässlich der Festveranstaltung 50 Jahre Deutscher Sportbund zu folgendem Ausspruch: “Wer sagt: Schulen ans Netz, der muss auch sagen: Schüler auf den Sportplatz oder in die Halle oder ins Schwimmbad.” (Rau, www.bundespraesident.de)

Die tägliche Bewegungszeit der Kinder nimmt kontinuierlich ab. Gespräche mit meinen Eltern und deren Geschwistern bestätigten, dass es noch in den 50er/60er-Jahren üblich war, den Schulweg zu Fuß zurückzulegen oder sich auf spielerische Weise intensiv körperlich zu betätigen. Seilhüpfen, GummiTwist, Faul Ei oder die verschiedensten Spiele mit dem Ball, Rollschuh fahren, Hulla-Hup, Fangen und Verstecken spielen boten damals abwechslungsreiche Möglichkeiten der Bewegung und des sozialen Miteinander. Noch vor etwa 50. Jahren befanden sich die medialen Verführungen der heutigen Zeit erst in der Entwicklung bzw. in ihren Anfängen, so dass die Kinder nicht in Versuchung kamen stundenlang vor dem Fernsehapparat bzw. dem Computer zu sitzen. Heute vereinnahmt das (Still-) Sitzen immer mehr von der zur Verfügung stehenden freien Zeit. Obwohl der größte Teil des Vormittags bereits in der Schule viel gesessen wird, sehnen sich scheinbar immer weniger Kinder danach, am Nachmittag draußen zu spielen, sondern verbringen viel lieber ihre Freizeit mit elektronischen Medien. Laut dem Kinderarzt, Karl Ernst v. Mühlendahl, beschäftigen sich Jungen zwischen 11 und 17 Jahren pro Tag durchschnittlich 3,8 Stunden mit dem Fernseher, der Spielkonsole oder dem Computer, bei Mädchen der selben Altersklasse liegt der Durchschnitt bei 2,7 Stunden pro Tag (vgl. 2007, www.allum.de). Der Medienkonsum bei Jungen steigt bei niedrigem Sozialstatus sowie dem Besuch der Hauptschule teilweise stark an (vgl. ebd.).

Fernseher, PCs und Spielkonsolen verleiten Kinder und Heranwachsende nicht nur dazu, sich wenig zu bewegen, sondern verhindern auch eine kreative Freizeitgestaltung und unentbehrliche soziale Kontakte. So leidet die Kommunikation und das gemeinsame Spielen vor allem in der Natur. Es ist auch anzunehmen, dass bei einschlägigem Gebrauch der Medien die Gewaltbereitschaft steigt. Kinder- und Jugendärzte im Netz wiesen im Dezember 2007 daraufhin, dass Wissenschaftler der Columbia Universität mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie festgestellt haben, „dass sich durch das wiederholte Betrachten von Gewaltszenen die Aktivität der Gehirnregionen reduzierte, die für die Unterdrückung von Aggressionen verantwortlich sind.“ (Gewaltszenen: Einfluss auf Gehirntätigkeit, 2007, www.kinderaerzte-im-netz.de)

Weitere Folgen von intensivem Medienkonsum können psychosomatische Beschwerden sein, sowie Verhaltensauffälligkeit und entwicklungspsychologische Probleme (vgl. Mühlendahl, 2007, www.allum.de). Bei Kindern zwischen 11 und 13 Jahren lässt sich ein Zusammenhang zwischen intensiver elektronischer Mediennutzung und Fettleibigkeit feststellen. Von den Kindern, die eine Stunde am Tag vor der Spielkonsole, dem Computer oder dem Fernseher verbringen, sind 6% adipös, bei drei oder mehr Stunden leiden bereits schon 12% an Adipositas (vgl. ebd.). Nach dem Sportmediziner Hollmann waren Anfang des 21. Jahrhunderts bereits 40% der Schulkinder übergewichtig (vgl. 2004, S. 40). Dieser hohe Prozentsatz verdeutlicht, dass Übergewicht oft kein individuelles Problem ist, sondern ein Phänomen unserer heutigen Zeit. Solche Veröffentlichungen haben an Aktualität nichts verloren, die Situation hat sich eher noch verschlimmert. Auf Grund der unterschiedlichen Bezugsnormen schwankt der Prozentsatz bezüglich der zu dicken Kindern in Deutschland sehr. Man kann zwischen Adipositas (übermäßige Vermehrung des Fettgewebes), Übergewicht (übermäßiges Gewicht ohne Berücksichtigung der Körperzusammensetzung) (vgl. Warschburger & Peterman, 2000, S. 7) und Fettsucht (das Standardgewicht wird bei erhöhtem Fettanteil um 20% überschritten (vgl. Fettsucht-Adipositas. Entstehung und Behandlung, www.beratung-therapie.de)) unterscheiden. Häufiger Fernsehkonsum führt nicht nur zu einer Gewichtszunahme bei Kindern, sondern wirkt sich auch auf die motorische Leistungsfähigkeit aus, so konnte bei den motorisch extrem schlechten Grundschülern eine täglich höhere Fernsehdauer festgestellt werden, als bei den motorisch besonders guten Kindern (vgl. Scherer, 2004, S. 67). Kinder, denen häufige Auseinandersetzungen mit der Umwelt sowie mit ihren Mitmenschen verwehrt bleiben, können sich im sensorischen, motorischen sowie geistigen Bereich nicht altersgemäß entwickeln (vgl. Ayres, 2002, S. 93).

Mit dem Bewegungsmangel beginnt ein negativer Kreislauf:

Wenig Bewegung heißt geringer Energieverbrauch und führt häufig zu Übergewicht und zu Problemen des Haltungsapparates. Um Misserfolgen aus dem Weg zu gehen vermeiden viele übergewichtige Kinder „überflüssige“ Bewegungsaktivitäten, was zu Bewegungsbeeinträchtigungen führt. Je früher diese Einschränkung auftritt umso gravierender sind die Folgeerscheinungen (vgl. Zimmer, 2004, S. 16). Auf Übergewicht zurückzuführen sind auch Bluthochdruck oder Fettstoffwechselstörungen, die zu einem erhöhten Cholesterin- und Triglyzerinspiegel führen, ebenso zu Diabetes, einer Stoffwechselkrankheit (vgl. Hollmann, 2004, S. 40).

Zu wenig körperliche Aktivität führt zu einer schwachen Muskulatur. Eine solche ist nicht in der Lage Gelenke vor hoher Belastung zu schützen und kann ihnen keine ausreichende Stabilität bieten. Eine schlecht ausgebildete Muskulatur begünstigt auch häufiges Umknicken und kann zu Gelenkschäden oder langfristig zu Arthrose führen.

Mangelnde Bewegung erschwert außerdem den Spannungs- und Stressabbau. Stress wird erst dann zum Problem, wenn wir ihn, wörtlich genommen, nicht abarbeiten. Denn bei besonderen inneren und äußeren Anforderungen, die als Überforderung angesehen werden, schüttet der Körper Stresshormone aus, die eine physische Leistungsbereitschaft bewirken. Das Freisetzen dieser Energie diente unseren Vorfahrern ursprünglich als Vorbereitung zur Flucht oder zum Kampf. Da die Stressbewältigung kaum mehr durch „fight-or-flight“ möglich ist, kann dies beispielsweise durch ausreichende (sportliche) Bewegung kompensiert werden. Stresserkrankungen im Schulalltag äußern sich bei Schüler häufig in Versagensängsten.

Fehlende körperliche Aktivität kann auf der psychischen und der körperlichen Ebene zu Erkrankungen führen. Depressionen, Minderung der Lernbereitschaft, Erschöpfung und Konzentrationsstörungen sowie allgemeine psychosomatische Beschwerden, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Magen- oder Darmgeschwüre können als Folgeerscheinung auftreten.

Das häufige lange Sitzen und der Umgang mit elektronischen Medien führt zur „einseitigen Stimulierung des Hörsinns und Sehsinns, während andere Sinne wie Riechen, Fühlen und Tasten, Atmen und Sprechen vernachlässigt werden (...). Die Folge zeigt sich in mangelnden Verschaltungen der Zentren im Gehirn, was wiederum etwa eine Beeinträchtigung der Motorik zur Folge hat.“ (Hurrelmann, 2004, S. 26.) Dieses Defizit kann als Fehlsteuerung der Sinneskoordination bezeichnet werden. Wie groß der motorische Leistungsabfall in den letzten Jahren zugenommen hat zeigen die Ergebnisse des „Motoriktests für vier- bis sechsjährige Kinder“ (MOT 4-6), der die Koordinationsfähigkeit, die Raumorientierung sowie das Gleichgewicht und die Geschicklichkeit feststellt (vgl. Zimmer, 2004, S. 15). Mitte der 80er Jahre wurde der MOT 4-6 normiert und bereits 15 Jahre später lagen die Leistungen zehn Prozent unter den Anfangswerten (vgl. ebd.).

Ein geringes aktives Handeln und eingeschränkte Interaktion mit der Umwelt kann zu unzureichend ausgebildeter Augen-Hand-Koordination führen. Dieses hat zur Folge, dass die benötigte Feinmotorik, die zum Schreibenlernen notwendig ist, fehlt (vgl. Zimmer, 2004, S. 11). Eine fehlende Raum-Lage- Wahrnehmung verhindert es, dass die Lage der Buchstaben im Raum eingeordnet und ihre Bedeutung erschlossen werden kann (vgl. ebd.). Die Raum- Lage-Wahrnehmung kann nach der Sportpädagogin Renate Zimmer sich anfänglich nur über den Körper und die Bewegung aufbauen.

3.2 Kognitive Entwicklung bei Kindern

Der Begriff Kognition (lat. auf Erkenntnis bezogen) umfasst annähernd alle intellektuellen Leistungen, wie beispielsweise Aufmerksamkeit, Erkenntnis, Urteilen und Sprache (vgl. Edelmann, 2000, S. 113f.). „Unter Kognition versteht man jene Vorgänge, durch die ein Organismus Kenntnisse von seiner Umwelt erlangt“ (ebd. S 114). Die Psychologen Philip Zimbardo und Richard Gerrig beschreiben kognitive Entwicklung als „die Veränderung aller geistigen Prozesse: der Wahrnehmung, des Denkens, der Vorstellung und des Problemlösens.“ (1999, S .462) Kognitive Prozesse korrespondieren meist eng mit emotionalen sowie motivationalen Prozessen (vgl. Edelmann, 2000, S.114). Wissenserwerb beruht häufig nicht auf völligem Neulernen, sondern es kommt zum Umlernen bereits vorhandener Wissensstrukturen, die anhand kognitiver Prozesse aufgebaut wurden (vgl. ebd.). Vereinfacht könnte man sagen: Durch Kognition findet Wissenserwerb statt.

Der Psychologe Jean Piaget hat auf dem Gebiet der kognitiven Entwicklung bei Kindern, wie sie denken, herleiten und Probleme lösen, Pionierarbeit geleistet (vgl. Zimbardo & Gerrig, 1999, S. 462). Er bezeichnet kognitive Entwicklung als Summe der Interaktion zwischen Assimilation und Akkommodation (vgl. ebd. S. 463). Bei der Assimilation werden Wahrnehmungen und Informationen so verändert, dass sie in bereits vorhandene Schemata, d.h. in spezifische Strukturen, eingeordnet werden können (vgl. Zimbardo & Gerrig, 1999, S. 463). Bei der Akkommodation hingegen findet eine Veränderung bereits existierender Schemata oder eine Neuschaffung statt, da neue Informationen nicht in die vorhandenen Schemata eingeordnet werden können (vgl. ebd.).

Nach Piaget lässt sich die kognitive Entwicklung in vier Stufen unterteilen, die jedes Kind in der gleichen Reihenfolge durchläuft, wobei das Tempo variieren kann (vgl. Zimbardo & Gerrig, 1999, S. 463).

Die folgende Stufentheorie Piagets wird von den Autoren Zimbardo und Gerrig in „Psychologie“ beschrieben und nachstehend zitiert (vgl. 1999, S. 463ff.).

Sensomotorische Stufe:

Innerhalb der ersten beiden Lebensjahre lernen Kinder, ihre sensomotorischen Bewegungen zu verbessern und zu koordinieren sowie durch das Erkunden der Umwelt zu erweitern. Sobald Kinder erkennen, dass sie durch eigenes Handeln auf ihre Umwelt einwirken können, scheint ihr Verhalten zielgerichtet und kognitiv gesteuert. Gegen Ende dieser ersten Phase verfügen Kinder über innere Repräsentationen eines Gegenstandes und können mit ihm im Geiste hantieren auch bei seiner Abwesenheit. Sie wissen, dass ein Gegenstand auch existiert, wenn sie ihn nicht sehen können (Objektpermanenz).

Stufe des präoperationalen Denkens:

In der Zeitspanne zwischen circa dem zweiten und siebten Lebensjahr lernen Kinder, dass Gegenstände ihre Identität behalten, auch wenn sich ihre Erscheinung verändert. Am Anfang dieser Entwicklungsstufe denken Kinder noch, ein Junge könnte ein Mädchen werden, wenn er beispielsweise ein Kleid oder einen Rock anzieht. Das Denken während der präoperationalen Stufe bezieht sich mehr auf Symbole, als auf sensomotorische Beziehungen.

Allerdings ist ihr Denken noch mehr auf Anschauung angewiesen als auf Begriffe und Regeln. In diesem Entwicklungsabschnitt haben Kinder noch Probleme, sich mehr als auf einen Wahrnehmungsgesichtspunkt gleichzeitig zu konzentrieren. Dinge aus einer anderen Perspektive zu beschreiben ist noch nicht möglich, Piaget verweist auf eine fehlende Perspektivenübernahme.

Stufe der konkreten Denkoperationen:

In dieser Entwicklungsstufe, etwa im Alter von sieben bis elf Jahren, erwerben Kinder das Wissen über die „quantitative Invarianz“ (Erhaltung). Sie wissen nun, dass sowohl flüssige als auch feste Substanzen ihre Masse nicht dadurch verändern, dass sie unterschiedliche Formen annehmen. Verfügen Kinder noch nicht über die Fähigkeit der Mengeninvarianz, sind sie der Meinung, dass Wasser, das von einem breiten Gefäß in ein hohes und schmales umgeschüttet wird, in letzterem ein größeres Volumen einnimmt als in ersterem, da in dem schmalen Behältnis der Wasserspiegel höher steigt. Die Befähigung der Kinder zu erkennen, dass Mengen sich auf Grund von Änderungen ihrer Form nicht vergrößern oder verkleinern (Invarianz) verdeutlicht ihre Fähigkeit, Operationen im Geiste durchführen zu können. „Sie können Informationen geistig transformieren und die Reihenfolge der kognitiven Verarbeitungsschritte sogar umkehren. Sie verlassen sich nun eher auf Begriffe als auf das, was ihre Wahrnehmung sie sehen oder fühlen läßt.“ (Zimbardo & Gerrig, 1999, S. 465) Kinder können jetzt schlussfolgernd Denken, benutzen jedoch beim Erklären ihrer Überlegungen noch Symbole, Abstraktionen sind nicht möglich.

Stufe der formalen Denkoperationen:

In der abschließenden Stufe der kognitiven Entwicklung wird das abstrakte Denken ausgebildet. Dies beginnt etwa ab dem elften Lebensjahr. Nun können Operationen auch losgelöst von konkreten Problemen durchgeführt, Abstraktionen verwendet sowie hypothetische Fragen formuliert werden und Schlussfolgerungen gezogen werden.

Piagets Stufentheorie der kognitiven Entwicklung beginnt zunächst mit der sensomotorischen Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umwelt. Im nächsten Stadium wird die sensomotorische Aktivität immer mehr durch geistige Aktivität ersetzt, wobei das präoperationale Kind nur seine eigene Perspektive kennt. Im dritten Stadium kann das Kind mit vorgestellten und konkreten Objekten gedanklich umgehen. Die letzte Stufe endet bei Piaget damit, dass das Kind die Fähigkeit des abstrakten Denkens besitzt.

Auch andere Wissenschaftler, die sich mit Fragen des kognitiven Lernens befassen, sind der Ansicht, dass Wissenserwerb auf der „aktiven Auseinandersetzung“ mit der sich umgebenden Umwelt beruht (vgl. Winkel & Petermann & Pertermann, 2006, S 145). Kinder erwerben durch spielerische Aktivität wie beispielsweise ein Objekt betasten, es werfen oder fallen lassen ein Wissen über die Beschaffenheit des jeweiligen Gegenstandes sowie über ihre Handlungsmöglichkeiten (vgl. ebd.). Aus diesen Aussagen geht hervor, dass die immer noch verbreitete Praxis des „verkopften“ Lernens um eigenes Experimentieren und Ausprobieren der Kinder erweitert werden müsste, wobei ebenso Unternehmungen, in denen Sinneserfahrung zu machen sind, einzuschließen wären

3.3 Bedeutung von Bewegung im Kindesalter

Bewegung, häufig auch Motorik genannt, bezeichnet eine „räumlich-zeitliche Parameteränderung eines Körpers in Bezug auf seine Umgebung“ (Nüske, 1993, S. 7). In dieser Arbeit wird Bewegung in einem sehr umfassenden Sinne verwendet. Der Begriff umspannt hier ein weites Spektrum, gewissermaßen sind alle Bewegungen gemeint, die vom motorischen Areal aus gesteuert werden, wie Tätigkeiten und Handlungen sowie leichte körperliche und sportliche Aktivitäten. Im Zusammenhang mit Sport wird Bewegung als „zielgerichtet organisierte koordinierte Ortsveränderung des Körpers bzw. seiner Glieder als Folge regulierter Muskeltätigkeit“ (Hirtz & Pellmann & Schnabel, 1993, S. 149) verstanden. Da ein Handlungsziel verfolgt wird, wird neben der sensomotorischen Ebene auch eine übergeordnete Regulationsebene benötigt (vgl. ebd.). Bei fast allem was der Mensch tut, spielt Bewegung eine Rolle. So ermöglicht sie uns Kommunikation und ist Ausdruck unserer Gedanken (vgl. Ayres, 2002, S. 158). Da Bewegung von vielen verschiedenen Hirnprozessen beeinflusst wird, können verschiedene Störungen des Gehirns die Bewegungskoordination beeinträchtigen (vgl. ebd.).

Besonders im Säuglings- und Kindesalter spielt körperliche Aktivität eine ganz wesentliche Rolle im Hinblick auf eine gesunde Entwicklung. Körperliche Betätigung führt zu neurobiologischen Anpassungen und nimmt dadurch Einfluss auf die emotionalen, sozialen und kognitiven Prozesse (vgl. Kubesch, 2007, S. 9). Bewegung fördert die motorische und die koordinativen Fähigkeiten, die Kindern helfen „richtige Entscheidungen zu treffen und situationsangemessen zu handeln“ (Pfund, 2005, S. 9). Koordinative Fähigkeiten stehen in engem Zusammenhang mit Bewegungssicherheit, die beispielsweise Kindern beim Fahrradfahren eine bessere Bewältigung von Gefahrensituationen im Straßenverkehr ermöglicht, wodurch das Unfallrisiko herabgesetzt wird.

Bedeutsam für eine gesunde Entwicklung sind körperliche Belastungen. Muskelkontraktionen haben positive Auswirkungen auf den Halte- und Bewegungsapparates. Muskuläre Aktivität ruft eine hormonelle Reaktion hervor, die den Wachstumsprozess bei Kindern beeinflusst (vgl. Hollmann, 2004, S. 32).

Beim Spielen machen Kinder körperliche Erfahrungen. Sie lernen so ihre eigenen Fähigkeiten und Grenzen kennen, erleben Erfolg und Misserfolg. Wird es Kindern bewusst, dass ihre Handlungen etwas bewirken können und sie durch Üben zu Erfolgen kommen, erfahren sie ihre Selbstwirksamkeit, was sich wiederum fördernd auf ihr Selbstkonzept und Selbstvertrauen auswirkt (vgl. Zimmer, 2004, S. 14). Demnach soll Bewegungserziehung zu einer harmonischen Persönlichkeitsentwicklung beitragen. Bestimmte Bewegungsaufgaben können für Kinder eine Herausforderung darstellen. Stellen sie sich dieser, trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten, lernen sie Problemlösungsstrategien zu entwickeln und auch umzusetzen.

Das Spielen ermöglicht Kindern auch Erfahrungen im sozialen Bereich. Schwächere sollen unterstützt, der Mitspieler geachtet und geschätzt werden. Bei Mannschaftsspielen lernen Kinder, dass sie nur zum Ziel gelangen, wenn sie zusammenspielen und untereinander kooperieren. Das „Fair Play“ und das Einhalten von Regeln ist eine weitere Intention, die beim gemeinsamen Spiel angestrebt wird.

Um die Umwelt verstehen zu können ist es entscheidend, dass Kinder ihr aktiv handelnd gegenüber treten, also sich in ihr bewegen. Durch eigenes experimentelles Forschen in ihrem Lebensumfeld gelangen Kinder und Jugendlichen zu selbständigem Lernen und eigenen Erkenntnissen. Damit eine vielfältige Auseinandersetzung mit der Umwelt möglich wird, muss die Umgebung der Kinder auch reichhaltig und ansprechend sein. Attraktive Materialien fördern die Spiellust und damit die Begegnung mit der Materie, bei der Kinder Erfahrungen über deren Eigenschaften sammeln können. Wie bedeutend der Einfluss der Umgebung für die kognitive Entwicklung ist wird deutlich wenn man sich vor Augen führt, dass ca. 50% des IQ genetisch bedingt ist, die andere Hälfte aber vom Umfeld abhängt (vgl. Spitzer, 2004, S. 107).

Nach Renate Zimmer gelangen über die Sinnessysteme Informationen in unser Gehirn, Sinneserfahrungen ermöglichen Kindern sich ein Bild über die Welt und über sich selbst in ihr zu machen (vgl. 2004, 12). Ein natürliches und nahezu unerschöpfliches Betätigungsfeld, in dem Sinneswahrnehmungen möglich sind, bietet die Natur. Naturerfahrung ist ohne Bewegung nicht denkbar. So kann man sich vorstellen, dass sich diejenigen Kinder einen anderen Erfahrungsschatz aneignen, die sich viel im Freien bewegen, auf Bäume klettern, an Bächen spielen und Tiere in der Natur beobachten können als solche, die mitten in der Großstadt aufwachsen, in einem großen unpersönlichen Wohnblock wohnen und womöglich noch viele Stunden sitzend vor dem Computer oder dem Fernsehapparat verbringen. Der Sportpsychologe und Sportpädagoge Hans Georg Scherer verweist auf die These: „dass leibliche Erfahrungen durch Bewegung spezifische Qualitäten besitzen“ (2004, S. 67). Diese eigenen Erfahrungen sind unverzichtbar im Hinblick auf den Bildungs- und Entwicklungsprozess bei Kindern (vgl. ebd.). Wenn Sekundarerfahrungen durch die Medien überhand gewinnen führt dies zu langfristigen Folgen mit nachteiligen Effekten für die Entwicklung und das Lernen (vgl. ebd.). Die Entwicklungspsychologin und Beschäftigungstherapeutin Anna Jean Ayres vertritt die Meinung, dass Lernen ohne Betätigung in der Umwelt sehr erschwert wird (vgl. 2002 S. 82). Die aktive Aneignung von Naturerfahrung schafft authentische Erlebnisse, die ein Kind prägen und Einfluss auf Entscheidungen im späteren Leben haben können. So ist es durchaus vorstellbar, dass ein Erwachsener, der in seiner Kindheit eine intensive Beziehung zur Natur entwickeln konnte, sich eher für den Erhalt z.B. des Regenwaldes, der Artenvielfalt oder für Tier- und Naturschutz einsetzt als ein Kind das regelmäßig und ohne Realitätsbezug mehr oder weniger gewalttätige Spiele am Computer „konsumiert“ oder dem das Fernsehen ein wichtiger Bestandteil seines Lebens ist. Selbst wenn man den Vergleich nicht so drastisch wählt und annimmt, dass zwei Kinder dasselbe „lernen“ das eine in der Natur, das andere durch ein Buch - als sekundäre Erfahrung - ist diejenige Erfahrung zweifellos, die intensivere, vielseitigere und einprägsamere, die ein Kind mit allen Sinnen machen kann. Scherer äußert sich hierzu folgendermaßen: Um zu eigenen Erfahrungen zu gelangen ist aktives Handeln Voraussetzung, diese können dann verinnerlicht werden und auch in Zukunft von Bedeutung sein (vgl. 2004, S. 75).

Wie notwendig es ist, dass sich Kinder ausreichend bewegen wird auch durch die unterschiedlichen Wissenschaften und Fachrichtungen deutlich, die der Bewegung im Kindesalter Bedeutung beimessen (vgl. Zimmer, 2006, S. 189 f.):

Anthropologie: Der Mensch ist auf Bewegung angelegt, der durch Einsatz seiner Sinne sich ein Weltbild sowie ein Bild über sich selbst in ihr macht.

Entwicklungspsychologie: Kinder benötigen Bewegung und Spiel um ihre sachliche und räumliche Umwelt zu erkunden.

Lernpsychologie und Neuropsychologie: Bewegung und Wahrnehmung ist die Grundlage kindlichen Lernens.

Sozialökologie: Bewegungsangebote werden benötigt, um die Defizite der heutigen Lebenssituation auszugleichen.

Gesundheitspädagogik: Bewegung als Maßnahme den Bewegungsmangelerkrankungen entgegenzuwirken.

Unfallprävention und Sicherheitserziehung: Gut ausgebildete motorische Fähigkeiten können die Unfallgefahr verringern.

3.4 Weltaneignung der Kinder durch Bewegung

Kinder erschließen sich ihre Umwelt durch ständige Erweiterung ihres Hand- lungs- und Bewegungsspielraumes. Sie erwerben so ihr Wissen durch Bewegung, Spielen, Experimentieren also durch Handeln in ihrer Umwelt. Ein wichtiger Faktor sind auch Emotionen, das bedeutet, Kinder brauchen zum Lernen Erfahrungen aus erster Hand. Studien haben die Bedeutung von Emotionen für die Lernleistung nachgewiesen (vgl. Spitzer, 2004, S. 159f.). Durch Auseinandersetzung mit ihrem Lebensumfeld erwerben sich Kinder ein implizites, ein unbewusstes Wissen, das von inneren Gefühlen, Emotionen und Empfindungen geprägt ist. Empfindungen, eine bestimmt Art der Information, sind für eine adäquate Entwicklung des Nervensystems Voraussetzung (vgl. Ayres, 2002, S. 56). Damit das Gehirn sich optimal entwickeln und funktionieren kann, benötigt es Empfindungen als sensorische „Nahrung“ (vgl. ebd.). Wenn das implizite Weltwissen in Sprache gefasst wird, Kinder sich über ihre Erfahrungen austauschen, mit anderen kommunizieren und gelernt haben zu reflektieren, wird das Wissen mehr geistig, objektiv und bewusst und es entsteht ein explizites Weltwissen (vgl. Fischer, Vorlesung: SS 2009). Sowohl Erlebnisse als auch flüchtige Eindrücke führen zu Veränderungen der Vernetzung zwischen Nervenzellen und bilden dadurch Spuren im Gehirn (vgl. Spitzer, 2002, S. 3). Auf Grund dieser Spuren können ähnliche Erfahrungen effektiver verarbeitet werden (vgl. Spitzer, 2004, S. 71). Sie werden als Repräsentationen der Außenwelt bezeichnet (vgl. ebd. S. 12). Wenn neue Repräsentationen entstehen oder sie sich verändern, kommt es zu einer Anpassung der Stärke der synaptischen Verbindungen und es findet Lernen statt (vgl. ebd.). Das heißt die Verarbeitung von Ereignissen führt zur Veränderung des Nervensystems.

Diese Anpassungserscheinung der synaptischen Verbindungen wird als Neuroplastizität bezeichnet (vgl. Spitzer, 2004, S. 33).

Jean Piaget gehört zu den bedeutendsten Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts, die sich mit der Entwicklungspsychologie sowie der Erkenntnistheorie auseinander gesetzt haben. In „Meine Theorie der geistigen Entwicklung“ beschreibt Piaget den Zusammenhang zwischen Bewegung und Erkenntnis wie folgt: „Von den elementarsten sensomotorischen Handlungen (...) bis hin zu den kompliziertesten intellektuellen Operationen, welche verinnerlichte, gedanklich ausgeführte Handlungen sind (... ) ist Erkenntnis ständig verknüpft mit Handlung oder Operationen, d. h. mit Transformationen“ (2003, S. 44). Um zur Erkenntnis zu gelangen muss die Interaktion zwischen Mensch und Gegenstand reichhaltiger sein, als dasjenige was vom Objekt selbst ausgeht (vgl. ebd. S. 74). Als Beispiel kann die Addition im Mathematikunterricht herangezogen werden. Anfangs ist es hilfreich, wenn die Schulkinder die Addition handelnd an Objekten vornehmen, beispielsweise an einem Rechenschiff. Das materielle, sensomotorische und praktische Handeln geht in eigentliches Denken über (vgl. Piaget, 2003, S. 207 u. 225). Dass häufig eigenes Tun der Erkenntnis vorausgeht, zeigt ein Versuch der bestätigt, wie Kinder die Erhaltung von Gewicht begreifen, wenn sie mit Ton arbeiteten und dabei feststellen: Unabhängig von der Form des Tonklumpens bleibt sein Gewicht immer dasselbe (vgl. Piaget, 2003, S. 76). Kognitive Entwicklung ist also auf die Interaktion des Kindes und der physischen Außenwelt zurückzuführen (vgl. ebd. S. 97). Der Körper fungiert demnach als Bindeglied zwischen Subjekt und Umwelt.

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Ende der Leseprobe aus 91 Seiten

Details

Titel
Kognitives Lernen auf der Grundlage von Bewegung im Schulalter
Hochschule
Pädagogische Hochschule Ludwigsburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
91
Katalognummer
V165822
ISBN (eBook)
9783640816453
ISBN (Buch)
9783640816156
Dateigröße
2278 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kognitives, lernen, grundlage, bewegung, schulalter
Arbeit zitieren
Vanessa Bauer (Autor:in), 2010, Kognitives Lernen auf der Grundlage von Bewegung im Schulalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165822

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