Integration und Inklusion als pädagogische Voraussetzung für die Grundschule


Masterarbeit, 2010

108 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Historische Aspekte der Integration und Inklusion
2.1. Historische Aspekte der Integration und Inklusion aus politischer Sicht
2.2. Historische Aspekte der Integration und Inklusion aus gesellschaftlicher Sicht
2.3. Historische Aspekte der Integration und Inklusion aus pädagogischer Sicht
2.3.1. Regelschulpädagogik
2.3.2. Sonderschulpädagogik

3. Systematische Aspekte der Integration und Inklusion
3.1. Begriffsbestimmung Integration versus Separation
3.2. Begriffsbestimmung Inklusion versus Exklusion
3.3. Inteklusion als neuer Begriff
3.4. Inteklusionskonzept

4. Gesetzliche und gesellschaftliche Voraussetzung der Integration bzw. Inklusion
4.1. Gesetzliche Voraussetzungen
4.1.1. Grundgesetz (GG)
4.1.2. Sozialgesetz (SGB)
4.1.3. Behindertengleichstellungsgesetz (BGG)
4.1.4. Schulgesetz Berlin (SchulG)
4.1.5. Entwurf eines Integrationsgesetzes
4.2. Gesellschaftliche Voraussetzungen
4.2.1. Barrierefreiheit aus pädagogischer Sicht
4.2.2. Barrierefreiheit aus gesellschaftlicher Sicht
4.3. Schlussfolgerungen

5. Integration und Inklusion von Kindern und Jugendlichen aus gesellschaftlicher Perspektive
5.1. Integration von Kindern mit Migrationshintergrund
5.2. Integration von Kindern mit Behinderungen
5.3. Integration von Kindern aus sozialschwachen Familien
5.4. Integration von Mädchen und Jungen
5.5. Schlussfolgerungen

6. Orientierungsrahmen zur pädagogischen Gestaltung des Lehrprozesses am Beispiel der Hamburger Integrationsklassen
6.1. Entstehung der Integrationsklassen
6.2. Integrative Schulstruktur
6.3. Integrative Unterrichtsstruktur
6.4. Elternarbeit
6.5. Schlussfolgerungen

7. Fazit

8. Literaturverzeichnis

9. Internetverzeichnis

10. Visuelles Medienverzeichnis

Anlagen

1. Einleitung

Im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. erwachte nahezu gleichzeitig an den verschiedensten Stellen des griechischen Lebensraumes das philosophische Denken, was sich in zahlreichen höchst originellen Köpfen zu einer philosophischen Weltansicht verdichtete. Gleichzeitig traten in voller Jugendfrische die mannigfaltigsten Möglichkeiten einer natürlichen Weltanschauung (Mythos) der philosophischen Weltansicht (Logos) entgegen. Aber gerade die Vielzahl der Lehren und die zwischen ihnen bestehenden Widersprüche waren es, die den nächsten Schritt in der philosophischen Entwicklung fast zwangsläufig herbeiführten. Umso mehr Systeme es gab, umso mehr drängte sich die Notwendigkeit auf, zu prüfen, zu vergleichen und den Widersprüchen nachzugehen. Eben hier fanden die Sophisten, die später in der Geschichte als die ‚Aufklärer dieses Zeitalters‘ eingingen, ihr Betätigungsfeld. Wo vorher nur den Privilegierten das Recht auf höhere Bildung vorbestimmt wurde, sollte nun - nach den Verteidigungskriegen gegen die Perser - jedem einzelnen Bürger (hierin eingeschlossen waren Frauen und Männer, die den Bürgerstatus besaßen) die Bildung zugänglich gemacht werden. (Störig, 1999, S. 159 - 163) Sokrates - der berühmteste Vertreter seiner Zeit - suchte auf den Straßen Athens die Gespräche mit Schülern und Vorüberziehenden aus allen Volksschichten und trieb sie mit Fragen „ Was ist Tugend? “ und „ Wie gewinnen wir Wahrheit? “ (ebd., S. 164) so in die Enge, dass schließlich ihr Nichtwissen von den befragten Personen eingestanden wurde. Genau dies war das Ergebnis, was Sokrates erzielen wollte. Seiner Auffassung nach lag seine Aufgabe darin, die Ideen der Anderen zu einer Geburt dessen, was schon in den Schülern existiert, (Vergleich zur Hebammentätigkeit) zu verhelfen; seine Aufgabe lag nicht darin seine Weisheit anderen zu vermitteln. (ebd., S. 168) Das eigentlich Neue der Lehre Sokrates ist die Verknüpfung der Tugend mit dem Wissen , „… es ist unm ö glich das Rechte zu tun, sofern man es nicht kennt “ ebenso „ ist es unm ö glich das Rechte nicht zu tun, sofern man es kennt “ (ebd., S. 169). Somit unterzog er meines Erachtens jeden einzelnen befragten Menschen durch die Aufdeckung seines Nichtwissens möglicherweise erstmalig einer Selbstprüfung seines eigenen Verhaltens und seiner eigenen Intelligenz.

Circa 2200 Jahre später - in der Zeit der Aufklärung - befasste sich Rousseau mit der von der Akademie von Dijon aufgeworfenen Frage. „ Wie entstand die Ungleichheit unter den Menschen, und ist sie durch das nat ü rliche Recht begr ü ndet? “ ( ebd., S. 427).

Rousseau, der mit seiner „ Abhandlung ü ber Ursprung und Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen “ darauf antwortete, unterschied erstmalig in natürliche, physische Ungleichheit, worin die natürlichen Verschiedenheiten (Alter, Geschlecht, Gesundheit, seelische Anlagen) begründet wurden, von der moralischen oder politischen Ungleichheit, in der die Übereinkünfte oder auch die Duldung der gesellschaftlichen Zustände beinhaltet sind (ebd., S. 427). Seiner Meinung nach kann nur, wie auch in seiner Schrift beschrieben, ein „ Gesellschaftsvertrag “ (Contrat social) die Lösung für dieses Problem sein und den Weg zur Gleichheit ebnen. Der Gesellschaftsvertrag bildet für ihn die Grundlage einer rechtmäßigen Herrschaft, die „ nur auf Ü bereinkunft, auf freie Zustimmung also, gegr ü ndet werden “ (ebd., S. 429) kann. Folglich kann nur Herrscher über die Gemeinschaft das Volk sein. Dies ist nur möglich, wenn jeder einzelne Mensch seine Stimme bekunden kann und in der Lage ist, eine entgegen gesetzte Meinung und die daraus resultierende gemeinschaftliche Entscheidung zu akzeptieren. Grundsätzlich geht Rousseau davon aus, dass der Mensch von Natur aus gut ist, jedoch durch die Gesellschaft verdorben wird. Er legt seinen Schwerpunkt auf die richtige Erziehung. (ebd., S. 429) „ In kaum einer Periode unserer Geschichte hat die Philosophie so stark auf die ö ffentliche Meinung und die gesellschaftliche Entwicklung eingewirkt wie im Zeitalter der Aufkl ä rung “ (ebd., S. 437). Gerade der Kampf um die Durchsetzung der Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (Liberte-Egalite-Fraternite) brachte Ergebnisse hervor, wie die:

- Abschaffung der Folter,
- humane Behandlung von Geisteskranken,
- Beendigung der Sklaverei,
- Abschaffung der Zensur = Meinungsfreiheit als eine Voraussetzung für die Gewährleistung der Meinungsfreiheit.

Diese gravierenden Veränderungen legten den Grundstein für die allmähliche Durchsetzung und der bis heute noch gültigen Menschenrechte.

Ein weiterer Vertreter dieser Zeitepoche ist der Philosoph Immanuel Kant, der schon zu Lebzeiten wegen seiner Werke „ Die Kritik der reinen Vernunft “ , „ Die Kritik der praktischen Vernunft “ , „ Die Kritik der Urteilskraft “ Berühmtheit erlangte. Mein Augenmerk möchte ich jedoch auf sein Werk (1797) „ Die Metaphysik der Sitten “ und insbesondere auf die Tugendlehre lenken.

Der erste Teil dieser Tugendlehre befasst sich mit den Pflichten, die sich die Menschen selbst auferlegen. So ist es die Pflicht eines jeden Menschen, sich selbst zu erhalten. Selbstmord, Selbstverstümmelung und die Einnahme von Genussmitteln sind somit ein Verbrechen gegen sich selbst. „ Das erste Gebot aber aller Pflichten gegen sich selbst ist: Erkenne dich selbst! “ (Störig, 1999, S. 485) Diesem Imperativ kam man schon in der Antike, in der Zeit der Sophisten, nach, jedoch wurde dieser nicht als Pflicht deklariert. Somit ist meines Erachtens der Begriff der ‚Tugend‘ in der Antike nicht gleichzusetzen mit dem Begriff der ‚Tugend‘ wie ihn Kant verwendete. Kants Tugendbegriff beinhaltete den Begriff der Pflicht. „ Kants Ethik ist also eine Pflichtethik im Gegensatz zu einer Tugendethik, die die Sophisten vertreten “ (wikipedia. org. Immanuel Kant).

Im zweiten Teil der Tugendlehre werden die Pflichten gegen andere Menschen, die der Liebe und der Achtung, dargelegt. Die Pflicht der Liebe zu anderen Menschen schließt insbesondere die Dankbarkeit und die ‚Teilnehmung‘ (Anteilnahme am gesellschaftlichen und sozialem Leben) ein und den Neid sowie die Undankbarkeit und Schadenfreude aus. Die zweite Pflicht gegen andere - die Pflicht der Achtung - macht deutlich, dass jeder Mensch eine Würde besitzt, die es nicht zu verletzen gilt. Somit wird ausgeschlossen, dass ein Mensch frei über andere Menschen verfügen darf. (ebd., S. 484 ff.)

Jener kurze und knappe Exkurs durch die Philosophie sollte deutlich machen, dass, obwohl der Begriff nicht explizit erwähnt wird, der Gedanke der Integration immer ein Teil der philosophischen Lehren war. Bei genauer Betrachtung der Sophistik kann gesagt werden, dass die Sophisten dagegen ankämpften, dass ausschließlich die Reichen das Privileg der Bildung genießen durften. Man ging davon aus, dass jedem einzelnen Bürger und somit Männern und Frauen Verstand zugesprochen wurde.

Auch sollte jeder Frau und jedem Mann, welche Bürger waren, die Tugend und die Sittsamkeit gelehrt werden. Dieser Reformansatz macht die Größe dieser Entwicklung deutlich, indem Sokrates zum einen die Menschen lehrte, nicht alles Gegebene hinzunehmen, sondern selbst zu denken, Erfahrungen zu machen und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen und zum anderen Frauen mit in das Bildungssystem zu integrieren versuchte. Die Lehre des Humanismus und die Lehre von allgemeiner Bildung haben bis zur heutigen Zeit als Erbe der antiken Tradition für alle Menschen der Welt weiter Bestand.

Rousseaus Kerngedanke hat bis heute andauernden Einfluss auf die Pädagogik erlangt. Der heranwachsende Mensch muss ferngehalten werden von verbildenden Einflüssen. Alles kommt darauf an, die grundsätzlich in jedem Menschen liegende gute Naturanlage auf natürliche Weise reifen zu lassen. Die Aufgabe der Erziehung ist daher eine negative. Sie besteht im Fernhalten aller Einflüsse des Gesellschaftslebens, die diesen Prozess stören. Gerade diese Art von Erziehung hat meines Erachtens bis in die heutige Zeit durch die Beschulung von körper- und geistesbehinderten Kindern durch die Sonderschulen Bestand. Inwieweit diese Praxis positiv oder negativ im Sinne der Integration von körper- und geistesbehinderten Kindern ist, gilt es in dieser Arbeit zu klären. Immanuel Kant ist entgegen von Rousseau der Meinung, dass es nicht Aufgabe der Erziehung sei, den Menschen von schlechten Einflüssen fernzuhalten, sondern fordert den Menschen dazu auf, sich die guten Sitten - wie Achtung und Liebe gegenüber anderen Menschen - sich selbst als Pflicht aufzuerlegen, um somit zu einem Teil seiner Gesellschaft, also einer sittsamen Gesellschaft zu werden.

Gerade dieser Kerngedanke ist es, der mich zu meiner eigentlichen Frage überleiten lässt: Welche gesellschaftlichen Kontexte wirken auf Integration und Inklusion als geforderte pädagogische Notwendigkeit für die Grundschule? Was muss für eine Integration in der Gesellschaft für alle Menschen getan werden, damit ein Weg in die Inklusion möglich ist? Ziel dieser Ausarbeitung ist es, einen möglichen Weg aufzuzeigen. Hierzu werde ich zunächst die historischen Aspekte der Integration und Inklusion zum einen auf der pädagogischen Ebene (Sonderschulpädagogik, Regelschulpädagogik) und zum anderen auf der politischen und gesellschaftlichen Ebene darstellen. Ein weiteres Teilgebiet wird die systematischen Aspekte der Integration und Inklusion aufgreifen und in der Folge einen neuen Begriff „ Inteklusion “ definieren.

Darüber hinaus habe ich ein „ Inteklusionskonzept “ entwickelt, das meines Erachtens einen möglichen Weg über die Integration hin zur Inklusion aufzeigt.

Der 4. Teil dieser Ausarbeitung beleuchtet die gesetzlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Integration bzw. Inklusion und geht dabei gezielt auf die gesetzlichen Bestimmungen, die Bedingungen aus pädagogischer Sicht sowie auf die Umweltbedingungen ein. Der letzte theoretische Teil illuminiert gesondert die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund, mit Behinderung, aus sozialschwachen Familien sowie die Integration von Mädchen und Jungen. Die theoretischen Ausarbeitungen werden im 6. Teil durch ein praktisch relevantes Beispiel zur pädagogischen Gestaltung hinsichtlich der Integration und der Inklusion mit Blick auf die integrative Schulstruktur, die Elternarbeit und die integrative Unterrichtskultur gestützt. Am Ende der Ausarbeitung zeige ich mögliche Wege aber auch Hemmnisse in der Realisierung der Integrationsanforderungen für Deutschland auf.

2. Historische Aspekte der Integration und Inklusion

Im 17. Jahrhundert wurde durch die Mathematiker Jakob und Johann Bernoulli (1654 - 1705 bzw. 1667 - 1748) der Begriff „ Integral “ eingeführt (Duden, 2004, S. 181). Dieser Begriff leitete sich aus dem lateinischen Wort „ integratio “ (Wiederherstellen eines Ganzen) sowie vom lateinischen Verb „ integrare “ (wiederherstellen) ab. Erst im 18. Jahrhundert und verstärkend im 20. Jahrhundert fand das Verb „ integrieren “ sein Entree in den Sprachwortschatz. (Kobi, 2003, S. 71) Über die Philosophie des 19. Jahrhunderts erlangte der Integrationsbegriff seine gesellschaftliche Bedeutung „ vor allem durch die Soziologie, die Psychologie und die Bildungspolitik der Neuzeit “ (ebd., S. 71). Herbert Spencer (1820 - 1903), einer der einflussreichsten Philosophen des 19. Jahrhunderts, verwendete erstmalig den Begriff der Integration und ordnete diesen dem Begriff der Entwicklung (Gesetz der Entwicklung) unter (Störig, 1999, S. 550). „ Die organisch- biologische wie auch die soziale Welt unterliegen einem evolutiven Proze ß (sic!) differenzierender Integration und integrativer Differenzierung. “ (Kobi, 2003, S. 71) Somit ist der Kerngedanke aus Spencers Lehre, dass alle Vorstellungen, alle Auffassungen und alle Darstellungen einem umfassenden Entwicklungsgeschehen zugrunde liegen. (ebd., S. 71)

„ In der Soziologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts bezeichnete Integration den organisatorischen Zusammenschluss von verschiedenen Bereichen des kulturellen Lebens zu einem System innerer Verbundenheit der Wechselwirkung. Es geht um die Vergesellschaftung Einzelner, im weiteren dann aber auch von Gruppen und Teilsystemen zu ü bergeordneten gesellschaftlichen Gebilden “ (Kobi, 2003, S. 73) Gerade hier galten laut Kobi als Integrationskerne die gemeinsame Geschichte als auch eine gemeinsame Sprache sowie religiöse, ideologische und politische Wert- und Zielvorstellungen.

In der Psychologie wird im 20. Jahrhundert der Begriff der Integration ganz unterschiedlich angewendet. Im Bereich der Neuropsychologie und - physiologie bezeichnet dieser Begriff die Behandlung von kognitiven und emotional-motivationalen Störungen, welche durch die Kombination von psychotherapeutischen, neuropsychologischen und neuropsychiatrischen Methoden behandelt werden. (content.karger.com) Im Bereich der Entwicklungspsychologie, bildet die Integration „ eine dialektische Einheit mit Differenzierungsprozessen “ (Kobi, 2003, S. 73), bei denen Gegensätze erkannt und analysiert werden und im weiteren Verlauf eine Auffindung und Aufhebung jener Gegensätze durch eine Synthese herbeigeführt werden. Die Entwicklungspsychologie ist stark von der Säuglings- und Kleinkindsforschung geprägt. Bedeutsame Vertreter dieses Teilgebietes sind Jean Piaget (Stufenmodell) und Lev Vygotsky (sozialer Kontextualismus). „ Integration bezeichnet …“ in der Entwicklungspsychologie „… ein Merkmal (ontologischer) Entwicklungsprozesse, wodurch sich vereinzelte F ä higkeiten zu einer organischen/organisierten und mithin effizienten Ganzheit zusammenschlie ßen. “ (Kobi, 2003, S. 73)

Auch der Inklusionsbegriff fand ursprünglich seinen Kerngedanken in dem Ergebnis der französischen Revolution (Abschnitt 1, Seite 2). In dieser Zeit vollzog die Philosophie den entscheidenden Schritt zur Menschenrechtslehre und befreite - um es mit den Worten Immanuel Kants zu formulieren - den Menschen aus der „ selbstverschuldeten Unm ü ndigkeit “ (Herrmann, 2008; vgl. auch Kißling, 1989, S. 234)

Besonders möchte ich jedoch den Focus auf den Begriff der Gleichheit, insbesondere auf die humane Behandlung von Geisteskranken und auf das allgemeine Recht der „ Bildung f ü r Alle “ mit Blick auf den Inklusionsbegriff legen. Der nationalsozialistische Terror und insbesondere der Zweite Weltkrieg waren der Anlass dafür, den Grundstein für den internationalen Menschenrechtsschutz zu legen. Schon 1945 enthielt die Charta der UNO den „ Auftrag an die Staatengemeinschaft, die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und Grundrechte füralle zu fördern „ (www.humanrights.ch).

Ein wichtiger Meilenstein für die Durchsetzung der Menschenrechte stellte die am 10. Dezember 1948 bekannt gegebene „ Allgemeine Erkl ä rung der Menschenrechte “ (AEDM) dar. Der Artikel 1 der AEDM wird der Forderung nach Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit gerecht und lautet:

„ Alle Menschen sind frei und gleich an W ü rde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Br ü derlichkeit begegnen. “

(Zitat aus: Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948, www.bpb.de)

Weitere deklarierte Rechte in der AEDM sind das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person, das Recht auf eine Staatsangehörigkeit und das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.

Jedoch der mit Blick auf die Inklusionpädagogik wichtigste Artikel der AEDM ist Artikel 26, der das Recht auf Bildung beinhaltet.

„ Artikel 26

1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht m ü ssen allgemein verf ü gbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht mu ß (sic!) allen gleicherma ß en entsprechend ihren F ä higkeiten offenstehen.

2. Die Bildung mu ß (sic!) auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die St ä rkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie mu ß (sic!) zu Verst ä ndnis, Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religi ö sen Gruppen beitragen und der T ä tigkeit der Vereinten Nationen f ü r die Wahrung des Friedens f ö rderlich sein.

3. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu w ä hlen, die ihren Kindern zuteil werden soll. „

(Zitat aus: Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948, www.bpb.de)

Dieser Grundsatz „ Bildung f ü r Alle “ wird 1991 auf der in Thailand stattfindenden Internationalen Konferenz der UNESCO aufgegriffen. Dabei wird erstmalig anstelle von Integration, bei der eine “ Eingliederung von bisher ausgesonderten Personen “ (Krög, 2005) die Rede war, das Wort „ Inklusion “ verwendet, bei der eine Aussonderung nicht mehr existiere, da alle Menschen, insbesondere alle Schüler ein Teil der Gemeinschaft sind und fähig sind, diese mitzubestimmen und mitzugestalten. Drei Jahre später (1994) in Salamanca (siehe Anlage 1) erklärte die UNESCO „ die Inklusion als wichtigstes Ziel der internationalen Bildungspolitik “ (www. wikipedia.org/Inklusive). Darin bekräftigten 92 Regierungen und 25 internationale Organisationen ihre „ Verpflichtung zur Bildung f ü r alle “ (UNESCO, 1994); erklärten, „ dass jedes Kind ein grunds ä tzliches Recht auf Bildung hat “ (ebd.); forderten alle Regierungen auf, die Schulsysteme dahingehen zu verbessern und forderten die internationale Gemeinschaft (UNICEF, UNESCO, UNDP u.v.m.) dazu auf, als Sponsoren für die Sicherstellung der inklusiven Entwicklung einer Pädagogik einzutreten. (UNESCO, 1994) Welche Auswirkungen diese Forderung auf die Gesetzgebung, auf die Gesellschaft und auf die Pädagogik in Deutschland hatte, gilt es im weiteren Verlauf dieser Ausarbeitung zu klären. Doch vorerst werden zum besseren Verständnis die historischen Ereignisse auf politischer, gesellschaftlicher und pädagogischer Ebene in den folgenden Abschnitten dargestellt.

2.1. Historische Aspekte der Integration und Inklusion aus politischer Sicht

Die Resolution 217 A (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die 1948 eine „ Allgemeine Erkl ä rung der Menschenrechte “ bekannt gab, forderte durch den Artikel 1 dazu auf, die Würde eines Menschen zu achten (vgl. Abschnitt 2). Dieser Grundsatz findet sich im Artikel 1 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG), das am 23. Mai 1949 verabschiedet wurde, wieder. „ Die W ü rde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu sch ü tzen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. “

(Art. 1, Abs. 1 GG) Des Weiteren wurden das Recht auf Leben (Art. 2), das Recht auf Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4) und das Recht auf Meinungsfreiheit usw. (Art. 5) aus der AEMR übernommen. Das Recht auf „ Bildung f ü r Alle “, das in der AEMR von 1948 im Artikel 26 formuliert wurde, wurde weder übernommen noch indirekt in den Artikeln aufgegriffen. „ Das gesamte Schulwesen …“

- so steht es im Artikel 7 Absatz 1 des Grundgesetzes - „… steht unter der Aufsicht des Staates. “ Dieser Artikel sagt aus, dass es ein Schulwesen geben muss, welches unter Aufsicht steht, jedoch die Schulverwaltung und die Schulgesetzgebung den Ländern zukommt. Ein solches Recht in das Grundgesetz mit aufzunehmen, würde folglich bedeuten, dass der Staat dafür sorgen muss, jedem Kind unentgeltlich den Zugang zur Bildung zu ermöglichen. Indirekt sind meines Erachtens in diesem Recht die Idee der Chancengleichheit und zugleich ein Verbot der Ausgrenzung bestimmter Menschengruppen enthalten. Wenngleich das Recht auf Bildung in dem GG nicht zu finden ist; die Schulpflicht ist meines Erachtens indirekt im Artikel 7, Absatz 2 aufgenommen worden. Da heißt es: „ Die Erziehungsberechtigten haben das Recht, ü ber die Teilnahme des Kindes am Religionsunterricht zu bestimmen. “ Folglich haben die Erziehungsberechtigten nicht das Recht, über die Teilnahme an anderen Unterrichtsfächern zu bestimmen, sondern haben die Pflicht, die Teilnahme ihrer Kinder zu gewährleisten. Durch die Aufsichtspflicht des Staates über das Schulwesen obliegt es jedem Bundesland, ein Schulgesetz zu formulieren.

In dem Schulgesetz Berlin, auf das ich mich ausschließlich in meiner Ausarbeitung beziehen werde, ist deutlich zu erkennen, dass angestrebt wird, der Forderung der UNESCO (1994) hinsichtlich der Verpflichtung zu „ Bildung f ü r Alle “ sowie die Verbesserung der Schulsysteme nachzukommen. Auch ist in diesem Gesetz zum einen im § 2 das Recht auf Bildung und Erziehung und zum anderen im § 41 die Schulpflicht verankert. Im § 2 Absatz 1 des Schulgesetzes findet sich der Wortlaut der AEMR von 1948 (Artikel 26) wieder:

„ Jeder junge Mensch hat ein Recht auf zukunftsf ä hige schulische Bildung und Erziehung ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Sprache, seiner Herkunft, einer Behinderung, seiner religi ö sen oder politischen Anschauungen, seiner sexuellen Identit ä t und der wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Stellung seiner Erziehungsberechtigten. “ (SchulG, 2004, S. 8)

Dieses niedergeschriebene Recht zeigt deutlich auf, dass das Land Berlin verpflichtet ist, unentgeltlich den Zugang zur Bildung zu ermöglichen (§ 50 Absatz 1 SchulG „ Der Besuch der ö ffentlichen Schulen des Landes Berlin ist unentgeltlich. “), jedoch bei der Beschaffung der Arbeitsmittel (Bücher, Arbeitshefte usw.) ein Eigenanteil (höchstens 100,-- Euro) eingefordert werden darf (§ 50 Abs. 4 SchulG). Gleichzeitig enthält meines Erachtens dieser Paragraph indirekt die Information, dass die Erziehungsberechtigen, insbesondere Erziehungsberechtigte behinderter Kinder, die Schulart der Beschulung ihrer Kinder frei wählen können.

Zwei weitere für die historisch-politische Betrachtung von Integration und Inklusion bedeutsame Gesetze, sind das Sozialgesetzbuch und das Behindertengleichstellungsgesetz. Im Artikel 20 Abs. 1 GG steht: „ Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Staat “ . Laut Allmendinger und Ludwig-Mayerhofer, die auf Streit und Ritter Bezug nehmen, ist der Sozialstaat „ das Ergebnis der politisch- ö konomischen Entwicklung, die in Deutschland mit der Industriellen Revolution und der in ihrem Verlauf aufgetretenen „ Sozialen Frage “ begonnen hat und auf welche die Bismarcksche Sozialgesetzgebung in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts die politische Antwort gewesen ist. “ (Allmendiger/Ludwig- Mayerhofer, 2000, S. 15)

„ Die Weimarer Verfassung vom 11. Aug. 1919 leitete mit ihren gesellschafts- und sozialpolitischen Leits ä tzen eine Ä ra sozialstaatlicher und demokratischer Sozialpolitik ein. “ (Lampert, Althammer, 2007, Seite 94) Sozialpolitik - so Lampert und Althammers Auffassung - dienen der „ Sicherung des sozialen Friedens in der Gesellschaft und zur Verwirklichung menschlicher Grundrechte “ (ebd., S. 154). Um dieser Forderung hinsichtlich der Gleichstellung der Behinderten nachzukommen, wurde 1994, nach der in Salamanca stattfindenden Konferenz der UNESCO, dem Artikel 3 Abs. 3 GG der Satz hinzugefügt: „ Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. “ Eine Projektgruppe war seit dieser Zeit damit beschäftigt, einen Gesetzesentwurf für ein Behindertengleichstellungsgesetzt (BGG) zu erarbeiten. (vgl. Hartung, 2004, Abschn. 4.7, S. 2) Dieses Gesetz wurde am 27. April 2002 verabschiedet und trat am 1. Mai 2002 in Kraft. (Bundesministerium der Justiz, 2002, S.

1) Hier wurde erstmalig der Begriff „ Behinderung “ im § 3 definiert:

„ Menschen sind behindert, wenn ihre k ö rperliche Funktion, geistige F ä higkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit l ä nger als sechs Monate von dem f ü r das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeintr ä chtigt ist. “

Ich schließe mich der Aussage Hartungs an; „ Mit diesem Gesetz hat die Bundesregierung …“ einen Grundstein dafür gelegt, „ die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu f ö rdern …“ und ist der Forderung nachgekommen, welche im Grundgesetz verankert wurde, dem „… Benachteiligungsverbot f ü r behinderte Menschen mehr Geltung zu verschaffen “ (Hartung, 2004, Abschn. 4.7, S. 2).

Ein weiterer wichtiger Schritt für die Beseitigung der Diskriminierung von Behinderten stellt das Neunte Buch des Sozialgesetzbuches (SGB IX) - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - dar. In ihm wurde der Begriff der Behinderung durch zwei Aspekte ergänzt. Zum einen wird hier der Begriff der Schwerbehinderung aufgegriffen und definiert, zum anderen eine Gleichstellung der Behinderten festgelegt, die einen Behinderungsgrad von weniger als 50 Prozent bescheinigt bekommen haben.

SGB IX § 2 Behinderung

(1) Menschen sind behindert, wenn ihre k ö rperliche Funktion, geistige F ä higkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit l ä nger als sechs Monate von dem f ü r das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeintr ä chtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeintr ä chtigung zu erwarten ist.
(2) Menschen sind im Sinne des Teils 2 schwerbehinder (sic!)t, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gew ö hnlichen Aufenthalt oder ihre Besch ä ftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtm äß ig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.
(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die ü brigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 73 nicht erlangen oder nicht behalten k ö nnen (gleichgestellte behinderte Menschen).

Quelle: http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbxii/72.html

SGB VIII § 1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe

In den neuen Bundesländern trat mit dem Tag der Einheit, dem 3. Oktober 1990 (in den alten Bundesländern am 1. Januar 1991), das Achte Buch des Sozialgesetzbuches - Kinder- und Jugendhilfe in Kraft. Im § 1 Abs. 1 - Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe - heißt es:

(1) Jeder junge Mensch hat ein Recht auf F ö rderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsf ä higen Persönlichkeit. Quelle: http://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbxii/72.html

Alleine das Recht auf „ F ö rderung seiner Entwicklung und auf seine Erziehung “ lässt für mich auch hier deutlich den praktischen Ansatz hin zu einer Integrationspädagogik erkennen, da hier weder der Ort noch die Rahmenbedingungen explizit definiert werden.

Zusammenfassend kann ich feststellen, dass die bisherige Gesetzeslage hinsichtlich der Forderung nach Inklusion zwar als theoretisches Fundament durchaus brauchbar, jedoch von einer praktischen Umsetzung noch weit entfernt ist. Einzig im Paragraphen 1 des Achten Buches des Sozialgesetzes kann indirekt der Gedanke der praktischen Umsetzung hin zur Integration (nicht zur Inklusion) herausgelesen werden.

2.2. Historische Aspekte der Integration und Inklusion aus gesellschaftlicher Sicht

Der historische Ausgangspunkt der Elternbewegungen im Sinne der Chancengleichheit bezüglich der Bildung lässt sich meines Erachtens um 1970, der Zeit der Bildungsreformphase festmachen. Bevor jedoch diese Ereignisse von mir dargestellt werden, möchte ich einen weiten Schritt zurück in die Geschichte machen. Ich werde dazu - da es mir für meine Ausarbeitung als wichtig erscheint - einen geschichtlichen Exkurs hin zur Beschulung beider Geschlechter, also hin zur Geschichte der Koedukation machen.

Die Beschulung beider Geschlechter war nicht immer selbstverständlich. Besonders benachteiligt waren hierbei die Frauen. Es hat zwar immer Ausnahmen gegeben, jedoch wurden die Frauen zumeist von der schulischen Bildung ausgeschlossen. Das Privileg auf Bildung in der Gesellschaft genossen in erster Linie die Männer. Comenius war der erste bedeutende Vertreter, der eine Beschulung der Mädchen in seinem Werk "Didactica magna", welche "zwischen 1627 und 1638 verfasst und im Jahre 1657 erstmals ver ö ffentlicht wurde", (wikipedia.org/Didactica_magna) forderte. Er war der Meinung, dass alle Kinder, die für Gott und die Kirche ‚erzogen und auferzogen‘ ("quod Deo et ecclasiae enutrimus") wurden, genau das gleiche Recht auf Bildung hätten. (vgl. Hans Ahrbeck, 1961,S. 253 - 258) Seiner Forderung und somit seinem Werk wurde zu diesem Zeitpunkt nicht entsprochen. Jedoch "gelten die Inhalte der Magna didactica bis heute als wichtige Grundlage des Realienunterrichts, der muttersprachlichen Bildung, der allgemeinen Schulpflicht und der Unterrichtsmethodik." (wikipedia.org/Didactica_magna)

Erst im 18. Jahrhundert fing man an, die Frauen zu unterrichten und sie an Bildung teilhaben zu lassen. Diese Bildung war jedoch auf die Hausfrauen- und Mutterrolle beschränkt und hatte nichts mit dem Begriff der Integration gemein. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts gründete man in Deutschland die ersten Mädchenschulen. Man dachte bis dahin überhaupt nicht daran, Mädchen und Jungen in einer Schule, im selben Klassenraum und nach gleichem Lehrplan zu unterrichten. Doch während des 19. Jahrhunderts war die Bildung der Töchter, die eher der höheren Gesellschaftsschicht angehörten, erwünscht. Dessen ungeachtet stieß die flächendeckende gemeinsame Beschulung der Jungen und Mädchen auf Widerstand. (vgl. Pfisterer, 2000, S. 1) So fand "bis in die 1960er Jahre hinein der Unterricht in der Bundesrepublik Deutschland in Anlehnung an die Praxis der Weimarer Republik ü berwiegend an reinen Jungen- und M ä dchenschulen statt, also monoedukativ." (Jantz/Brandes, 2006, S. 32) Doch gegen Ende der 1960er Jahre setzte sich in der BRD (in der DDR nach 1945) die gemeinsame (koedukative) Beschulung und Erziehung in Folge eine Bildungsreform durch. (vgl. Bertelsmann, 1992, Band 8, S. 198) Faulstich-Wieland schreibt dazu: „ Im Zuge der Bildungsreformdebatten Ende der 1960er Jahre konnte sich eine ideologisch orientierte „ M ä dchenbildung “ nicht mehr behaupten “ (Faulstich-Wieland, 2004, S. 647). Die gemeinsame Beschulung, bei der „ in den f ü nfziger Jahren nur ein Drittel der Sch ü lerschaft “ (Schild, 2003. S. 7) Mädchen waren, hatte zur Folge, dass schon 1970 ca. 33 % und 1999 ca. 54% der Abiturienten weiblich waren. (Pätsch, 2000, S. 10) Die Freude über diese Errungenschaft war schon bald in den 1980er Jahren mit viel Kritik überschattet. Vielerorts wurde behauptet, dass die Mädchen hinsichtlich der naturwissenschaftlichen Fächer durch die koedukative Beschulung ins Hintertreffen geraten und darunter leiden würden. (vgl. Jantz & Brandes, 2006, S. 32) "Die Gegner der Koedukation hatten Angst, dass durch die gemeinsame Erziehung die w ü nschenswerten Unterschiede zwischen den Geschlechtern verschwinden w ü rden, dass die Sexualit ä t zu fr ü h in das Leben der Jugendlichen treten w ü rde, vor Problemen mit der Disziplin sowie einer schulorganisatorischen Starre." (www.wissen.spiegel.de) Folglich war für die Kritiker demnach fragwürdig, inwieweit man der Chancengleichheit mit der Koedukation gerecht wird. Befürworter hingegen, die alle Aspekte der Kritiker gleichermaßen sahen, haben Argumente, wie das Üben im Umgang miteinander, das Lernen des Verhaltens sowie das Knüpfen von sozialen Kontakten mit dem anderen Geschlecht, dem entgegen gestellt.

Für sie stand immer im Vordergrund, dass Jungen sowie auch Mädchen das Recht auf gleiche Bildung haben und erfahren sollen. (vgl. ebd.) Diese Diskussion brachte Überlegungen hervor, ob es nicht besser sei, wieder zur Monoedukation zurückzukehren. (vgl. Jantz & Brandes, 2006, S. 33) Der Begriff der Monoedukation, auch Seedukation genannt, beinhaltet das Gegenteil von der Koedukation. Dieser Begriff bezeichnet meiner Kenntnis nach die getrennte Unterrichtung von Mädchen und Jungen. Kritiker der Monoedukation sind der Meinung, dass hier weder das soziale Verhalten noch das Üben im Umgang mit dem anderen Geschlecht gefördert wird. Die Befürworter hingegen glauben, dass die Monoedukation den Mädchen bessere Chancen, insbesondere im Naturkundeunterricht, bietet und gleichzeitig ihnen die Chance gibt, sich frei entfalten zu können. Die Leistung der Mädchen - so die Befürworter - würden sich dadurch deutlich verbessern. (www.wikipedia.org/Monoedukation) Theoretisch beanspruchen beide in ihrer Zielstellung in der heutigen Zeit - ob Ko- oder Monoedukation - eine für das einzelne Geschlecht optimale Bildung und somit die Chancengleichheit hinsichtlich der Beschulung beider Geschlechter. Inwieweit diese Konzepte spezifisch für das Geschlecht fördernd oder hemmend hinsichtlich der schulischen Leistungen sind, wird nicht meiner Betrachtung unterzogen. Praktisch haben beide Edukationen gezeigt, dass keine in ihrer Durchführung frei von Kritikpunkten ist.

Zusammenfassung: Die Monoedukation war zunächst auf die Bildung des männlichen Geschlechtes und später auch geschlechtsspezifisch auf die Mädchen beschränkt und hatte eine getrennte Unterrichtung in den Schulen zur Folge. Mit der Koedukation sollte diese Art der Beschulung aufgehoben, eine Chancengleichheit für beide Geschlechter hervorgebracht werden und von stereotypischen Rollenbildern innerhalb einer Gesellschaft wegführen. Laut Maria Anna Kreienbaum wurde die Koedukation meist in der Praxis im organisatorischen Sinne umgesetzt. Jedoch war damit selten ein pädagogisches oder didaktisches Konzept verbunden. (vgl. Kreienbaum, 2003) Sie vertrat hier die Auffassung, dass sich ohne ein solches Konzept bei "formaler Gleichheit Ungleichheiten" einstellen, "die h ä ufig zur Verstetigung der Geschlechterhierarchie f ü hren". (ebd.) Um dem entgegenzuwirken, so Zimmermann, sollte von vornherein die Koedukation so gestaltet sein, "dass Jungen und M ä dchen nicht auf 'Typisches' festgelegt" (Zimmermann, 2006, S. 152) werden.

Dies besagt folglich, dass man nicht die Koedukation ‚über den Haufen‘ werfen sollte, sondern in ihr die Reflektion mit eingebunden werden muss. (vgl. ebd.) Kreienbaum schreibt dazu: "Um die gemeinsame Erziehung fruchtbar werden zu lassen, muss man reflektieren, was man tut und im Sinne des Ziels eines gelingenden Miteinanders der Geschlechter n ö tigenfalls geeignete Ma ß nahmen ergreifen." (Kreienbaum, 2003) Eine Auswahl von Unterrichtsthemen die "die historische Entwicklung des Geschlechterverh ä ltnisses sichtbar machen" (Zimmermann, 2006, S. 152) und die Beachtung von den individuellen Lernvoraussetzungen jedes einzelnen Kindes können Maßnahmen sein, die das Reflektieren innerhalb der Koedukation möglich machen. Die reflektierende Koedukation, die nicht nur die vorangegangenen Merkmale in sich birgt, geht noch einen Schritt weiter. Unter diesem Konzept ist es nicht ausgeschlossen zeitweilig die Mädchen und Jungen in der Schule getrennt zu unterrichten, also nur Unterrichtsfächer, wie Chemie oder Physik wieder nach Geschlechtern zu trennen. (siehe auch Hannover/Kessels, 2002, S. 201 - 213) Diese Trennung wird sowohl von Hannelore Faulstich-Wieland und Marianne Horstkemper als auch von Peter Zimmermann als "sinnvoll eingesch ä tzt, n ä mlich dann, wenn sie mehr ist als die blo ß e Sortierung". (Zimmermann, 2006, S. 152)

Nicht nur die Beschulung beider Geschlechter im Sinne von Koedukation darf mit Blick auf die Integrationspädagogik eine Rolle spielen; man sollte ebenso dem Ruf der Regelschulpädagogen nachgehen, welche 1970 in Deutschland integrierte Gesamtschulen forderten. Vor 1970 spielte laut Schildmann der Integrationsbegriff noch keine nennenswerte Rolle und war um 1960 nur in Bezug auf die Gastarbeiter- Kinder gebräuchlich. Dessen ungeachtet sollte die Forderung nach integrierten Gesamtschulen eine Chancengleichheit für alle Kinder schaffen. Dies zielte zunächst auf Arbeiterkinder und zugleich auch auf schulversagende Kinder ab. (vgl. Schildmann, 1996, S. 18) Inwieweit Gastarbeiter-Kinder in dem Begriff der Arbeiterkinder mit eingeschlossen waren, kann an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden. Eines ist jedoch sicher, Kinder mit Behinderung wurden ausgeklammert. Doch der Integrationsgedanke brachte Eltern, besonders Eltern mit behinderten Kindern dazu, eine „ Integration von Anfang an! “ (ebd., S. 20) zu fordern. Jedoch war nicht deren Bestrebung eine Integration nur von behinderten Kindern zu fordern, sondern wenn Integration, dann Integration aller Kinder. „ Die Keimzelle entwickelte sich Anfang der siebziger Jahre. “ (Rosenberger, 2003, S. 411)

Rosenberger beschreibt, wie eine „ kleine Gruppe junger Eltern die Idee “ (ebd. S. 411) verwirklichte, behinderte Kinder in eine anfangs private, später finanziell durch den Staat unterstützte, Einrichtung (Kinderladen) mit nicht aussondernder Erziehung unterzubringen. Auch die Suche nach den Räumlichkeiten gestaltete sich anfangs sehr schwierig, war aber ab 1972 erfolgreich. Das erste Kinderhaus entstand 1972 in Berlin- Friedenau. Auch hat diese Elternschaft es sechs Jahre später geschafft, für diese Kinder eine „ Integrationsklasse “ in der Fläming-Grundschule durchzusetzen. Was in Berlin erst Mitte der 70er Jahre erreicht wurde, war in München (initiiert durch die „Aktion Sonnenschein e.V.“) schon seit 1971 zur Realität geworden. Doch genau diese Elternschaft aus Berlin war es, die 1984 zum ersten Treffen nach Bremen und 1985 zum zweiten Treffen nach Bonn einlud. Das zweite Treffen wurde vor allem von den Eltern, aber auch von vielen Erziehern, Lehrern und Wissenschaftlern besucht. (Rosenberg, 2003, S. 412) „ Im Mittelpunkt dieses Treffens standen die Themen „ Integration - auch in der Schule! “ und „ Gr ü ndung einer Bundesarbeitsgemeinschaft “ (ebd., S. 412). Deutlich sollte auf diesem Treffen aufgezeigt werden, dass ein behindertes Kind ebenso Kind ist, wie alle anderen. „… es ist ein menschliches Wesen, das wie alle Kinder eine Anspruch darauf hat, als vollwertiges Mitglied unserer famili ä ren, schulischen, d ö rflichen oder st ä dtischen Gemeinschaft respektiert und gef ö rdert zu werden. “ (ebd., S. 412) Dieses Treffen war das Initial für die Gründung von Landesarbeitsgemeinschaften in allen Bundesländern, die heute „ aufgrund von Mitgliedsbeitr ä gen und Spenden ü ber finanzielle Eigenmittel verf ü gen “ (vgl. ebd., S. 413). Man darf aber meines Erachtens nicht außer Acht lassen, dass dieses Treffen und die daraus resultierenden Maßnahmen durch die Änderung des Art. 3 Abs. 3 GG „ Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. “ maßgeblich gestützt wurden und erst dadurch die Umsetzung der Ergebnisse rechtlich möglich wurde.

2.3. Historische Aspekte der Integration und Inklusion aus pädagogischer Sicht

Vor 1970 war in Deutschland das Schulsystem noch strikt getrennt in Regel- und Sonderschule. Der Begriff der Integration spielte nur in Bezug auf die Gastarbeiter- Kinder eine nennenswerte Rolle (siehe Abschnitt 2.2.). Die Integration war hier gleichbedeutend mit der Assimilation. Wollte man den Status der Leistungsschule weiter verstärken, dann war folglich die Trennung zwischen Regel- und Sonderschule eher „ eine Befreiung von der Belastung der behinderten Kinder “ (Schildmann, 1996, S. 17). Durch diese Ausdifferenzierung wurde möglicherweise die Notwendigkeit der Sonderschulen bestätigt. Der Wandel dieser Selektivität erfolgte in den 70er Jahren und wird heute durch die in dieser Zeit erfolgte Bildungsreform als historischer Ausgangspunkt der Integrationspädagogik angesehen. In der Integrationspädagogik treffen die Regel- und Sonderschulpädagogik mit dem Ziel „ Gemeinsam statt Separation zu praktizieren “ zusammen. (vgl. Schildmann, 1996, S. 11) Ob dieser Gedanke auch schon in der Zeit der Aufklärung ein erklärtes Ziel war, gilt es im weiteren Verlauf zu klären. Hierzu werde ich in den zwei folgenden Abschnitten die Historie der Regelschule und die Historie der Sonderschule darstellen.

2.3.1. Regelschulpädagogik

Die Form der Regelschule, wie man sie heute kennt, war nicht immer als selbstverständlich in ein Schulsystem eingebettet. Die Unterrichtung hingegen war schon in der Antike ein fester Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Allein der Begriff des Unterrichtens - der zunächst noch ohne eine pädagogische Zielsetzung erfolgen kann - setzt nur voraus, dass „ von Seiten des Unterrichtenden der Versuch unternommen wird, eine Erweiterung des gegebenen Wissens-, Kenntnis- und F ä higkeitsstandes auf seiten (sic!) bzw. des Unterrichteten hervorzurufen “ (Terhart, 2004, S 133). Schlussfolgernd ist jede Belehrung oder jeder gut gemeinte Rat einer anderen Person eine Unterrichtung für den Adressaten.

Doch „ die Bezeichnung <Unterricht> wird vielmehr f ü r solche Situationen reserviert, in denen (1) mit p ä dagogischer Absicht und in (2) planm äß iger Weise sowie (3) innerhalb eines bestimmten institutionellen Rahmens und (4) in Form von Berufst ä tigkeit eine Erweiterung des Wissens- und F ä higkeitsstandes einer Personengruppe angestrebt wird “ (ebd., S. 134)

Bereits aus der Antike ist bekannt, dass einer organisierten Unterrichtstätigkeit nachgegangen wurde (siehe Abschnitt 1.). Allerdings unterlag sie dem privaten Gewerbe (so auch bei den Sophisten) und nicht der staatlichen Aufsicht (siehe auch Abschnitt 2.1). Eine Unterrichtung erfolgt nur gegen Bezahlung. Auf die Individualität des Kindes wurde nicht eingegangen. Die Kinder und Schüler wurden insbesondere auf die Erwachsenenwelt vorbereitet, um in ihr Wirken und existieren zu können. Das Ende der Antike und die Ausbreitung der Christen veranlassten dazu, dass die Institution Kirche zum Ort des Unterrichtens wurde. Erst im Hochmittelalter begründeten sich in den Städten die Schreib- und Leseschulen, welche in Konkurrenz mit den kirchlichen Schulen standen, „ weil sie sich in ihren Inhalten vom klassischen Kanon l ö sten und auch beruflich n ü tzliche Kenntnisse vermittelten “ (ebd. S. 139). Was - bedingt durch diese Schule - in den Städten bezüglich der Lesefähigkeit erreicht wurde, konnte in den ländlichen Gegenden aufgrund mangelnder Unterrichtsorganisation nicht gewährleistet werden. Ausgangspunkt für „ die Entstehung eines Schul- und Unterrichtswesens f ü r alle und in staatlicher Regie “ (ebd., S. 139) waren die Zeit der Aufklärung und die Zeit des Absolutismus. Die stark anwachsende Bevölkerung, der schnelle gesellschaftliche Wandel und die Nützlichkeit der Qualifizierung eines jeden Menschen sind Ursachen für den daraus resultierenden Zwangsunterricht. In Deutschland vollzog sich der Wandel hin zu den Volkschulen in der Zeit von 1750 bis 1850. Bedingt (in dieser Zeit) durch die Forderung nach Chancengleichheit bedeutete dies „ auf der Ebene des Unterrichts organisatorische und psychologische Umstellungen “ (ebd., S. 140). Organisatorisch musste man weg von der Einzelunterrichtung, hin zum Klassenunterricht; psychologisch musste man von der mechanischen Lehrweise, hin zum verständigen Lehren, welches auf einem kindgerechten Lehren und Lernen basierte.

Durch diese nach und nach organisierte Form des Unterricht verbunden mit der Pflicht daran teilnehmen zu müssen, wurden zum einen dem Analphabetismus entgegengewirkt und zum anderen die Grundlage für das Recht auf „ Bildung f ü r Alle! “ geschaffen ( „ Verdr ä ngung von Berechtigung qua Geburt durch Berechtigung qua Bildung (spatent) “ (ebd., S. 142f)). (vgl. Terhart, 2004, S. 135- 142) Die negative Seite der Medaille ist jedoch, dass durch die schlechten materiellen und personellen Verhältnisse und durch die hohe Schülerzahl (70 - 200 Schüler) innerhalb einer Klasse eine individuelle Förderung eines jeden Einzelnen nicht möglich war. Diese Situation erzwang die Notwendigkeit, sich von der Erziehung der Behinderten weg zu wenden und sich den Schüler mit Lernschwierigkeiten zu entledigen (Separation). Folglich war die Gründung von Hilfsschulen als Notwendigkeit betrachtet worden. (vgl. Eberwein, 2008, S. 17 - siehe auch Abschnitt 2.3.2.) Dieses zweigliedrige Schulsystem (Volksschule und Hilfsschule) wurde bis zur Bildungsreform 1970 beibehalten. Erst durch die Lehren, die man aus der nationalsozialistische Zeit gezogen hatten, sowie der Charta der UNO von 1945 und der proklamierten „ Allgemeinen Erkl ä rung der Menschenrechte “ (AEDM) von 1948 fing man in Deutschland an über weitere Schulformen, wie Gesamtschule und Integrationsschule nachzudenken. Von Seiten der Regelschulpädagogik entstand ab 1970 die Forderung nach integrierten Gesamtschulen. Eine Chancengleichheit für alle Kinder sollte geschaffen werden. (siehe Abschnitt 2.2.) Der Zuwachs der Sonderschulen wurde aufgrund der Aussonderung schon zu dieser Zeit von den Regelschulpädagogen kritisiert. Dabei fiel der Focus nicht auf die Schüler mit Behinderung, sondern auf jene Schüler, bei denen abweichende Lern- und Sozialverhaltensweisen festgestellt wurden. Man war der Meinung, dass die Fehlverhaltensweisen der Schüler, die in der Regelschule festgestellt werden, auch in einer Regelschule beseitigt werden sollten. (vgl. Schildmann, 1996, S. 19). Schildmann sieht genau diese Kritik als Ausdruck der Reformbestrebung des Bildungssystems an.

2.3.2. Sonderschulpädagogik

Der Ruf nach „ Freiheit, Gleichheit und Br ü derlichkeit “ gegen Ende des 18. Jahrhunderts und die daraus resultierende Forderung einer humanen Behandlung von Geisteskranken (vgl. Abschnitt 2.) legten den Grundstein für eine „ besondere Erziehung f ü r Menschen mit Beeintr ä chtigungen “ (Eberwein, 2008, S. 15). Wo vorher die Erziehung sich hauptsächlich mit dem Religiösen und dem Humanitären begründen ließ; waren sie es aber, „ die dazu f ü hrten, sich der Erziehung und Bildung dieser Menschen anzunehmen “ (ebd.). Man war in der Zeit der Aufklärung „ von der Bildsamkeit und Lernf ä higkeit des Menschen ü berzeugt “ (ebd.) und forderte die Befreiung aus der „ selbstverschuldeten Unm ü ndigkeit “ (Kant, siehe Abschnitt 2.). Der Ruf nach allgemeiner Volksbildung bewirkte zwangsläufig eine andere Betrachtungsweise gegenüber den Menschen mit Behinderung. Nun wurden auf medizinischer Seite nicht mehr nur die körperlichen Bedingungen für die Beeinträchtigungen verantwortlich gemacht, sondern psychische und soziale Bedingungen gleichermaßen in die Verantwortung einbezogen. Im folgenden Jahrhundert unterzog man jedoch die sozialen Bedingungen keiner Betrachtung mehr und reduzierte die Behinderung und die psychischen Erkrankungen auf psychische und biologische Ursachen („ eindimensionales Ursache-Wirkungs-Prinzip “, Eberwein, 2008, S. 15). (vgl. Eberwein, 2008, S. 15)

Vygotskijs (1896 - 1934) Arbeiten bilden in der kulturhistorischen Theorie der Behinderung den Anfang. Er war ab 1924 im Bereich der Defektologie tätig und widmete sich unter anderem den schon vorliegenden Forschungen, die den behinderten Zustand als eine rein qualitative Begrenzung in den Entwicklungsstörungen betrachteten (handicapped condition as a purely developmental limitation). (vgl. Siebert, 2010, S. 11)

„ VYGOTSKIJ selbst begr ündete eine Theorie der Behinderung, der, wie in allen seinen

Arbeiten, ein an der Marxschen Auffassung orientiertes Verst ä ndnis zum Verh ä ltnis von Mensch und Gesellschaft zugrunde liegt. Ein Begriff der Entwicklung der kindlichen Pers ö nlichkeit beinhaltet f ü r VYGOTSKIJ daher notwendig die Analyse der sozialen Entwicklungsbedingungen und ihren Einfluss auf die psychische Entwicklung des Kindes. Und eine Behinderung ist aus dieser Perspektive heraus nicht einfach das Ausbleiben bestimmter Entwicklungen - dies ist erst eine mögliche Folgeerscheinung -, sondern sie ist in erster Linie eine besondere Entwicklungsvoraussetzung, die in der Regel eine ver ä nderte Entwicklung bedeutet. “ (Siebert, 2010, S. 11f) Vygotskij greift meines Erachtens somit die sozialen Aspekte in seinen Überlegungen wieder auf und kommt schließlich zu der Auffassung, dass nicht die Beeinträchtigung, sondern die Individualität jedes Einzelnen den Ausgangspunkt für das pädagogische Handeln bilden muss. Theoretisch könnten so alle Kinder, ob behindert oder nicht behindert, “ zu gleichen Entwicklungsergebnissen kommen, lediglich die Entwicklungsverl ä ufe sind dann verschieden. “ (Siebert, 2010, S. 12)

Durch die Herausbildung der Spezialwissenschaften (Medizin, Pädagogik, Psychologie), welche schon im 19. Jahrhundert begann, fand auch die allmähliche Herauskristallisierung von Störungen und folglich die Sonderpädagogik ihren Anfang. (vgl. Eberwein, 2008, S. 15) Vygotskij, der die Behinderung nicht als eine Besonderheit innerhalb der menschlichen Entwicklung, sondern sie als Abweichung zur Normalität ansah (vgl. Siebert, 2010, S. 11), legte einen Grundstein für die sich entwickelnde Sonder- und Heilpädagogik, die die Begriffe wie „ Normalit ä t “ und „ Abnormalit ä t “ als zentrale Begriffe in ihrer Theorienbildung aufnahmen. Eine Umsetzung ihrer Theorie sollte in der Gründung von Hilfsschulen, so genannten Spezialschulen erfolgen. Schon um 1898 schlossen sich die Hilfsschullehrer zum „ Verband der Hilfsschulen Deutschlands “ (VdGD) zusammen und „ widmeten sich vor allem der Aufgabe, den Gegnern des Hilfsschulgedankens entgegen zu wirken sowie die Hilfsschulen zu verbreitern und zu vereinheitlichen. “ (Eberwein, 2008, S. 18) 1926 haben die Hilfsschullehrer gefordert, dass der Charakter der Hilfsschule sich eindeutig von dem Charakter der Normalschule unterscheiden solle. Der Charakter einer Hilfsschule sollte nun „ einen spezifisch heilp ä dagogischen Charakter annehmen “ (ebd.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Integration und Inklusion als pädagogische Voraussetzung für die Grundschule
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
108
Katalognummer
V165931
ISBN (eBook)
9783640817931
ISBN (Buch)
9783640821372
Dateigröße
1132 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Integration, Inklusion, Grundschule, Inteklusion
Arbeit zitieren
Kathrin Kirchhof (Autor:in), 2010, Integration und Inklusion als pädagogische Voraussetzung für die Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/165931

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