Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Jugendalter - Konstruktion einer Lebensphase
2.1. Definition Jugendalter
2.2. Historische Entwicklung der Jugend
2.3. Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
2.4. Familie
3. Magersucht - eine Form der Essstörung
3.1. Definition
3.2. Physische Folgen
3.3. Epidemiologie
4. Erklärungsansätze für Essstörungen bzw. Magersucht
4.1. Grundlegende Struktur
4.2. Familiendynamische Ansätze
4.3. Soziokulturelle und gesellschaftliche Ansätze
4.4. Essstörungen und die Sucht nach Identität
5. (Psychosoziale) Möglichkeiten der Sozialen Arbeit
5.1. Prävention(smöglichkeiten)
5.2. Interventionsmöglichkeiten
5.3. Stabilisationsmöglichkeiten
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
7.1. Bücher
7.2. Internetrecherche
1. Einleitung
Essstörungen sind inzwischen zum epidemischen Problem geworden. Der Anteil der Menschen, die von einer Essstörung betroffen sind, scheint kontinuierlich zu wachsen, und zwar sowohl quantitativ – wie viele von Essstörungen betroffen sind – als auch hinsichtlich der Positionierung im Leben – wie auch hinsichtlich der Chronifizierung der Störung.
Der Mediziner Zipfel zitiert in seiner Studie zu den biopsychosozialen Aspekten der Anorexia Nervosa folgende Ergebnisse einer Forsa-Studie: „Jede zweite Frau zwischen 20 und 60 möchte weniger wiegen. Jede zweite Frau hat bereits eine längerfristige Diät gemacht.
Für 47% der Frauen gibt es „verbotene Lebensmittel“. Jedes dritte Mädchen unter 10 und 60% der 15jährigen haben schon Diäterfahrung.“ (Zipfel, 2003: 3) Das epidemische Auftreten von Essstörungen verlangt damit ein Ausmaß gesellschaftlicher, professioneller wie sozial-individueller Fürsorge, um das Leiden der Betroffenen und Mitbetroffenen zu lindern bzw. überhaupt zu verhindern.
Das erste Auftreten von Essstörungen wird meist im Jugendalter lokalisiert:
2. Jugendalter - Konstruktion einer Lebensphase
In Zeiten des Jugendwahns, in der immer mehr Erwachsene in eine Lebensphase zu regrigieren scheinen, die öffentlich als non plus utra, als Eldorado, als „das Leben“ empfunden wird, ist es spannend, sich mit dieser viel von gesellschaftlichen Bildern überlagerten und idealisierten Lebensphase zu beschäftigen. Also zuerst eine Definition:
2.1. Definition Jugendalter
Jugendalter wird nach bezeichnet als Lebensphase, „die durch das Zusammenspiel biologischer, intellektueller und sozialer Veränderungen zur Quelle vielfältiger Erfahrungen wird.“ (Dreher, Oerter in Montada, Oerter, 2002: 258) Sie ist situiert im Übergang zwischen Kind und Erwachsenen, und damit in starkem Maße sozialen und kulturellen Änderungen unterworfen[1]. Sie wird von einschneidenden körperlichen Veränderungen – der Geschlechtsreifung – markiert, ist aber vorrangig sozialhistorisch konstruiert – ein Projekt und Produkt sozialhistorischer Entwicklungen, wie ich im Folgenden noch ausführen werde[2].
Diese Lebensphase ist mit im Durchschnitt 15 Jahren ausgesprochen lang. Zudem scheint sie ein außerordentlich chancen- und risikoreicher Abschnitt zu sein, in der eine Vielzahl von Weichen für das künftige Leben und damit auch für die künftige Lebensqualität gestellt werden[3] – gesundheitliche, psychische wie physiologische, berufliche Weichen, damit verbunden sozioökonomische, soziale Strukturen und damit verbunden die Ausbildung mehr oder minder stabiler und ressourcenreicher Netzwerke.
Gleichzeitig spiegeln die Schwierigkeiten, mit denen Jugendliche zu kämpfen haben, symptomatisch die Schwierigkeiten unserer Zeit, der gesamten Gesellschaft und ihrer Mitglieder über deren gesamte Lebensspanne wider, wie der Soziologe Hurrelmann betont[4].
Psychologisch wird die Jugend wird als Lebensphase beschrieben, in der Identitätsbildung im Mittelpunkt rückt und in der die Arbeit und immer selbständigere, aber auch eigenverantwortliche Ausgestaltung der Identität wesentliches Ziel dieser Phase ist[5].
Gesellschaftlich ist die Bedeutung der Lebensphase vor allem in der Rollenorientierung und in der ethisch-politischen Orientierung des Jugendlichen zu sehen – in Auseinandersetzung mit den für den Jugendlichen immer wahrnehmbareren soziokulturellen Bedingungen[6].
2.2. Historische Entwicklung der Jugend
In einem der klassischen, alten Modelle der Lebensphasen gibt es zwischen Kindheit und frühem Erwachsenenalter kein Dazwischen. Nach der Geschlechtsreife galt ein Mensch als erwachsen, davor war er ein Kind[7]. Dieses Modell findet sich heute noch in vielen ursprünglichen Gesellschaften, in der eine „Jugend´“ nur in dem vergleichsweise knappen Zeitabschnitt einer Initiation stattfindet.
Erst in den letzten 150 Jahren hat sich diese Lebenspanne einen so eigenständigen Charakter erhalten, dass sie als selbständige Lebensphase betrachtet wird. Sie ist von einem recht kurzen Übergang zu einer immer längeren Zeitspanne angewachsen, während sich zugleich Kindheit und Erwachsenenalter verkürzten[8]. Sie ist ein Produkt größerer und breiteter Bildungsanstrengungen, in der der Arbeitsbeginn und die Gründung einer eigenen Familie immer weiter nach hinten verschoben wird[9]. Ein Moratorium und eine Transitionsphase in einem[10].
Im historischen Wandel lässt sich gleichzeitig auch ein struktureller Wandel der Lebensphase Jugend feststellen, und es ist m.E. eine interessante Frage, ob diese strukturellen Veränderungen reversibel sind. Durch die Zeiten mit dem damit verbundenen Kulturwandel werden auch die Lebensphasen unterschiedlich belastet. Die Jugend gilt heute als Lebensphase, in der intensiv Leistungsressourcen abverlangt werden[11], aber auch als Lebensphase, die stark mit hedonistischen Klischees besetzt ist.
2.3. Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
Die Jugend wird heute als Lebensphase mit DER Schlüsselstellung zu späteren Lebensphasen betrachtet. Warum ist diese Lebensphase so lang? Machen sich die Jugendlichen einfach nur eine schöne Zeit in ihrem Moratorium, um sich vor dem „Ernst des Lebens“ zu drücken? Oder schlagen sie sich gequält durch den Dschungel der Adoleszenz, bis sie, endlich, endlich, erwachsen werden?
Entwicklungsaufgaben werden im Jugendalter in folgenden vier wesentlichen Lebensbereiche beschrieben[12]:
- Entwicklung der intellektuellen Kompetenz - Anwachsen der individuellen Leistungskompetenzen inkl. Motivation / Leistungssteuerung, mit dem Ziel der „selbständigen Bestimmung der eigenen Leistungsfähigkeit“ (Hurrelmann, 2007: 33). Dies ist wichtig für den späteren sozioökonomischen erfolg, aber auch das Selbstbild, ob sich jemand später als Gescheiterter oder Erfolgreicher wahrnimmt.
- Entwicklung der sozialen Kompetenz:
- Ablösung von der Herkunftsfamilie, Verstärkung von Gleichaltrigenkontakten – immer weniger ist der Jugendliche von „Babysittern“ abhängig, die zunehmende Selbständigkeit führt zu größerer auch sozialer Bewegungsfreiheit und im Idealfall zu einer eigenständigen, frei gewählten Verortung im bzw. zum bestehenden Sozialgefüge. Da sich Gleichaltrige in ähnlichen Strukturen finden und mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben, ist die gegenseitige Unterstützung besonders wichtig.
- Entwicklung eines inneren Bildes der eigenen Geschlechtszugehörigkeit, eines eigenständigen und befriedigenden Körperbildes, als Voraussetzung für eine stabile Paarbeziehung, die später als Basis für den Aufbau einer eigenen Familie dienen kann. Hier werden besonders sozial vorgegebene Bilder verhandelt und neu ausgestaltet: Wer bin ich als junger Mann, als junge Frau? Neben der Tatsache, dass die körperliche Entwicklung sich teilweise der eigenen Kontrolle entzieht, werden hier in der Unfreiheit, dem eigenen Körper ein Stück ausgeliefert zu sein, neue Freiheiten in der Ausgestaltung und in der Behandlung der eigenen Geschlechtlichkeit gewonnen.
- Eigenverantwortliches Konsumverhalten – gegenüber den Verlockungen der Konsumgesellschaft und mit gewachsenem Budget ist es immer wichtiger Strukturen und Orientierungspunkte der Eigensteuerung zu etablieren, die funktionieren.
- Auch die ethisch-politisch-religiöse Orientierung wird in dieser Lebensphase neu verhandelt und in der wachsenden Unabhängigkeit vom Elternhaus und anderer Orientierungs- und Autoritätssysteme möglichst eigenständig neu gefasst.
In der Jugend werden wesentliche Muster des späteren Gesundheitsverhaltens und „Körpermanagements“ geprägt. Diese sind derzeit nicht besonders vielversprechend: „Gewichtsprobleme, Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen beeinflussen die Leistungsfähigkeit Jugendlicher“ (Hurrelmann et al. in Shell Deutschland Holdling, 2006: 86) und stellen zudem eine schwere Hypothek für spätere Lebensphasen dar.
[...]
[1] Vgl. Dreher, Oerter in Montada, Oerter, 2002: 262
[2] Vgl. Dreher, Oerter in Montada, Oerter, 2002: 258
[3] Vgl. Hurrelmann et al. in Shell Deutschland Holdling, 2006: 33, Hurrelmann, 2007: 7
[4] Vgl. Hurrelmann, 2007: 7
[5] Vgl. Tillmann, 2007: 209ff
[6] Vgl. Tillmann, 2007: 193
[7] Vgl. Hurrelmann et al. in Shell Deutschland Holdling, 2006: 33
[8] Vgl. Hurrelmann et al. in Shell Deutschland Holdling, 2006: 32
[9] Vgl. Hurrelmann et al. in Shell Deutschland Holdling, 2006: 33
[10] vgl. Tillmann, 2007: 197
[11] Vgl. Hurrelmann et al. in Shell Deutschland Holdling, 2006: 33
[12] Vgl. Hurrelmann, 2007: 27ff und 33ff, Tillmann, 2007: 78ff