Homoerotik, Spiritualität und Enthaltsamkeit bei Aelred von Rievaulx


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

30 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Aelred als Initiator einer eigenständigen Theologie der Freundschaft im Kontext hochmittelalterlicher Spiritualität

Aelreds homoerotische Neigung als Indikator einer eigenständigen spirituellen Ortung von Männerfreundschaften

Der Ordo Caritatis: Aelreds Lehre von den fünf Affekten
Ordnungsdenken und mittelalterliche „Spiegelliteratur“
Zum Speculum Caritatis Aelreds von Rievaulx
Des Menschen Leben und Handeln ist nichts anderes als Liebe
Die Affekte als Motivationen auf diesem Weg der Liebe
Der geistliche Affekt
Der vernünftige Affekt
Der geschuldete Affekt
Der natürliche Affekt
Der fleischliche Gefühlsantrieb
Die Liebe aus Affekt und Vernunft als höchste Form der caritas

Homoerotik und Enthaltsamkeit

Homoerotik und Spiritualität

Bibliographie

Aelred als Initiator einer eigenständigen Theologie der Freundschaft im Kontext hochmittelalterlicher Spiritualität

Der äußere[1] Rahmen einer umfassenden Schreibung einer Biographie des Heiligen ist kaum möglich. Mit einiger Sicherheit kennen wir Geburtsjahr (1110) und Sterbedatum (12. 01. 1167), verschiedene wichtige Etappen seines Lebensweges, ansonsten geben die literarischen Zeugnisse für unser modernes Verständnis von Geschichte relativ wenig her.

Aus der Feder eines gewissen Walter Daniel[2], Mönch aus dem von Aelred geleiteten Zisterzienserkloster Rievaulx bei York in Nordengland, stammt die einzige Vita des heiligen, und sie dient, wie alle Viten insgesamt, der Verherrlichung des Heiligen und seines tugendhaften Lebenswandels. Sicherlich beruht der dokumentarische Wert dieses Werkes auf der Tatsache, daß Walter Aelred noch gut gekannt und quasi aus seiner verehrenden Sicht des Meisters und Freundes dessen Leben darstellt.[3] Wesentlich ergiebiger, weil authentischer, sind die vielen autobiographischen Notizen Aelreds verstreut über sein ganzes, sehr umfangreiches Werk, wie etwa, um die wichtigsten Abhandlungen zu nennen, dem „Spiegel der Liebe“ (Speculum Caritatis), der „Regel für eine Rekluse“ (De institutione inclusarum) oder sein wohl berühmtestes Werk „Über die geistliche Freundschaft“ (De amicitia spirituali). In der kritischen Sichtung solcher einzelnen und verstreuten Bemerkungen, der Einbeziehung der Vita und der Kenntnisnahme der allgemeinen soziokulturellen und spiritualitätsgeschichtlichen Hintergründe des 12. Jahrhunderts, lässt sich mehr oder weniger ein einigermaßen detailgetreues Lebensbild rekonstruieren, mit dem sich gut wissenschaftlich arbeiten lässt.

Im meiner eigenen Darstellung und Wertung seines Lebens referiere ich im folgenden auf der Textgrundlage zweier Artikel, die Anfang der 80er Jahre herausgegeben worden sind, wobei der erste[4] eine Diskussion um die Homosexualität Aelreds in der Wissenschaft eröffnete, auf die der Artikel von Russell aus dem Jahr 1982 reagierte.[5]

Boswell setzt sich in diesem mittlerweile berühmt gewordenen Buch mit der Lebensform homosexueller Menschen und ihren kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten in Kunst und Kultur, seit dem Beginn der ständig wachsenden Dominanz des Christentums über die ausgehende Antike, intensiv auseinander und reflektiert auf das interne Kräfteverhältnis von christlicher Lehre, dem Tatbestand homosexueller Menschen in der Kirche und der Reaktion seitens der verschiedenen christlichen Gesellschaften. In der Behandlung der für die nachfolgenden Jahrhunderte paradigmatisch gewordene Entwicklung der Zisterziensermystik mit ihrem wichtigsten Inaugurator und Inspirator Bernhard von Clairvaux (1090-1153) weist Boswell dem hl. Aelred eine besondere Schlüsselposition zu: „But it was Saint Aelred of Rievaulx who gave lobe betwenn the same gender ist most profound and lasting expression in a christian context.”[6] Der Zisterziensermystik muß im Zusammenhang einer sich allmählich eigenständig formierenden abendländischen Kultur, deren Abschluß vielleicht in der durchdringenden Synthese von christlicher Weltsicht und griechisch-antiker Philosophie in den wissenschaftlichen Leistungen der Scholastik zu finden ist, eine eigenständige und originelle Rolle in dieser Weiterentwicklung zugesprochen werden. Namentlich in der Reflexion auf das Phänomen zwischenmenschlicher Beziehungen, einer von den Quellen der Antike, der Heiligen Schrift und der Kirchenväter (besonders Gregor der Große und Augustinus von Hippo) gespeisten Neuformulierung zum Verständnis des Einflusses der Liebe und der Affekte auf das Leben der Menschen, kommt ihren namhaften Vertretern das Verdienst einer erstmals seit der Antike eigenständigen Formulierung einer Theorie der Liebe und auch der Freundschaft unbedingt zu. Die Sichtung der vielfältigen Briefdokumente als Ausdruck intimer Freundschaft und Liebe zwischen oft weit entfernt voneinander wohnenden Mönchen, ihre theoretischen Reflexionen in ihren spekulativen Abhandlungen über die Liebe[7] und der Freundschaft, eingebettet in den alles umfassenden Rahmen einer oft als erotisch stilisierten und dargestellten Liebe der Mönche zu Jesus, dem Freund und Geliebten der Menschen[8] und auf diese hin theoretisch entworfen und fundiert. Boswell bemerkt für Aelred eine besondere Betonung und Sensibilität für den affektiv-emotionalen Bereich im dynamischen Beziehungsspiel zwischen Menschen, die als Strukturmoment alle Formen menschlicher Interkommunikation und besonders einer Freundschaft prägen und bestimmen. Gerade Aelreds positive Würdigung des eigenständigen Wertes der Affekte und Emotionen im Bereich zwischenmenschlicher Beziehungen, bedeutet einen eindeutigen Diskursfortschritt in der theoretischen Fassung der Liebe und der Freundschaft gegenüber der traditionellen Theologie der Kirchenväter. Kein Autor vor Aelred, nicht einmal Bernhard, weist den menschlichen Affekten und ihre notwendige Funktion zur Entstehung jeglicher Beziehung einen ausdrücklich positiven Stellenwert zu. Aelred, so können wir zusammenfassend sagen, konzipierte zum ersten mal innerhalb einer langen Entwicklung monastischer Spiritualität den unbedingten Eigenwert von Freundschaft und menschlicher Liebe als Fundament monastischen Lebens.[9] Damit hebt Aelred gewissermaßen die herkömmliche Verhältnisbestimmung von intimer Freundschaft unter Mönchen und dem Gemeinschaftsleben, als eines neuralgischen und schwer zu bewältigenden Kräfteverhältnisses, daß es unter allen Umständen zu meiden gilt, unter anderen theoretischen Vorzeichen gänzlich auf und verabschiedet sich von einer langen Tradition monastischer Spiritualität in der Nachfolge Benedikts oder eines Basilius. Einzig die Autorität der Heiligen Schrift, die vom intimen Freundschaftsverhältnis zwischen Jesus und Johannes spricht, lässt er gelten. Sie dient ihm als Programm bzw. als ein Paradigma seiner Konzeption von geistlicher Freundschaft – einer Freundschaft in eigenartiger Nähe zum einem Eheverhältnis.[10] Dem christlichen Verständnis vom Wert einer Freundschaft als quasi Sakrament der Liebe Gottes zu uns Menschen[11] wurde damit ein neuer Verständnisimpuls gegeben, der im 12. Jahrhundert mächtig nachwirken sollte.[12]

Aelreds homoerotische Neigung als Indikator einer eigenständigen spirituellen Ortung von Männerfreundschaften

Boswell sagt[13] es frei heraus: „There can be a little question that Aelred was gay and that his erotic attraction to men was a dominant force in his life.”[14] Damit eröffnete der amerikanische Wissenschaftler eine Diskussion um einen “wunden Punkt“ in der Lebensgeschichte dieses Heiligen, die zwar lange vermutet, kaum geäußert und von vielen noch immer umstritten ist.[15] Demgegenüber gibt Russell in seinem Aufsatz zu bedenken, ob eine solche von Boswell vorgeschlagene Interpretation autobiographischer Texte ausreichen, um Aelred als homosexuell zu bezeichnen.[16] Andererseits: Wenn eine bestimmte erotisch-sexuelle Vorliebe selbst, ungeachtet ob sie sich in dementsprechenden Akten äußert oder nicht, als ausreichendes Kriterium genügt, dann muß man mit einiger Sicherheit diese Vermutung bejahen.[17] Während Boswell sich auf die Sammlung nüchterner Daten und literarischer Fakten zur Stützung seiner These beschränkt, bemüht sich Russell umgekehrt um eine systematisch-kritische Sicht und Auswertung der boswellschen These, wenn auch er vorschlägt, die Textbefunde weit genug zu interpretieren, um seinem (Russells) Anliegen gerecht zu werden, die im Kontext der stark verbreiteten und öffentlich promulgierten Homosexualität in der amerikanischen Gesellschaft angesiedelt ist, für deren Vertreter Aelred eine starke Identifikationsfigur darstellt : „... that the example of this wise and saintly monk may be of help of those who are attempting to develop a Christian spirituality appropriate to modern gays.“[18]

Boswell sieht einen ersten Hinweis auf Aelreds Neigung bereits in seiner Kinderzeit bzw. der Phase der Adoleszenz („from the beginning of his emotional life“[19]) und zitiert die Anfangspassage aus der Spirituali amicitia: „Als ich noch ein Kind war und zur Schule ging, wo ich mich sehr freute, weil meine Gefährten mich gern hatten, in einem Alter, das zwischen Tugenden und Lastern hin und her schwankte, ergab ich mich ganz den Neigungen und setzte alles auf die Liebe. Nichts Süßeres, nichts Erfreulicheres, nichts Heilsameres gab es für mich als Lieben und Geliebtzuwerden.“ Zwingend muß man diesen Text nicht auf eine früh sich manifestierende homoerotische Neigung Aelreds lesen. Ich jedenfalls empfinde diesen Passus zur Stützung der These, Aelred sei seit seinem bewussten Erwachen seines Gefühllebens bereits solchen Empfindungen zugetan gewesen, inadäquat und überinterpretiert. Vielmehr lese ich in dieser Bemerkung eine große Sensibilität im Umgang mit Seinesgleichen heraus, und der Drang „zu liebe und geliebt zu werden“ scheint mir in diesem Alter natürlich, nicht zu vergessen, daß dieses amari et amare ein wörtliches Zitat aus den Confessiones des Augustinus ist, daß dieser verwendet, um seine glühend sexuelle Liebesleidenschaft, das sich seiner in der Jugend bemächtigt hat, zum Ausdruck zu bringen[20], welche Aelred in diesem jungen Alter noch gar nicht gekannt haben kann. Boswell fasst für einen gewissen Lebensabschnitt des Heiligen die Option offen gelebter Sexualität des jungen Mannes ins Auge[21] und Boswell schließt folgende Konklusion: „That these experiences involved overt sexuality is unquestionable: in writing to his sister Aelred speaks of this as the time when she held on to her virtue amd he lost his.”[22] Boswell appliziert diesen Passus nicht auf mögliche homosexueller Erfahrungen des Heiligen, während Russell dies für möglich und sogar wahrscheinlich hält.[23] Einen weiteren Hinweis sehen Boswell und Russell in jener Lebensphase des jungen, in de 20er stehenden Aelred, als dieser als Seneschall am Hof König Davids von Schottland eine äußerst intensive Freundschaft mit einem uns nicht näher bekannten Mann schließt, dem er sich so verbunden und verpflichtet fühlte, daß er seinen Ruf zum Mönchsleben kaum Folge zu leisten vermochte; dieser Zweispalt und innerer Kampf zwischen Freundschaftsbande einerseits und den vernommenen Ruf Gottes andererseits, ihn vielmehr nahe an den Rand des Suizids gebracht hat.[24] Sicherlich lässt auch ein solcher Text keine eindeutigen Konnotationen bezüglicher einer homosexuellen Freundschaft zu und wird auch von Aelred natürlich nicht so dargestellt. Trotzdem veranlasste diese Bemerkung Russell zu folgenden Fragen: „Was this friendship which meant so much to Aelred an overtly homosexual relazionship? We have no way of knownig for certain but, on the emotional level, even we admit that it is very difficult distinguish at what point on the psychological scale of affection one kind of love passes over into another, it does appear that Aelred and this man were lovers rather tham merely friends.”[25] Russell mißt dieser Bemerkung letztendlich nicht allzu viel Bedeutung bei, ihm kommt es vielmehr darauf an, ein durchgängiges Strukturmoment in Aelreds gesamtpsychologischer Entwicklung hier festmachen zu können: zu lieben und geliebt zu werden. Eines wird man sicherlich zugeben dürfen: auch unter der hypothetischen Voraussetzung, Aelred hätte niemals in seinem Leben einschlägige sexuelle Erfahrungen gemacht, so fällt doch um so mehr seine starke affektive Zuneigung zu Vertretern des gleichen Geschlechts auf, aus denen er selbst niemals einen Hehl gemacht hat. Diesbezügliche autobiographische Notizen ließen sich öfters anführen und würde diese These stützen.[26] Auch wenn ich persönlich vorsichtig wäre, allzu schnell dem Heiligen homosexuelle Verhältnisse aufgrund relativ unsicherer und manchmal gewagter Textinterpretationen zu attestieren[27], so würde ich mich trotzdem diese Vermutung einer homoerotischen Seite des Heiligen durchaus anschließen können, wenn man seine gut bezeugten Freundschaften und später v.a. zu jungen und gutaussehenden Mönchen[28] in Rechnung stellt. Sicherlich scheint die These, Aelred habe starke sexuelle Erregungen im beständigen Umgang mit seinen Mönchen (Aelred lebte zeitlebens in männerdominanten Beziehungsgeflechten – sei es auf dem Hof König Davids oder ab seinem 24. Lebensjahr im Kloster Rievaulx) durchaus kennengelernt, nicht so abwegig oder gar gänzlich von der Hand zu weisen, bedenkt man die diesbezüglichen Äußerungen des Heiligen über seine Art und Weise sich und seinen Trieb durch harte asketische Praktiken unter Kontrolle zu bringen.[29]

Aus Aelreds Klosterzeit wissen wir aus seinen eigenen Bemerkungen, v.a. im Werk über die Freundschaft, von zwei sehr intensiven Freundschaften zu Mitbrüdern: einem gewissen Simon und einen nicht näher zu identifizierenden jungen Mann, den Dumont mit einem gewissen Geoffrey von Dinant identifiziert.[30] Die Freundschaft zu Simon gestaltete sich ungleich emotionaler, intensiver und „erotischer“ als die zu Geoffrey, die vornehmlich auf Vernunft und weiser Führung eines jüngeren Mönches durch seinen Abt beruhte, wenn man den schon genannten Nachruf Aelreds auf Simon liest. Nichtsdestotrotz zählt dieser ergreifende „Liebesschrei“ eines Verzweifelten zu den schönsten Dichtungen monastischer Literatur, die jemals aus der Feder eines Mönches stammten, durchaus vergleichbar mit ähnlichen Dichtungen eines Augustinus oder Bernhards.[31] Während die weiter oben angeführten Textpassagen Boswells mich nicht unbedingt im Hinblick auf die umstrittene Homoerotik Aelreds überzeugen, so lässt mich doch der Duktus dieser Sprache aufhorchen. Aelred war zum Zeitpunkt seines Eintrittes in Rievaulx 24 Jahre alt, als er zu Beginn seiner Aufnahme des zisterziensischen Lebens Simon kennenlernte und sich in ihn buchstäblich „verschaute“. Die intensive Gestaltung dieser Freundschaft, trotz allen vom Orden auferlegten Reglements zur Unterbindung allzu starker Mönchsfreundschaften (Schweigen, harte Askese,...) musste vielmehr, so meine Vermutung aufgrund einer Bemerkung in Speculum Caritatis I, 34, 107, auf nonverbaler Ebene konstituiert werden. Auch wenn Simon und Aelred kein einziges Wort miteinander wechselten, so kommunizierten beide doch auf eine Art und Weise, die gegenseitige Zuneigung und Liebe sehr wohl zum Ausdruck bringen konnten: mehr oder weniger eindeutig gewechselte Blicke als Ausdruck tiefer Wertschätzung, das Spiel der Mienen und Gebärden, ja selbst das Schweigen des Freundes als eine Symphonie der Zuneigung Aelred gegenüber, konstituieren für mich etwas wie ein als unzweideutig zu erkennendes „erotisches Fluidium“ zwischen diesen beiden jungen Mönchen. Das Eruptive, ja Exzessive dieser Zuneigung, die diesen berühmten Nachruf durchgehend charakterisiert, berührt so manchen Leser, wie Russell selbst, sehr peinlich und Aelred spart wahrlich nicht mit der Darstellung seiner intimsten Gefühle dem Freund gegenüber (v.a. in der Sprache des alttestamentlichen Hohenliedes gehalten). Aelred selbst war sich dieses erotischen Untertons sehr wohl bewusst, wenn er mit dem Hinweis auf den allwissenden Gott, der allein das Innere eines Menschen kennt, jene Mitbrüder zurechtweist, die da meinen könnten, er liebe zu „fleischlich“ oder zu „irdisch“. Seine Freundschaft mit Simon lässt die Vermutung hochkommen, ob man es hier nicht eher mit einem „Liebespaar“ als mit „gewöhnlichen Freunden“ zu tun hat, gerade weil die Atmosphäre des Erotischen von ihm selbst nirgends abgeschwächt oder gar verharmlost wäre.

Zu lieben und geliebt zu werden darf als ein durchgängiges Moment in Aelreds psychischer Verfassung gewertet werden. Die immense Bedeutung körperlicher Schönheit, für die Aelred wie niemand sonst so sehr sensibilisiert war, wie die gesamte charmante Ausstrahlung eines Jugendlichen als Impetus der je stärkeren Zuneigung eines Mönches zu einem Jüngeren und Gleichaltrigen, reflektiert Aelred im Speculum Caritatis[32] ausführlich und legt den Schluß nahe, daß sich der Heilige in seiner Freundeswahl von diesen Momenten stark inspirieren ließ, deren spezifische Gefahren er aber ebenfalls wahrnimmt und diesbezüglich zu äußerster Vorsicht mahnt.

Die Bedeutung der Frage, ob der Heilige vor seinem Klostereintritt homosexuelle Kontakte pflegte oder nicht, obwohl mit einiger Sicherheit angenommen werden darf, daß er das monastische Leben nicht mehr jungfräulich begann[33], seine intensive Neigung zu Männern daher den gleichgeschlechtlichen Umgang nicht von vornherein auszuschließen ist, relativiert sich angesichts der Frage, in wieweit Aelreds Neigung sein Leben, seine Spiritualität der Freundschaft als Sakrament der Liebe Gottes zu uns Menschen prägten und mitformten. Nach Explikation der These, daß uns in Aelred ein prominenter und heiligmäßiger Vertreter innerhalb einer erotischen Kultur von Männerfreundschaften entgegentritt, empfiehlt es sich auch seine Theorie der geistlichen Freundschaft innerhalb derselben zu lesen und zu interpretieren. Wohl gibt Russell etwa zu bedenken, daß sich Aelred keinesfalls über seine sexuelle Orientierung verstand und definierte, sondern eher gegen- wie gleichgeschlechtliche Zuneigung als gleichwertige Ausdrucksformen des menschlichen affectus betrachtete, die es zu meistern und auf Gott und den Nächsten hin fruchtbar zu machen gilt.[34] Ihm geht es einzig um die Kontrolle des affectus durch die ratio und seine Hinordnung auf die Gottes- und Nächstenliebe und misst demgegenüber der Frage, ob ein Mensch hetero- bzw. homosexuell veranlagt ist, eine sekundäre Bedeutung bei.[35]

Aelred lebt in einem klösterlichen Kontext, sprich einer Umgebung, in der die körperliche Enthaltsamkeit eine solch große Rolle spielte, daß sie quasi die conditio sine qua non für den spirituellen Aufstieg der Seele zu Gott darstellte. Die Rolle der Enthaltsamkeit selbst bei so emotional intensiven Freundschaften, wie sie sich Aelred unter seinen Mönchen wünschte und in der Spirituali amicitia theoretisch fundierte, rechtfertigt er in seiner Lehre von den Affekten im dritten Buch seines Speculum Caritatis und seiner Konzeption von der „geordneten Liebe“ (ordo caritatis), wie ich sie im folgenden kurz darzustellen versuche.

[...]


[1] Vgl. dazu auch die Ausführungen von McGinn, Mystik 473-495

[2] Walter Daniel, The Life of Aelred of Rievaulx (Cistercian Fathers ; 57), Kalamazoo, MI, 1994

[3] Zur Problematik dieser Vita und ihres dokumentarischen Wertes vgl. Hallier, Monastic Theology XX-XXI

[4] Boswell, J., Christianity , Social Tolerance and Homosexuality. Gay people in Western Europe from the Beginning of the Christian Era to the Fourteenth Century, Chicago 1981 221-226

[5] Russell, K.C., Aelred. The Gay Abbot of Rievaulx, in: Studia Mystica 5 (1982) 51-64

[6] Boswell 221

[7] vgl. etwa das schon erwähnte Werk Aelreds, der Speculum Caritatis, das er im Auftrag Bernhards als pädagogische Anleitung zur Formung junger Zisterziensernovizen verfasst hat.

[8] Die Entwicklung der sog. „Brautmystik“ im hohen Mittelalter anhand der reichen Bildmetaphorik des alttestamentlichen Hohenliedes, ist ein Phänomen, das sich v.a. zuerst in den Mönchsklöstern des Zisterzienserordens entwickelte und von dort aus, durch die Übernahme der cura monialium, ihre höchste Blüte und Vollendung in der Frauenmystik des Mittelalters gefunden hatte; vgl. dazu Dinzelbacher P., Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Padeborn 1994

[9] Ein Zeugnis für die Bedeutung von Freundschaftserfahrungen für die Freundschaftstheorien vor Aelred finden wir etwa bei dem bedeutenden karolingischen Gelehrten Alkuin von York; vgl. McGinn 484-485; v.a. aber Fiske A., Alcuin and the Mystical Friendship, in: Studi medievali 3 (1961) 551-575

[10] vgl. dazu Russell, K.C., Marriage and the Contemplative Life, in: Spiritual Life 24 (1978) 50-51

[11] vgl. Russell, Aelred 60

[12] Boswell 225: „Although his views were enormously popular in the twelth century… he was conscious of their novelty.”

[13] Vgl. dazu die Studie von McGuire, B.P., Brother and Lover: Aelred of Rievaulx, New York 1994

[14] Boswell 222; McGinn äußerst sich bezüglich einer möglichen homoerotischen Neigung Aelreds vorsichtiger (486): „das Studium von Aelreds Äußerungen über seine Freundschaften und die Bedeutung, die diese auf dem Weg zu Gott haben, legen einen weiteren Sinn von amicitia nahe (Für Aelred immer die Freundschaft unter Männern). Ob dies ein Resultat der für das zwölfte Jahrhundert charakteristische Offenheit in Ausdruck persönlicher Gefühle ist, oder einer neuen Art des Schreibens, ist nicht von Belang. Niemand zuvor sagte Dinge, die Aelred aussprach, und das Geheimnis, durch das er fähig war, dies zu tun, wurde vom prüfenden Blick der Historiker ans Licht gezogen. De jüngste Diskussion, inwiefern die leidenschaftliche Sprache gegenüber seinen Freunden eine homoerotische Neigung reflektieren, verfehlt völlig seine vorrangige Absicht zu zeigen, wie affectus und ratio mit Hilfe der Gnade die Freundschaft auf der Ebene der spiritualis amicitia heben kann, die zu Gott führt.“

[15] Auch Peter Dinzelbacher, einer der renommiertesten Mediävisten unserer Zeit, optiert eindeutig für diese Möglichkeit; vgl. Dinzelbacher, Bernhard 64; Walter Map, ein Zeitgenosse Bernhards und ein entschiedener Gegner der Zisterzienser, spricht offen über die in den mittelalterlichen Klöstern weit verbreitete Homosexualität unter den Mönchen. Im einzelnen wäre hier zu untersuchen, wie weit dieser Vorwurf und ihre polemische Zeichnung gegen die Reformbestrebungen innerhalb des benediktinischen Mönchtums gerichtet ist. Wie oft wird die Wahrheit bezüglich dieses neuralgischen Punktes in der Mitte zwischen beiden Extremen liegen.

[16] Russell, Aelred 51: „Boswell´s conclusions seem sound, but it is enough to know that Aelred was homosexual?”

[17] vgl. Russell, Aelred 51

[18] Russell, Aelred 51

[19] Boswell 222

[20] vgl. Confessiones III, 1: „Amare et amari dulce mihi erat magis…”

[21] De institutione inclusarum 32: „Exhalaretur nebula libidinis ex limosa concupiscentia carnis et scatebra pubertatis”; „Conuenientesque in unum affectionis suauitas et cupiditatis impuritas rapiebant imbecillem adhuc aetatem meam.“

[22] Boswell 222

[23] vgl. Russell, Aelred 52

[24] Speculum Caritatis I, 28,79: „Die Liebe meines Blutes hielt mich unter Zwang, die Fessel einer Freundschaft, die mir kostbarer war als alle Kostbarkeiten meines Lebens. All das war nach meinem Geschmack, es gefiel mir, du aber noch mehr!... Die teuren Bande der Freundschaft gefielen mir wohl, doch immer musste man vor einer Beleidigung auf der Hut sein, und es war ganz sicher, daß irgendwann einmal die Trennung kommen würde. ... Meine Wunde lag tief. Sie vergiftete mein Inneres mit unerträglichem Gestank. Wenn du mir nicht schnell deine Hand entgegengestreckt hättest, ich hätte mich selbst nicht mehr länger ertragen und vielleicht zum schlimmsten Mittel gegriffen, zu dem die Verzweiflung treiben kann.“

[25] Russell, Aelred 53

[26] vgl. in diesem Zusammenhang den ergreifenden Nachruf Aelreds auf seinen verstorbenen besten Freund im Kloster, einem Mönch namens Simon, im letzten Kapitel des ersten Buches des Speculum Caritatis.

[27] Die Hermeneutik mittelalterlicher Text ist ohnedies ein schwieriges Unternehmen, v.a. im Bereich der Darstellung zwischenmenschlicher Beziehungen.

[28] Die Betonung der „Schönheit“ als einem der wichtigsten Affekte zur Aufnahme einer Liebesbeziehung bzw. Freundschaft, ist bei Aelred mehr als bei anderen Autoren seines Ordens und seiner Zeit signifikant; vgl. etwa die diesbezüglichen Ausführungen im dritten Buch seines Speculums.

[29] Vgl. etwa De institutione inclusarum 18; Russell, Aelred 55

[30] vgl. Russell, Aelred 54

[31] vgl. Russell, Aelred 54: „... a literary masterpiece which may well be superior to Bernards´s extraordinary account of his own reaction to the death of his brother, Gerard”.

[32] In III, 15

[33] vgl. die diesbezüglichen Klagen an seine Schwester in der Reklusenregel (Nr. 18)

[34] Nichtsdestotrotz steht er im vernichtenden Urteil homosexueller Akte im mainstream seiner Zeit. Ein solcher ist gegen die Schöpfungsordnung, sprich gegen die Natur des Menschen und ist von daher zu verurteilen.

[35] In diesem Zusammenhang sei eine Bemerkung Walter Daniels angeführt, die belegt, wie frei und ungezwungen sich Aelred freundschaftliche Männerbeziehungen denkt und wie diese auch zum Ausdruck gebracht werden sollen: Er erlaubte unter seinem Abbatiat den Mönchen, daß sie sich zum Zeichen der Zuneigung oder des Trostes gegenseitig die Händen halten, und die Intimität einer solchen Geste wird von Walter sehr wohl innerhalb der benediktinisch-zisterziensischen Mönchstradition als eine ungeheuerliche Propvokation und Neuerung empfunden, wenn man bedenkt, daß für gewöhnlich ein Mönch, bei einer solchen Geste von einem anderen ertappt, das Kloster unverzüglich verlassen musste; es also nicht die Regel sein konnte, daß sich Mönche untereinander ihre Zuneigung bekundeten.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Homoerotik, Spiritualität und Enthaltsamkeit bei Aelred von Rievaulx
Hochschule
Universität Salzburg  (Institut für Moraltheologie und Gesellschaftslehre)
Veranstaltung
Seminar über Sexualethik
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2001
Seiten
30
Katalognummer
V1661
ISBN (eBook)
9783638110280
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Homoerotik, Spiritualität, Enthaltsamkeit, Aelred, Rievaulx, Seminar, Sexualethik
Arbeit zitieren
Christoph Bernhard Ramsauer (Autor:in), 2001, Homoerotik, Spiritualität und Enthaltsamkeit bei Aelred von Rievaulx, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1661

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