Probleme und Möglichkeiten zur Erhaltung der Lebensqualität bei Menschen mit Demenz unter dem Gesichtspunkt Wohnen und Selbstbestimmung


Diplomarbeit, 2004

132 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Der Begriff Demenz
2.1 Historische Entwicklung des Demenzbegriffs
2.2 Krankheitsbild Demenz
2.3 Formen der Demenz
2.3.1 Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT)
2.3.2 Vaskuläre Demenz
2.3.3 Andere spezifische Demenzen:
2.4 Sekundäre Demenzsymptome / Verhaltensstörungen
2.5 Demografische Aspekte und Prävalenz
2.6 Risikofaktoren
2.7 Medikamentöse Therapie
2.7.1 Antidementiva / Nootropika
2.7.2 Psychopharmaka
2.7.3 Erfolge der medikamentösen Therapie

3 Demenzsymptome und deren Konsequenzen für das Umfeld
3.1 Die Welt der Demenzkranken
3.2 Folgen einer Demenz

4 Lebensqualität und Wohlbefinden bei Demenz
4.1 Probleme bei der Erfassung von Lebensqualität bei Demenzkranken
4.2 Wohlbefinden / Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz

5 Selbstbestimmung
5.1 Selbständigkeit
5.2 Individualität

6 Wohnen
6.1 Wohn- und Versorgungssituation von Menschen mit Demenz
6.2 Alleinlebende verwirrte Menschen
6.3 Situation dementer Menschen und deren pflegenden Angehörige in Privathaushalten
6.3.1 Ambulante Pflege
6.3.2 Kurzzeitpflege
6.3.3 Tagespflegeeinrichtungen
6.4 Stationäre Einrichtungen
6.4.1 Die Entwicklung des Altenpflegeheims im 20. Jh.
6.4.2 Situation dementer Menschen in stationären Pflegeeinrichtungen
6.4.3 Hausgemeinschaften - 4. Generation des Altenpflegeheimbaus?
6.4.4 Funktionspflege vs. Bezugspflege
6.4.5 Selbstbestimmung in stationären Einrichtungen
6.4.6 Integrative vs. segregative Versorgungsansätze

7 Pflegeversicherung und die Ungleichbehandlung Demenzkranker

8 Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensqualität bei Menschen mit Demenz
8.1 Interventionsmethoden:
8.1.1 Validation
8.1.2 Biografiearbeit und biografische Grundhaltung
8.1.3 Reminiszenz-Therapie
8.1.4 Personenzentrierter Ansatz/Pflege
8.1.5 Realitäts-Orientierungs-Training
8.1.6 Selbst-Erhaltungs-Therapie
8.1.7 Milieutherapie
8.1.8 Psychobiografisches Pflegemodell
8.1.9 Basale Stimulation
8.2 Entlastung pflegender Angehöriger
8.3 Möglichkeiten zur Verbesserung in stationären Einrichtungen

9 Empirische Untersuchung zur Lebensqualität anhand des Dementia Care Mappings
9.1 Beschreibung der eigenen Motivation zur Durchführung der Beobachtung
9.2 Erläuterungen zu den Einrichtungen
9.2.1 Hausgemeinschaft in Wetter
9.2.2 Altenpflegeheim St. Hildegard in Offenbach
9.3 Die Methode – Das Dementia Care Mapping
9.4 Beschreibung der Beobachtungskriterien
9.4.1 Kodieren von Verhaltenskategorien
9.4.2 Kodieren personaler Detraktionen
9.4.3 Besonderheiten bei der Beobachtung der Verhaltenskategorien
9.5 Auswertung der Beobachtung
9.5.1 Individuelle WIB Punktzahl
9.5.2 Die gruppenbezogene WIB-Punktzahl
9.5.3 Individuelles WIB- Wert- Profil
9.5.4 Gruppenbezogenes WIB-Wert Profil
9.5.5 Individuelles Verhaltensprofil
9.5.6 Gruppenbezogenes Verhaltensprofil
9.5.7 Übergreifende Pflege-Kennziffern
9.5.8 Personale Detraktionen
9.6 Zusammenfassende Bewertung
9.7 Anmerkungen zur Methode

10 Fazit

11 Vorschläge zur Verbesserung der Lebensqualität bei Menschen mit Demenz
11.1 Stationäre Einrichtungen:
11.2 Häusliche Versorgung:
11.3 Politische Forderungen:

12 Literaturverzeichnis

13 Anhang

Abbildungsverzeichnis

Tab. 1: Häufige Verhaltensstörungen bei Demenz

Tab. 2: Prävalenz von Demenzerkrankungen

Abb. 1: Kitwood`s Modell der psychischen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz

Abb. 2: Einflussfaktoren auf die Lebenssituation dementer Menschen

Abb. 3: Aufgabenverteilung hinsichtlich Hauswirtschaft, Pflege und Verwaltung

Abb. 4: Individuelles WIB-Wert-Profil – Hausgemeinschaft

Abb. 5: Individuelles WIB-Wert-Profil – Altenpflegeheim

Abb. 6: Gruppenbezogenes WIB-Wert-Profil – Hausgemeinschaft

Abb. 7: Gruppenbezogenes WIB-Wert-Profil – Altenpflegeheim

Abb. 8: Individuelles Verhaltensprofil – Hausgemeinschaft

Abb. 9: Individuelles Verhaltensprofil – Altenpflegeheim

Abb. 10: Gruppenbezogenes Verhaltensprofil – Hausgemeinschaft

Abb. 11: Gruppenbezogenes Verhaltensprofil – Altenpflegeheim

1 Einleitung

Eine Demenz ist die im Alter am häufigsten auftretende psychische Erkrankung. Werden in der medizinischen Forschung in nächster Zeit keine durchschlagenden Erfolge bei der Therapie oder Prävention erreicht, so wird die Zahl der an Demenz erkrankten Menschen aufgrund der prognostizierten demografischen Entwicklung in den nächsten Jahren weiter ansteigen. Demenzerkrankungen sind dabei aber nicht nur ein medizinisches Problem sondern reichen mit ihren Wirkungen weit in familiale, soziale und gesellschaftliche Strukturen hinein.

Demenzerkrankungen bringen für alle Betroffenen, den Kranken selbst wie für sein soziales Umfeld, viele Einschränkungen, Belastungen und Probleme mit sich. Die Erkrankung führt bei den Betroffenen allmählich zu starken kognitiven Einbußen, Hilflosigkeit in der Alltagsbewältigung sowie zu einer Behinderung der selbständigen Lebensführung. Somit haben die Beeinträchtigungen einen gravierenden Einfluss auf alle Bereiche des Lebens und werden zu einem bestimmenden Element von Lebensgestaltung und Lebensqualität. Oft wird erwähnt, dass eine Demenzerkrankung eine Minderung der Lebensqualität darstellt bzw. dass Demenzkranke gar keine Lebensqualität mehr besitzen würden. Auch stellt sich die Frage, ob durch die zunehmende Abhängigkeit der Demenzkranken es nicht verfehlt ist, im Umgang mit dementiell erkrankten Menschen von Selbstbestimmung und Selbständigkeit zu reden. Oft wird dementiell erkrankten Menschen abgesprochen eigene Entscheidungen treffen zu können bzw. sie werden in vielen Dingen gar nicht erst gefragt.

Die meisten dementiell erkrankten Menschen werden zu Hause versorgt, was zu erheblichen Belastungen bei den pflegenden Angehörigen führt. Aber auch innerhalb stationärer Einrichtungen nehmen Demenzkranke mittlerweile eine dominierende Rolle ein während ein Großteil der Heime für diese Personengruppe keine optimale Versorgung sichern kann. Das Anliegen meiner Arbeit ist es aufzuzeigen, welche Probleme aus diesen vielfältigen Beeinträchtigungen einer Demenzerkrankung bei der Erhaltung von Lebensqualität und Selbstbestimmung im stationären wie im häuslichen Bereich entstehen können und wie Lebensqualität und Selbstbestimmung (trotz der oft erheblichen Einschränkungen der Betroffenen) gefördert werden kann. Es stellt sich die Frage, wie pflegende Angehörige entlastet und die Lebensqualität der Betroffenen sowie der pflegenden Angehörigen gesteigert werden können. Gleichzeitig gewinnt die Frage an Bedeutung, wie die Versorgungsstrukturen in den Einrichtungen beschaffen sein müssen, um den wachsenden Versorgungs- und Betreuungsansprüchen der Erkrankten bedarfsgerecht zu entsprechen. Ich möchte dabei auch auf eine vielversprechende neue Versorgungsform, die Hausgemeinschaft, eingehen.

Im zweiten Kapitel setze ich mich mit dem Begriff der Demenz auseinander. Dies beinhaltet Grundlagen über die Demenz, d.h. die historische Entwicklung des Demenzbegriffs, das Krankheitsbild der Demenz, Prävalenz und Risikofaktoren sowie Aspekte der medikamentösen Therapie.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit den Demenzsymptomen und deren Konsequenzen für das Umfeld. Ich möchte detaillierter darstellen, welche kognitiven Veränderungen bei einer Demenz auftreten können und welche Folgen dies für den Betroffenen selber sowie für sein Umfeld haben kann.

Im vierten Kapitel beschäftige ich mich mit der Lebensqualität von Menschen mit Demenz. Ich möchte Faktoren aufzeigen, die bei der Erfassung der Lebensqualität und dem Wohlbefinden bei dementen Menschen problematisch werden können. Weiterhin möchte ich verschiedene Sichtweisen über die Bedürfnisse und Wünsche von Menschen mit Demenz darstellen.

Im fünften Kapitel setze ich mich mit der Problematik des Selbstbestimmungsrechts bei demenzkranken Menschen auseinander. Dies beinhaltete auch eine kurze Darstellung der Begriffe von Selbständigkeit und Individualität.

Das sechste Kapitel beschäftigt sich mit den Aspekten des Wohnens. Ich möchte die Wichtigkeit des Wohnumfeldes auf dementiell erkrankten Menschen hervorheben sowie auf die derzeitige Wohn- und Versorgungssituation eingehen. Dieses Kapitel zeigt die häusliche Versorgungssituation sowie die Situation dementer Menschen in stationären Einrichtungen.

Das siebte Kapitel stellt die Problematik demenzkranker Menschen in Bezug auf die Einstufungen der Pflegeversicherung dar. Ich möchte aufzeigen, welchen Einfluss die Pflegeversicherung auf die Versorgungssituation dementiell erkrankter Menschen hat.

Das achte Kapitel zeigt Möglichkeiten zur Verbesserung der Lebensqualität bei Menschen mit Demenz. Ich gehe dabei auf verschiedene Interventionsmethoden, Entlastung pflegender Angehöriger sowie auf die Verbesserung stationärer Einrichtungen am Beispiel von Hausgemeinschaften ein.

Das neunte Kapitel beinhaltet eine empirische Untersuchung zur Lebensqualität bei Menschen mit Demenz. Ich versuche mit Hilfe der Methode des Dementia Care Mappings die Lebensqualität von demenzkranken Menschen in zwei verschiedenen Einrichtungen (Hausgemeinschaft und konventionelles Altenpflegeheim) darzustellen.

Im zehnten und elften Kapitel ziehe ich ein Fazit und mache Verbesserungsvorschläge für die Versorgung von Menschen mit Demenz.

2 Der Begriff Demenz

Der Begriff „Demenz“ leitet sich aus dem Lateinischen von dementia ab und setzt sich aus den beiden Wortteilen „de“= weg und „mens“ (Genitiv mentis) = Geist, Verstand zusammen (vgl. Klie 2002, S. 36).

2.1 Historische Entwicklung des Demenzbegriffs

Die frühesten Hinweise auf altersbedingte kognitive Einschränkungen finden sich schon in der Antike. Zur Zeit Platons wurde eine altersbedingte kognitive Beeinträchtigung berücksichtigt indem eine Schuldunfähigkeit für Geisteskranke oder extrem Alte eingeführt wurde. Es wurde zwischen psychischen Störungen, die im Gefolge von Körperkrankheiten auftraten, und solchen ohne Körperstörungen unterschieden. Hippocrates (460-375 v.Chr.) ordnete die „Phrenitis“ oder das „Delirium“ einer akuten cerebralen Erkrankung zu, die mit körperlichen Erscheinungen verbunden war. Celsus (25 v.Chr.-50 n.Chr.) führte die Begriffe „Delirium“ und „Demenz“ ein, die er auf akute Gehirnerkrankungen bezog. Aretaios von Kappadokien unterschied bereits zwischen akuten und chronischen Geistesstörungen und erwähnte chronische senile Beeinträchtigungen, die im höheren Alter beginnen (vgl. Zaudig 1995, S. 38).

Etwa 129-199 n. Chr. beschrieb Galen von Pergamom ein Krankheitsbild, das er „Morosis“ nannte. Typische Symptome dieser Krankheit wären Gedächtnisstörungen bis zur Unwissenheit des eigenen Namens, die bis zur extremen Verblödung führen würden. Die Demenz sei dem Delir ähnlich, jedoch chronisch (vgl. Zaudig 1995, S. 38).

Im Mittelalter wurden Geisteskrankheiten als Besessenheit von Dämonen oder dem Teufel angesehen. Etwa 1240 schrieb Roger Bacon eine Thesis über die Verlängerung des Lebens und studierte die arabischen Meister des Galenismus. Er zitierte die Feststellungen, dass im hinteren Teil des Hirns das Gedächtnis sitze und die Vergesslichkeit typisch für das Alter wäre. Willis (1621-1675) bezog sich auch auf Galen, vertrat aber die Auffassung, dass Geisteskrankheiten durch einen Fehler im Gehirn verursacht werden.

Erst in den Jahren 1793-1845 wurde die senile Demenz neu entdeckt und so gründlich beschrieben wie niemals zuvor. 1793 schrieb Benjamin Rush über Demenz: „It would be sufficiently humbling to human nature if our bodies exhibited in old age the marks only of a second childhood; but human weakness descends still lower. I met with an instance of a woman between 80 and 90 who exhibited the marks of a second infancy, by such a total decay of her mental faculties as to lose all consciousness in discharging her alvine and urinary excretions. In this state of the body, a disposition to sleep succeeds the wakefulness of the first stages of old age” (Zaudig 1995, S.39).

Jean-Etienne Esquirol (1771-1840) definierte 1837 Demenz als eine cerebrale Erkrankung, die durch eine Herabsetzung der Vernunft, des Verstandes und des Willens gekennzeichnet war und bei der Gedächtnis, Urteilsvermögen und Aufmerksamkeit vermindert waren. Er unterschied die akute, die chronische und die senile Demenz. 1795 wurden zum ersten Mal ventrikuläre Erweiterungen des Gehirns von Baillie beschrieben. 1864 wurde zum ersten Mal der Begriff „Atrophie“ für den Abbau von Gehirnsubstanz benutzt. Wilks verfasste eine genaue Beschreibung und Definition der Hirnatrophie und bewirkte, dass diese als ein typisches neuropathologisches Merkmal aufgefasst wurde. 1890 übernahm Kraeplin von Esquirol die Bezeichnung senile Demenz und bezog sie auf arteriosklerotische Prozesse mit und ohne Infarkte (vgl. Zaudig 1995, S. 40). Es wurden psychische Veränderungen festgestellt, wie z.B. unzufriedene Stimmung, Starrsinn, rastlose Unruhe, apathisches Verhalten mit deutlicher Erschwerung der Auffassung, des Gedankenablaufs und der Reproduktionsfähigkeit. 1906 beschrieb Alzheimer eine Krankheit der mittleren Lebensjahre, bei der es zu einer fortschreitenden Beeinträchtigung und Veränderung des Verhaltens kommt. Die beschriebene 51jährige Person entwickelte Wortfindungsstörungen, es stellten sich aphasische, agraphische und apraktische Erscheinungen ein. In der Hirnautopsie stellte Alzheimer neben einer allgemeinen diffusen Atrophie des Gehirns und einem Verlust an Ganglienzellen vor allem das Vorhandensein zahlreicher histopathologischer Veränderungen, spezifischen Fibrillenveränderungen und senilen Plaques fest. Es wurde angenommen, dass diese Form der präsenilen Demenz als eine sehr seltene Form anzusehen ist. Erst in den sechziger Jahren zeigten autoptische Untersuchungen, dass die Alzheimersche Krankheit den häufigsten Demenztyp bildet. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde der Begriff der Demenz hauptsächlich im Sinne einer irreversiblen und für gewöhnlich unerbittlich fortschreitenden organisch bedingten psychischen Störung gebraucht (vgl. Zaudig 1995, S.41).

2.2 Krankheitsbild Demenz

Die genauen Kriterien von Demenz werden im ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases) beschrieben. Darin ist ein dementielles Syndrom durch „eine progrediente Verschlechterung mehrerer kognitiver Funktionen bei einem bewusstseinsklaren Patienten“ gekennzeichnet. Leitsymptome sind Kurzzeit- und Langzeitgedächtnisstörungen bis hin zu Störungen der Orientierung (zur Zeit, zum Ort, zur Person und zur Situation).

Definition der Demenz nach Kriterien der ICD-10:

- Abnahme von Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis
- Abnahme des abstrakten Denkvermögens
- Abnahme von Urteilsvermögen, Planungs- und Organisationsvermögen sowie andere Störungen höherer kortikalen Funktionen wie Aphasie, Agnosie, visuopatiale Fähigkeiten
- Keine Störung der Bewusstseinslage
- Beeinträchtigung der Affektkontrolle, des Antriebs oder des Sozialverhaltens
- Symptome bestehen seit mindestens 6 Monaten

2.3 Formen der Demenz

Der Oberbegriff „Demenz“ umfasst eine Reihe von Krankheitsbildern verschiedener Ursache und unterschiedlichen Verlaufs. Es gibt ca. 60 verschiedene Demenzformen. Ich möchte nun die häufigsten Formen einer Demenz vorstellen.

2.3.1 Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT)

Die häufigste Form einer Demenzerkrankung ist mit ca. 50-60 % die Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT). Bei der Alzheimer-Demenz kommt es im irreversiblen Krankheitsprozess zu degenerativen Veränderungen der Gehirnnervenzellen. Diese Erkrankung führt zu einem Verlust von Nervenzellen und damit zum Abbau der Hirnsubstanz (vgl. Hahn 1995, S. 47). Weiterhin wurde herausgefunden, dass Menschen mit einer Alzheimer-Erkrankung einen Mangel an bestimmten Neurotransmittern aufweisen, dies betrifft in besonderem Maße Acetylcholin (vgl. Mace/Rabins 1991, S. 238). Dieser Überträgerstoff wird in einer tiefer liegenden Gehirnstruktur, dem Meynert-Basalkern erzeugt. Der Meynert-Basalkern ist bei einer Alzheimer-Krankheit wesentlich betroffen. Dies bewirkt, dass Acetylcholin nur noch reduziert hergestellt wird und Informationen nicht mehr uneingeschränkt von einer zur nächsten Zelle weitergeleitet werden können. Diese gestörte Informationsverarbeitung und -weiterleitung kann zum Gedächtnisverlust führen (vgl. Kuratorium Deutscher Altershilfe[1] 2001, S. V/7).

Weiterhin lassen sich Faser-Ablagerungen mit abnorm veränderten Eiweiß-Bruchstücken, den so genannten neurofibrillären Bündel, im Gehirn nachweisen. Bilden sich verstärkt solche Ablagerungen zwischen den Nervenzellen, so unterbrechen sie die Kommunikation der Zellen und führen zu deren Absterben (vgl. Mielke & Kessler 1994, S. 24).

Eine andere Form der Eiweißablagerungen zwischen den Nervenzellen stellen die (senilen) Plaques dar. Diese Ablagerungen verschlechtern die Durchlässigkeit der Blutgefäße und führen zu Störungen der Sauerstoff- und Energieversorgung des Gehirns (vgl. KDA 2001, S. V/7). Die Ursachen für die Veränderungen bei der Demenz vom Alzheimer-Typ sind bis heute nicht eindeutig geklärt.

Der Verlauf der Alzheimer Krankheit ist durch einen schleichenden Beginn und eine langsam progrediente Verschlechterung der intellektuellen Fähigkeiten charakterisiert (vgl. Bundesministerium für Gesundheit[2] 1999, S.19). Am Anfang äußert sich die Krankheit weitgehend durch Gedächtnis- und Orientierungsstörungen, in den folgenden Jahren treten auch Sprachstörungen (Aphasie), Erkennungsstörungen (Agnosie) und Schwierigkeiten bei zweckgerichteten Bewegungen, Gesten und Handlungen (Apraxie) auf. In der terminalen Phase kommen Inkontinenz, Gangunfähigkeit und Bettlägerigkeit dazu (vgl. Meier 1995, S. 27).

2.3.2 Vaskuläre Demenz

An zweiter Stelle unter den Demenzerkrankungen steht mit ca. 15-20 % die vaskuläre Demenz (vgl. Bm G 1999, S. 17). Die vaskuläre Demenz steht als Oberbegriff für verschiedene Formen gefäßbedingter Demenzen. Die Krankheitssymptome einer vaskulären Demenz sind denen einer Alzheimer-Krankheit sehr ähnlich. Allerdings ist bei dieser Form der Demenz häufig ein plötzlicher Beginn, eine stufenförmige Verschlechterung und ausgeprägte Schwankungen der Leistungsfähigkeit zu beobachten (vgl. Bm G 1999, S. 27).

Eine Möglichkeit der vaskulären Demenz ist die Multi-Infarkt-Demenz (MID) (vgl. Zaudig 1995, S. 124). Bei der MID kommt es sekundär auf Grund von Hirndurchblutungsstörungen in Verbindung mit zahlreichen Infarktherden in kleineren Hirnarterien zum Abbau von Nervengewebe (vgl. Hahn 1995, S. 53). Für das Zustandekommen einer Demenz sind vermutlich Läsionen in beiden Hemisphären erforderlich (vgl. Zaudig 1995, S.121). Bei der MID finden sich multiple, meist bilaterale Infarkte mit Schwerpunkt im Versorgungsgebiet der Arteria cerebri media (vgl. Zaudig 1995, S. 122). Davon sind meist kortikale und subkortikale Hirnregionen betroffen. Während die Infarkte gewöhnlich klein sind und in ihrer Wirkung kumulieren, gibt es auch Demenzentwicklungen nach wenigen aber größeren Schlaganfällen (vgl. Zaudig 1995, S. 121). Die Ursachen sind meist Embolie oder Hypertonie. (vgl. Zaudig 1995, S. 123).

Die MID ist in ihren Ursachen besser bekannt und das Fortschreiten dieser Krankheit kann deshalb durch eine medikamentöse Behandlung leichter verhindert werden (vgl. Mace/Rabins 1991, S. 230). Dabei steht die Blutdruckeinstellung bei Hypertonikern im Vordergrund. Eine dadurch erreichte Durchblutungsförderung führt allerdings nicht mehr zu einer Verbesserung der Krankheitssymptome, es verändert lediglich deren weiteren Verlauf. An Medikamenten kommen hauptsächlich Thrombzytenaggregations-hemmer und bei Schlaganfallpatienten Calciumantagonisten in Betracht (vgl. Zaudig 1995, S. 125).

Morbus Binswanger ist eine andere Form der vaskulären Demenz und scheint häufiger vorzukommen als früher angenommen. Die Binswanger´sche Krankheit wird auch als progressive subkortikale vaskuläre Encephalopathie (PSVE) bezeichnet. Diese Erkrankung wird durch Zirkulationsstörungen in der weißen und in der zentralen subkortikalen grauen Substanz verursacht. Es sind neuropathologische Veränderungen zu beobachten, die hauptsächlich aus multiplen lakunären Infarzierungen in dem zentralen Kern und in tiefer gelegenen Markanteilen (besonders im frontalen Bereich) bestehen. In der benachbarten weißen Substanz kommt es zu ausgedehnten Erweichungen mit unterschiedlich ausgeprägten Ödemen. Die Folgen sind eine Reduktion von weißer Hirnsubstanz durch Narbenbildung und Ventrikelerweiterung. Die penetrierenden und andere kleine Gefäße zeigen angiopathische Einengungen oder Verschlüsse (Embolie), meist aufgrund einer Hypertonie (vgl. Zaudig 1995, S. 123). Die PSVE verläuft oft schubweise und weist eine häufig subakute Häufung kognitiver und neurologischer Störungen auf. Dazu zählen Persönlichkeitsveränderungen, Konzentrationsmangel, Gedächtnisstörungen, Kritiklosigkeit, Enthemmung und Affektinkontinenz. Neurologische Störungen betreffen hauptsächlich Gangapraxie und Harninkontinenz. Diese zählen zu Frühsymptomen und nehmen mit der Schwere der Krankheit allmählich zu (vgl. Zaudig 1995, S.126).

2.3.3 Andere spezifische Demenzen:

Weiterhin gibt es noch ca. 10% Mischformen von Demenzerkrankungen, die sich nicht eindeutig der Demenz vom Alzheimer-Typ oder der vaskulären Demenz zuordnen lassen. Lediglich 5-10% der Demenzen gehen auf seltene Erkrankungen des Gehirns zurück (z.B. Pick`sche Krankheit, Jacob-Creutzfeld`sche Krankheit, Frontotemporale Demenz etc.) (vgl. Erlemeier 1998, S. 178). Jüngste Studien gehen davon aus, dass eine besondere Form der Demenz, die senile Demenz vom Lewy-Körperchen-Typ (SDLT), in einem größeren Ausmaß vorliegt als vorher angenommen (vgl. Zaudig 1995, S. 129). Aber die Aussagen über die Häufigkeit verschiedener Demenzen (besonders seltener Demenzerkrankungen) sind oft sehr unterschiedlich und es lassen sich keine eindeutigen Aussagen darüber machen.

Es ist zu betonen, dass die Symptome der Demenzerkrankungen zwar teilweise vergleichbar sind, in den Folgen jedoch individuell, d.h. abhängig von der Persönlichkeit der dementen Person, von seiner Biografie und seiner Umwelt (vgl. Hirsch 2001, S. 129). Zu häufig wird diesen Kranken abgesprochen, dass sie über vielfältige und reichhaltige Kompetenzen verfügen, die nur in einzelnen Bereichen eingeschränkt, verzerrt oder kaum noch vorhanden sind und erheblich von ihrer Umwelt beeinflusst werden (vgl. Hirsch 2001, S. 130). Ein einförmiges Demenzsyndrom findet sich, wenn überhaupt, erst in den Endstadien. Bis dahin hat die dementielle Erkrankung in jedem Einzelfall ein sehr persönliches und unverwechselbar geprägtes Erscheinungsbild (vgl. Fuhrmann et al. 1996, S. 30).

2.4 Sekundäre Demenzsymptome / Verhaltensstörungen

Bei einer Demenzerkrankung sind nicht nur die kognitiven Funktionen beeinträchtigt, es kommt auch häufig zu multiplen Störungen der Wahrnehmung, des Affekts, des Antriebs und der Persönlichkeit (vgl . Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend[3] 2002a, S. 165). Bei Alzheimerkranken wurde schon im frühen Krankheitsstadium Verhaltensstörungen beobachtet. Das häufigste Symptom ist Unruhe, gefolgt von Aggression, Wahnphänomenen, Angst, Depression und Halluzinationen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S.173).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab. 1: Verhaltensstörungen bei Demenz (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 173)

Für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sind diese Sekundärsymptome nicht nur eine Folge degenerativer Prozesse im Gehirn, sondern auch Ausdruck ihres engen Wechselspiels mit psychosozialen Einflüssen, der Persönlichkeit und den noch vorhandenen Konfliktbewältigungsstrategien (Bm FSFJ 2002a, S. 165).

Kitwood sieht Verhaltensstörungen nicht als „Störung“ an sondern benennt es mit herausforderndem Verhalten. Verhaltensstörungen werden, seiner Meinung nach, einseitig als „Symptome“ einer Erkrankung fehlbeschrieben, die als Anlass genommen werden für ruhig stellende Medikation oder fixierende Maßnahmen. Nach Kitwood besteht das Problemfeld Demenz nicht in dem Kranken, der die Demenz hat, sondern aus einer gestörten Interaktion und Kommunikation zwischen dementiell Erkrankten und den betreuenden Menschen (vgl. Müller-Hergl 2001, S. 253). Verhaltens- auffälligkeiten sind für Kitwood Ausdruck für Missverständnisse und Störungen im sozialen Umfeld und Milieu. Herausforderndes Verhalten sollte daher als Kommunikationsversuch derer verstanden werden, die verstanden werden wollen (vgl. Müller-Hergl 2001, S. 252). Die meisten Verhaltensstörungen lassen sich durch entsprechende Gestaltung der Umgebung und des Umgangs mit Demenzkranken auch ohne Psychopharmaka gut behandeln (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 174).

2.5 Demografische Aspekte und Prävalenz

Den Prognosen zufolge wird sich die Bevölkerungsstruktur in den nächsten Jahrzehnten grundlegend verändern. Die geburtenstarken Jahrgänge aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg werden älter, die Lebenserwartung der Bevölkerung steigt bzw. die Sterblichkeit sinkt während die Zahl der Geburten in den letzten Jahren zunehmend zurück geht (vgl. Scheidt/Eikelbeck 1995, S. 4). Dies hat zur Folge, dass die Bevölkerungszahl insgesamt zurückgehen wird. Auch die Struktur der Zusammensetzung ändert sich: Die Zahl der Menschen über 60 Jahre wird stark zunehmen, besonders stark steigt die Zahl der über 80jährigen an während die Zahl der unter 20jährigen weiter abnimmt (vgl. Scheidt/Eikelbeck 1995, S. 5). Die dramatische Zunahme der Hochaltrigen führt durch die gleichzeitige Abnahme der Bevölkerungsgruppe im erwerbsfähigen Alter und dem Fehlen nachwachsender Generationen zum Ende der gegenwärtigen sozialen Sicherungssysteme durch die Familie (vgl. Hallauer 2002, S. 16). Durch den demografischen Wandel und die Umorientierung in der Lebensplanung von Frauen (z.B. Berufstätigkeit) wird es einen Mangel an Familienhelfern und pflegenden Angehörigen geben bei gleichzeitig mehr Pflegebedarf bei den zunehmend Hochbetagten. Dies führt zu einem erhöhten Bedarf an professionellen Helfern im ambulanten, teilstationären und stationären Bereich (vgl. Erlemeier 1998, S. 133).

Die demografischen Veränderungen wirken sich auch auf die Häufigkeit von Demenzerkrankungen aus. Mit der steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung nimmt auch die Wahrscheinlichkeit zu an einer Demenz zu erkranken. Da das Auftreten einer Demenzerkrankung stark altersabhängig ist, wird prognostiziert, dass die Zahl der Demenzkranken sich von derzeit ca. 1,13 Mio. im Jahr 2050 auf ca. 2,8 Mio. erhöht (vgl. Hallauer 2002, S. 16).

Die Bestimmung der Prävalenz dementieller Erkrankungen dient vor allem dazu, den Behandlungs- und Versorgungsbedarf in der Bevölkerung zu veranschaulichen (vgl. Bickel 2002, S. 10). Die Gesamtprävalenz bei den über 65jährigen in Deutschland liegt zwischen 6,0% und 8,7%. Die mittlere Prävalenzrate liegt bei 7,1%. In absoluten Zahlen bedeutet dies, dass in Deutschland zwischen 0,8 und 1,1 Mio. Menschen an einer Demenz erkrankt sind. Demenzen können auch in jüngeren Jahren auftreten, doch die Prävalenz präseniler Demenzen ist sehr niedrig. Das Vorkommen dieser speziellen Demenzform beträgt weniger als 0,1% bei den 40-64jährigen. Die Gesamtzahl der präsenil Erkrankten wird auf ca. 20.000 Menschen geschätzt (vgl. Bickel 2002, S. 11).

Studien zeigten, dass die Prävalenz mit dem Alter deutlich zunimmt. Sie liegt bei den 65-69jährigen bei etwa 1% und verdoppelt sich nach jeweils fünf Altersjahren annähernd exponentiell. Die Prävalenzrate steigt bei den 80-84jährigen auf mehr als 13% und beträgt bei den über 90jährigen rund 33% (vgl. Bickel 2002, S. 11).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab.2: Prävalenz von Demenzerkrankungen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 167)

2.6 Risikofaktoren

Der unbestrittene Hauptrisikofaktor für das Demenzsyndrom ist das Alter (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 169). Zusätzlich spielt das weibliche Geschlecht als Risikofaktor eine bedeutsame Rolle, was jedoch lediglich auf die höhere Lebenserwartung der Frauen zurückzuführen ist (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 170). Weitere Risikofaktoren werden noch heftig diskutiert, konnten bisher aber noch nicht eindeutig nachgewiesen werden.

Ein Diskussionsansatz für die Manifestation einer Alzheimer-Demenz stellt der genetische Vererbungsprozess dar. Es konnte kein Zusammenhang zwischen „Familiarität“ und Erkrankungsrisiko gefunden werden . Ein autosomal dominanter Vererbungsmodus war bei der seltenen Chorea Huntington-Krankheit sowie bei vaskulären Demenzen zu finden. Nur bei wenigen Familien mit dem Phänotyp einer präsenilen Alzheimer-Krankheit waren autosomal dominante Mutationen festzustellen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 170). Eine bedeutsame Rolle spielen dabei drei verschiedene Gene zur Synthese des Bluteiweißes Apolipoprotein E (Apo E2, Apo E3, Apo E4). Die Unterschiede im Bauplan sind minimal, denn mit Hilfe der drei Gene entstehen funktionsfähige Eiweiße, die bestimmte Fette im Blut transportieren. Jede menschliche Zelle verfügt über zwei Kopien der Apo E-Gene, d.h. es können sechs unterschiedliche Kombinationen auftreten (vgl. Gesundheitsbrockhaus 2001, S. 201). Eine besondere Rolle dabei spielt das Gen Apo E4. Das Vorliegen der Isoform Apo E4 stellt ein höheres Risiko dar an einer Demenz zu erkranken während die Isoformen Apo E2 und Apo E3 eine Demenz verhindern können (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 170). Diese Isoformen des Apo E-Gens sind in der Bevölkerung nicht gleich verteilt. Die ungünstige Kombination Apo E4/4 tragen nur etwa 2 Prozent der Bevölkerung in Europa und den USA in sich. Davon sind ca. 80% der über 75jährigen Menschen an Alzheimer erkrankt. Das Apo E3/4-Gen besitzt jeder fünfte in der Bevölkerung. Dabei sind nur noch 60% der über 75jährigen erkrankt, bei Apo E2/2-Trägern nur noch 5% (vgl. Gesundheitsbrockhaus 2001, S. 201).

Auch depressive Erkrankungen in der Vorgeschichte spielen bei der Diskussion über die Risikofaktoren eine Rolle. Depressionen könnten das Risiko einer Manifestation von Demenzerkrankungen erhöhen. Jedoch konnten Depressionen nicht eindeutig als Prädiktor späterer Demenzerkrankungen bestätigt werden. Teilweise können sie eher als frühes Symptom einer Demenz gedeutet werden (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 170).

Weitere kontrovers diskutierte organische Risikofaktoren für Demenzerkrankungen sind Schilddrüsenerkrankungen, Aluminium, Zink, Alkohol, Umwelttoxine und Magnetfelder.

Die Entwicklung vaskulärer Demenzen ist dagegen eindeutiger geklärt. Risikofaktoren für eine vaskuläre Demenz stellen Bluthochdruck, erhöhte Blutfette, Diabetes mellitus, erhöhter Harnsäuregehalt des Blutes, Atheromatose (degenerativ-nekrotisierende Veränderungen der Arterien bei Atherosklerose) und andere Gefäßerkrankungen dar. Weiterhin wurde auch hier ein Zusammenhang des Proteins Apo E4 und dem Entstehen einer vaskulären Demenz bestätigt (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 170).

2.7 Medikamentöse Therapie

Die Diagnostik bei Demenzerkrankungen spielt eine große Rolle. Oft werden psychische Erkrankungen im Alter gar nicht oder nicht rechtzeitig diagnostiziert und somit gar nicht oder nur unzureichend behandelt (vgl. Bm FSFJ 2001a, S. 97). Untersuchungen zur Anwendungshäufigkeit von Medikamenten in Altenheimen zeigten, dass nur etwa 10% der Demenzkranken Antidementiva verordnet bekamen, aber 50% Neuroleptika, was wahrscheinlich auf den sedierenden Effekt von Neuroleptika zurückzuführen ist (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 294).

Das Krankheitsbild Demenz geht meist mit der Zerstörung von Gehirnzellen einher und ist deswegen nicht heilbar. Ziele der medikamentösen Therapie können deshalb nur eine Stabilisierung von kognitiven Fähigkeiten und die Verbesserung des Gesamtzustands der Betroffenen sein (vgl. Klie 2002, S. 46). Angestrebt wird eine Minimierung von Risikofaktoren und der Krankheitsauslöser (vgl. Frölich 2000, S. 22). Eine Behandlung wäre dann als erfolgreich anzusehen, wenn es gelingt, die Auswirkungen der Krankheit zu mildern bzw. das Fortschreiten der Krankheit zu verhindern (vgl. Klie 2002, S. 46).

Eine kausale Therapie der Erkrankung gibt es wie oben erwähnt bislang noch nicht. Jedoch konnte seit einigen Jahren gezeigt werden, dass durch spezifisch wirksame Therapien wie z.B. die medikamentöse Behandlung mit Acetylcholinesterasehemmern das Fortschreiten der Krankheitssymptome und somit auch die Institutionalisierung der Patienten verzögert werden konnte (vgl. Hallauer et al 2002, S. 21).

Bei der medikamentösen Therapie der Demenz unterscheidet man zwei Formen: einerseits Antidementiva, die das dementielle Kernsyndrom mit Gedächtnis- und Orientierungsstörungen angehen, andererseits Psychopharmaka bzw. Neuroleptika, die häufige Verhaltenssymptome wie z.B. Wahnvorstellungen und Unruhe behandeln helfen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 293).

2.7.1 Antidementiva / Nootropika

Antidementiva (oder auch die ältere Bezeichnung Nootropika) sind zentralnervös wirksame Arzneimittel, die höhere integrative Hirnfunktionen verbessern sollen. Diese Hirnfunktionen beinhalten das Gedächtnis, Lernen, Auffassungs-, Denk- und Konzentrationsfähigkeit (vgl. Demling/Kornhuber 2002, S. 40). Dabei gibt es zugelassene Substanzen, die sich in ihrem Wirkmechanismus unterscheiden. So gibt es Substanzen, die primär zur Stoffwechselförderung beitragen (z.B. Piracetam), Radikalfänger wie z.B. Ginkgo bilboa und transmitterspezifische Substanzen wie Kalzium-Antagonisten, Cholinesterasehemmer (ACh E-Hemmer) oder Substanzen, die auf das NMDA-System Einfluss nehmen (4. Altenbericht, S. 294). Die meist verordneten Medikamente sind die ACh E-Hemmer (z.B. Donezepil, Rivastigmin) (vgl. Demling/Kornhuber 2002, S. 46). Ziel der ACh E-Hemmer ist Beseitigung des Defizits in der cholinergen Signalübertragung und die Vermehrung des Neurotransmitters Acetylcholin durch die Verhinderung seines Abbaus (vgl. Gutzmann 2003, S. 57). Die Inaktivierung von Acetylcholin soll damit gebremst und die Informationsweiterleitung zwischen den Nervenzellen gefördert werden (vgl. KDA 2001, S. IV/13).

2.7.2 Psychopharmaka

Die am häufigsten verordneten Psychopharmaka sind Tranquilizer, dabei spielen die so genannten Benzodiazepine eine große Rolle (vgl. Wächtler 2003, S. 7). Sie sollen beruhigend, angstlösend und schlafanstoßend wirken (vgl. KDA 2001, S. IV/11). Doch besonders bei Patienten mit Demenz können Benzodiazepine eine unerwünschte Sedierung bis hin zur Verstärkung kognitiver Störungen bewirken (vgl. Wächtler 2003, S. 7).

An zweiter Stelle der Psychopharmaka stehen die Neuroleptika. Diese werden unterschieden in „niederpotente“ und „hochpotente“ Neuroleptika. Niederpotente Neuroleptika wirken sedierend, d.h. dämpfend bei Unruhe, Angst und Erregung. Hoch-potente Neuroleptika wirken weniger dämpfend und werden hauptsächlich bei Psychosen verwendet (vgl. KDA 2001, S. IV/12). Auch bei Neuroleptika muss berück-sichtigt werden, dass sie gerade tagsüber unerwünscht sedieren, kognitive Störungen erhöhen und die Gangsicherheit verringern können (vgl. Wächtler 2003, S. 7).

2.7.3 Erfolge der medikamentösen Therapie

Die Behandlung mit Antidementiva kann eine vorübergehende Besserung der dementiellen Symptome ermöglichen. Auch eine Verlangsamung bzw. das vorübergehende Sistieren des klinischen Prozesses („stabilisierender Effekt“) muss als Therapieerfolg der (medikamentösen) Intervention gewertet werden. Nach sechs Monaten Behandlungsdauer mit ACh E-Hemmern traten bei 30% der Patienten eine Besserung, bei 40% eine Stabilisierung und bei 30% eine Verschlechterung auf. Langzeitstudien zeigen signifikante Vorteile gegenüber fehlender Behandlung auch noch nach zwei Jahren. Mit der medikamentösen Therapie ließ sich die wöchentliche Pflegezeit verringern und eine Heimunterbringung konnte um ein bis zwei Jahre hinausgezögert werden (vgl. Demling/Kornhuber 2002, S. 44). Das Bundesministerium betont, dass durch die Gabe von Antidementiva nicht nur die Belastungen für die Betreuenden reduziert wird, sondern auch die persönliche Selbstbestimmung des demenzkranken Menschen länger erhalten bleibt (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 301). Bessere Ergebnisse können aber erreicht werden, wenn die medikamentösen Interventionen in ein therapeutisches Gesamtkonzept integriert werden und die Behandlung schon in einem frühen Stadium des Erkrankungsprozesses eingeleitet und über mehrere Jahre fortgesetzt wird (vgl. Demling/Kornhuber 2002, S. 44).

Bei der Psychopharmakotherapie sollte immer überprüft werden, ob eine Pharmakotherapie überhaupt notwendig ist (vgl. Wächtler 2003, S. 6). Wächtler betont, dass eine Verabreichung von Psychopharmaka häufig entbehrlich sei wenn stattdessen Gespräche geführt oder psychosoziale Maßnahmen eingeleitet werden (vgl. Wächtler 2003, S. 7). Ist die Verabreichung unumgänglich, sollten die Präparate nur kurzzeitig verordnet und niedrig dosiert werden, da die Gabe von Psychopharmaka oft dem Ziel der Erhaltung der Alltagskompetenz und der Aufrechterhaltung von Antrieb und Initiative zuwiderläuft (vgl. Frölich 2001, S. 24).

3 Demenzsymptome und deren Konsequenzen für das Umfeld

3.1 Die Welt der Demenzkranken

Um Menschen mit Demenz bei der Bewältigung krankheitsbedingter Probleme angemessen unterstützen zu können, ist es notwendig Einsicht über Veränderungen der Wahrnehmung, des Erlebens und der Reaktionen der Demenzkranken zu bekommen. Das Ergründen der inneren Welt eines stark kognitiv beeinträchtigten Menschen ist schwierig. Fundierte Aussagen lassen sich lediglich für die beginnende Demenz und ihre frühen Stadien finden. Diese werden mit zunehmendem Schweregrad der Erkrankung immer spekulativer (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 175).

Im Anfangsstadium treten Vergesslichkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und Fehlbeurteilungen von Situationen etc. auf. Die Betroffenen erleben dies oft bewusst und reagieren teilweise mit Ängsten und Verunsicherungen. Es fällt den Betroffenen schwer sich auf neue, unbekannte Situationen einzulassen. Der Erwerb von neuem Wissen oder das Erlernen neuer Strategien wird immer weniger möglich. Oft versuchen Menschen mit Demenz ihre Defizite vor der Umgebung zu verbergen, entwickeln Kompensationsmechanismen und reagieren überwiegend gereizt auf alle Hinweise eigenen Versagens. Manche von ihnen entwickeln depressive Symptome als Reaktion auf die Störungen, typischer ist jedoch eine Angstsymptomatik (vgl. Bm FSFJ 2002a, S.176). Mit dem Fortschreiten der Krankheit nehmen Angst, Panik, Desorientierung und Hilflosigkeit zu. Situationen, die nicht mehr bestimmbar bzw. überschaubar zu sein scheinen, sind oft der Auslöser für diese Reaktionen (vgl. Laade 2003, S. 100). Die Fähigkeit zu einer richtigen Einschätzung sozialer Zusammenhänge, zu moralischen Urteilen und zu schwierigen Entscheidungen ist stark beeinträchtigt. Vertraute und täglich gleiche Handlungsmuster entsprechende Aktivitäten bleiben aber relativ lange erhalten und ermöglichen dem Betroffenen eine selbständige Lebensführung (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 176).

Im mittleren Stadium einer Demenz nehmen die Betroffenen ihre Störungen nicht mehr wahr oder leugnen sie. Dies ist aber kaum auf eine fehlende Krankheitseinsicht oder intellektuelle Unfähigkeit zur richtigen Beurteilung eigenen Handelns zurückzuführen, sondern es sind wahrscheinlich Auswirkungen einer veränderten Selbstwahrnehmung. Die Betroffenen sind in diesem Stadium noch in der Lage, ihre Stimmung richtig zu beurteilen und einfache Angaben über ihre Lebensqualität zu machen, überschätzen jedoch erheblich ihre Fähigkeiten und Handlungskompetenzen. Die meisten von ihnen scheinen in einer früheren Zeit zu leben, sie halten sich für jung, leistungsfähig, berufstätig, gesund und selbständig und verhalten sich auch dementsprechend. Deswegen werden oft pflegerische Maßnahmen abgelehnt. Sie reagieren auf Zwang oder Bevormundung teilweise mit psychomotorischer Unruhe oder Aggressivität. Das Verhalten ist immer mehr durch früher erlernte Verhaltensmuster geprägt, die nicht mehr an die aktuelle Situation angepasst und modifiziert werden können. Die Betroffenen reagieren immer öfter spontan und befriedigen ihre Bedürfnisse ohne Rücksicht auf die sozialen Normen und Empfindungen anderer Personen. Sie spüren, dass ihr Leben ihnen aus der Hand gleitet und erleben permanent ihre Unfähigkeit, den Alltag zu bewältigen oder einfache Tätigkeiten auszuführen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 176). Mit zunehmender Hirnleistungsschwäche verstärkt sich die zeitliche, örtliche und situative Desorientierung und erzeugt emotionale Unsicherheit. Demente Menschen fühlen sich in ihrer Existenz erschüttert und vom Verlust ihrer Identität bedroht. Die Umgebung wird immer öfter als fremd erfahren und die Zahl „unbekannter“ Personen steigt. Die fehlende innere Sicherheit und der Mangel an Geborgenheit in der fremd erscheinenden Welt beeinträchtigt stark das Selbstvertrauen und erzeugt psychische Spannungen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 177). Bereits Menschen mit einer mittleren Ausprägung des Demenzsyndroms zeigen eine zunehmende Apraxie, d.h. die Unfähigkeit zur Umsetzung gedanklich vorgestellter motorischer Sequenzen in entsprechende Aktivitäten sowie eine starke Beeinträchtigung bei der intellektuelle Verknüpfung zwischen Gegenständen oder Begriffen mit passenden Handlungsabläufen. Auch die Verarbeitung von visuell-räumlichen Informationen kann gestört sein, so dass Demenzkranke die Richtung ihrer Bewegungen nicht richtig beurteilen können und sich somit auch in bekannter Umgebung verirren können (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 172). Die für das mittlere Stadium typische körperliche Unruhe kann ihre Ursachen im beschriebenen Verlust der inneren Sicherheit und der eigenen Identität sowie des zunehmenden Fremdheitsgefühls haben. Die verbalen Kommunikationsfähigkeiten verringern sich in diesem Stadium deutlich. Dementiell erkrankte Menschen versuchen ihre Unfähigkeit auf konkrete Fragen zu antworten zu überspielen, indem sie häufig Floskeln oder allgemeine Phrasen verwenden. Im mittleren und letzten Stadium der Krankheit haben die Betroffenen oft psychische Probleme durch Inkontinenz. Entweder sie spüren den Harndrang nicht mehr oder wissen nicht, wie man die Toilette findet, sich entkleidet oder wieder ankleidet. Dies bereitet oft Gefühle von Angst oder Scham. Die Betroffenen verfügen trotz schwerer Demenz noch über Fähigkeiten oder Fertigkeiten insbesondere im emotionalen Bereich. Dies kann sich in Blickwendungen, Singen von Volksliedern oder bei lebenslang durchgeführten Alltagstätigkeiten äußern. Besonders im mittleren und letzten Krankheitsstadium tauchen Erinnerungen aus den wichtigsten und besonders ereignisreichen Lebensabschnitten wie Kindheit, Schulzeit, frühe Erwachsenenjahre auf und prägen das Bild der Betroffenen von sich selbst und ihrer Umwelt. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend geht davon aus, dass der Rückzug in die Vergangenheit durch Langeweile, Angst oder Einsamkeit, die Verletzung der Intimsphäre, der Verlust von vertrauten Personen oder Gewohnheiten oder das Gefühl der Nutzlosigkeit gefördert wird. In der vergangenen inneren Wirklichkeit zu agieren und damit ein intakteres Selbstwert- und Identitätsgefühl zu erhalten fällt leichter. Im letzten Stadium wird das Verhalten der Betroffenen für Außenstehende immer unverständlicher (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 177).

3.2 Folgen einer Demenz

Demenzkranke Menschen sind von einer zunehmenden Beeinträchtigung kognitiver Funktionen betroffen. Nehmen die kognitiven Störungen zu, wirken Menschen mit Demenz zum Teil verschlossen, apathisch und desinteressiert, sind unflexibel, unsicher und „chaotisch“ in ihren Alltagsaktivitäten (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 172). Alltägliche Verrichtungen werden immer schwieriger. Menschen mit Demenz vergessen sich zu waschen, zu essen, sich anzukleiden oder sie wissen nicht mehr, wo die Toilette ist (vgl. Alzheimer Europe 1999, S. 14). Beispielsweise gestaltet sich das Einnehmen von Mahlzeiten oft schwierig (vgl. Alzheimer Europe 1999, S. 23). Manchmal essen Menschen mit Demenz mehr als früher, weil sie vergessen haben, dass sie schon etwas zu sich genommen haben (vgl. Alzheimer Europe 1999, S. 14). Trotzdem gehört ein Gewichtsverlust aber zu den typischeren Auswirkungen einer Demenz (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 172). Einerseits wird dies begünstigt durch die psychomotorische Unruhe bei vielen demenzkranken Menschen, die während der täglichen Wanderungen in der Umgebung immense Strecken zurücklegen. Auch führen „sinnlose“ Aktivitäten (z.B. Wischbewegungen, ständiges Aufstehen und Hinsetzen etc.), die bei Betroffenen mit einer schweren Ausprägung einer Demenzerkrankung sehr oft beobachtet werden, zu einem erhöhten Energieverbrauch. Andererseits kann eine erschwerte Nahrungs-aufnahme durch eine Störung des Geschmacks- und Geruchssinn hervorgerufen werden. In Verbindung mit einer Unfähigkeit, Handlungsabläufe zu entwerfen (Apraxie) und dem Nichterkennen von Objekten führen diese Beeinträchtigungen zu einer erheblichen Einschränkung selbständiger Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, was zu Unterernährung bis zum Verhungern führen kann (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 174).

Die oft erhebliche Beeinträchtigung der räumlichen Wahrnehmung, des Geruchssinns und der Gangsicherheit sowie die häufige Verkennung von Situationen führen zu Fehlhandlungen und zu einer Unfallgefährdung der Betroffenen. Zusätzlich erhöht eine Behandlung mit Psychopharmaka erheblich die Sturzgefahr (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 174).

Im vierten Altenbericht des Bundesministeriums wird gesagt, dass als zusätzliche Folge der Demenzerkrankung der Verlust der Autonomie und die einsetzende Pflegebedürftigkeit anzusehen ist (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 172). Es wird davon ausgegangen, dass durch diese Veränderungen der Demenzkranke in seiner Autonomie, d.h. der Fähigkeit zu einer unabhängigen und selbstbestimmten Lebensführung zunehmend behindert und auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Die Situation wird erschwert durch die Unfähigkeit der Demenzkranken wahrzunehmen, dass sie krank sind und dass die meisten auftretenden Probleme durch die Krankheit bedingt sind (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 172).

4 Lebensqualität und Wohlbefinden bei Demenz

Allgemein bedeutet Lebensqualität die Gesamtheit der Elemente, die die Lebensbedingungen in einer Gesellschaft wesentlich bestimmen und das subjektive Wohlbefinden der Menschen in ihr ausmachen (vgl. http://www.brockhaus.de).

In der Medizin bedeutet Lebensqualität „die vom Patienten selbst erlebte Befindlichkeit und Funktionsfähigkeit, die Fähigkeit, Rollen im täglichen Leben zu übernehmen und die Alltagstätigkeiten zur Zufriedenheit auszuführen“. Zusammenfassend bezeichnet Lebensqualität die Gesamtheit der körperlichen, psychischen, sozialen und funktionalen Aspekte von menschlichem Erleben und Verhalten, wie sie von der Person selbst geäußert werden (vgl. Schmidl 2002, S. 364). Auf den ersten Blick scheint es, dass Menschen mit Demenz keine gute Lebensqualität besitzen. „Diese Menschen sind ja offenbar nicht einmal mehr imstande sich mitzuteilen oder uns auf irgendeine andere „vernünftige“ Weise ihre Situation verständlich zu machen“ (vgl. Schmidl 2002, S. 370). Im folgenden Abschnitt möchte ich auf die Schwierigkeit der Erfassung von Lebensqualität bei Menschen mit Demenz eingehen und herausarbeiten, welche Bedürfnisse demenzkranke Menschen haben können um zu subjektiven Wohlbefinden zu gelangen.

4.1 Probleme bei der Erfassung von Lebensqualität bei Demenzkranken

Während es viele Studien über die Lebensqualität von Menschen gibt, die einen Demenzpatienten betreuen, wurde die direkte Befragung oder Untersuchung der betroffenen Patienten bisher völlig vernachlässigt (vgl. Meier 1995, S. 17). Die Forschung bezieht sich durch die vordergründigen intellektuellen Defizite weitgehend auf die Untersuchung der kognitiven Veränderungen bei dementiell Erkrankten. Auch eine Behandlung zielt vor allem darauf ab, unerwünschtes Verhalten zu therapieren, sei es mit pharmakologischen oder verhaltenstherapeutischen Mitteln, sei es mit einer Veränderung der physischen Umwelt. Es wird jedoch selten über die subjektive Erfahrung und das Krankheitsverhalten von Demenzpatienten berichtet (vgl. Meier 1995, S 28). Die persönlichen Bedürfnisse der Betroffenen werden dabei oft vernachlässigt.

Die Erforschung der Einstellungen und Wünsche bei dementen Menschen ist durch die vorhandenen Störungen der zeitlichen und örtlichen Orientierung sowie der Sprache und Aufmerksamkeit sehr schwierig (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 178). Eine dementielle Erkrankung geht zumindest in fortgeschrittenen Stadien auch mit einer erheblichen Beeinträchtigung des Urteilsvermögens einher. Es wird deshalb postuliert, dass Informationen von Demenzpatienten sowohl unreliabel als auch unvalide seien und sich eine Erfassung der Lebensqualität bei diesen Patienten aufgrund ihrer intellektuellen Defizite schwierig gestaltet oder gar unmöglich sei (vgl. Meier 1995, S. 28). Meier ist der Meinung, dass gerade am Anfang einer dementiellen Erkrankung die Patienten aber durchaus in der Lage sind, ihre Empfindungen mitzuteilen und somit eine Hilfe sein können mehr über ihr Krankheitserleben zu erfahren (vgl. Meier 1995, S. 28). Das Problem liegt dabei aber bei der Beschränkung auf Demenzkranke, die sich im Anfangsstadium befinden. Schwierig wird die Erfassung von Lebensqualität jener dementiell erkrankten Menschen, die nicht mehr fähig sind, über ihre eigene Befindlichkeit zu berichten (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 78).

Meier ist der Meinung, dass neben den allgemeinen Aussagen zur Lebensqualität eine große Rolle ein hohes Maß an persönlicher Unabhängigkeit und Autonomie spielt (vgl. Meier 1995 S. 24). Die Beurteilung der Lebensqualität bei Menschen mit Demenz wird aber bei dieser Betrachtung immer besonders negativ ausfallen. Es gibt auch Meinungen, dass durch die kognitiven Beeinträchtigungen Demenzkranke überhaupt keine Lebensqualität mehr besitzen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S.178). Meier ist aber der Meinung: „Es ist falsch, einfach anzunehmen, dass es für einen Menschen, der an einer fortgeschrittenen Demenz leidet, keine akzeptable oder überhaupt keine Lebensqualität gibt oder dass sein Leben nicht mehr lebenswert sei“ (Meier 1995, S. 30).

Durch die besonderen Auswirkungen der Demenz auf Wahrnehmung, Erleben, Verhalten, Sprache und anderer höherer Funktionen der erkrankten Menschen sind deswegen spezifische Erfassungsinstrumente erforderlich, die neben subjektiven Komponenten der Lebensqualität in hohem Maße auch objektive Merkmale und beobachtetes Verhalten berücksichtigen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 178).

Um alle Aspekte der Lebensqualität zu erfassen hält Lawton (1997) es für notwendig, die Qualität des Zeitvertreibs, des sozialen Engagements, des Wohlbefindens, des direkt beobachteten Verhaltens, des affektiven Status und die direkt beobachtete Qualität der Umgebung zu beurteilen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 178).

Bei der Messung von Lebensqualität bei Menschen mit Demenz kommt auch der Erfassung von Emotionen ein besonderes Gewicht zu. Aufgrund der kognitiven Beeinträchtigungen erscheint es sinnvoll, die Gefühlslagen von dementiell erkrankten Menschen aus der Mimik, der Motorik und anderen Äußerungen zu schließen (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 78). Die Voraussetzungen dafür sind viel Zeit und Geduld und das Vermögen, sich in andere Menschen hineinversetzen zu können (vgl. Schmidl 2002, S. 364)

4.2 Wohlbefinden / Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz

Kitwood ist der Meinung, dass der Beginn des Verlustes mentaler Fähigkeiten und somit auch vieler Ressourcen für eine gute Lebensqualität für jede Person tragisch sei. In diesem Sinne könnte Demenz niemals als ein Zustand des Wohlbefindens betrachtet werden. Dennoch sei es möglich, dass es vielen Menschen trotz ihrer Demenzerkrankung relativ gut geht (vgl. Kitwood 1997, S. 10).

Es wurde festgestellt, dass Menschen mit Demenz die gleichen Grundbedürfnisse haben wie alle anderen Menschen auch (vgl. Kitwood 2000, S. 87). Während die materielle Umgebung überwiegend den äußeren Rahmen zur Befriedigung physiologischer Bedürfnisse bietet, ist die soziale Umwelt für eine gelingende Betreuung dementer Menschen entscheidend. Wichtige Bedürfnisse von Demenzkranken sind (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 180):

- Sicherheit, z.B. das Gefühl nach Geborgenheit, ständige Anwesenheit einer ruhigen Person und eine strukturierte Tages- und Lebensordnung
- Liebe und Zugehörigkeit zu einer Gruppe, z.B. die Nähe wichtiger Bezugspersonen, körperliche Kontakte, Zärtlichkeit, soziale Kontakte mit Gesprächen und gemeinsame Aktivitäten
- Selbstwertgefühl und Selbstverwirklichung, z.B. Zufriedenheit mit sich selbst und mit eigenen Aufgaben und Leistungen

Schmidl bestätigt die Aussage, dass für Menschen mit Demenz im Hinblick auf Lebensqualität nicht die materielle Umgebung sondern andere Bedürfnisse im Vordergrund stehen: „Die respektvolle und wertschätzende Haltung der Betreuer, das Gefühl, in der eigenen Schwäche und Hilflosigkeit angenommen, in Ohnmacht und Verzweiflung verstanden zu werden, geduldig und in einem, dem eigenen Zeitgefühl angemessenen Tempo gepflegt zu werden, menschliche Wärme und Zuwendung etc.“ (Schmidl 2002, S. 367).

Kitwood entwickelte ein Modell zu den psychischen Bedürfnissen von dementen Menschen. Im Mittelpunkt steht für ihn das Bedürfnis nach Liebe. Kitwood bezieht sich dabei auch auf Aussagen von Frena Gray-Davidson. Sie stellte fest, dass Menschen mit Demenz oft ein unverhülltes und beinah kindliches Verlangen nach Liebe zeigen (vgl. Kitwood 2000, S. 121). Kitwood ergänzt diese Annahme durch die detaillierte Darstellung von fünf großen, einander überschneidenden Bedürfnissen, die sich im zentralen Bedürfnis nach Liebe vereinen. Er unterscheidet noch die Bedürfnisse nach Trost (Nähe und Zärtlichkeit), primäre Bindung (Sicherheit), Einbeziehung (z.B. Neigung zum Anklammern, Aufmerksamkeit zu bekommen), Beschäftigung und Identität mit der eigenen Lebensgeschichte (vgl. Kitwood 2000, S. 123ff). Dabei trägt das Erfüllen eines dieser Bedürfnisse bis zu einem gewissen Grad auch zur Erfüllung der anderen Bedürfnisse bei (vgl. Kitwood 2000, S. 122).

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Abb.1: Kitwood`s Modell der psychischen Bedürfnisse von Menschen mit Demenz (vgl. Kitwood 2000, S. 122)

Weiterhin hängt es für Kitwood von der Beziehung und dem Milieu ab, ob personales Leben mit Demenz gelingen kann und somit zum Wohlbefinden beiträgt. Ein wichtiges Kriterium für Wohlbefinden bei Menschen mit Demenz ist für Kitwood die Erhaltung des Personsein und der Subjektivität[4] (vgl. Müller-Hergl 2001, S.255).

Wächtler betont, dass Menschen mit Demenz bereits für die Befriedigung ihrer körperlichen Grundbedürfnisse und für die Sorge um ihre Sicherheit andere Menschen brauchen. Ihre Abhängigkeit reicht allerdings weit über diese Grundbedürfnisse hinaus. Wächtler ist der Meinung, dass erst durch die Gewährleistung von körperlichen Bedürfnissen und Sicherheit, Menschen (auch mit Demenz) nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft, nach sozialer Geltung und Status und schließlich nach Möglichkeiten der Selbstentfaltung und Sinnfindung suchen. „Die Krankheit zerstört nicht die Bedürfnisse nach sozialer Teilhabe, nach Bestätigung und Anerkennung, nach Produktivität und Leistung, doch sie zerstört bei den Betroffenen zunehmend die Fähigkeit, eigenständig für die Befriedigung dieser Bedürfnisse zu sorgen“ (Franke 2003, S. 74).

Brod, Stewart, Sands & Walton (1999) entwickelten ein Verfahren zur Erfassung von Lebensqualität bei Menschen mit Demenz in dem sie jene Ausschnitte aus der Lebenslage einer Person berücksichtigten, „die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Krankheit tangiert sei“ (vgl. Bm FSFJ 2002, S. 78). Dieses Verfahren umfasst sechs Bereiche: (1) Selbstwertgefühl als Häufigkeit von Gefühlen des Selbstvertrauens, der Zufriedenheit damit etwas geleistet zu haben; (2) Positive Emotionen und Humor; (3) Negative Emotionen; (4) Gefühl der Geborgenheit; (5) Sinn für Ästhetik; (6) Interaktionsfähigkeit. Bei einer Studie von Brod und Kollegen zeigte sich, dass die letzten beiden Bereiche für die Lebensqualität demenziell Erkrankter in besonderem Maße von Bedeutung sind, nämlich „Sinn für Ästhetik“ und „Interaktionsfähigkeit“. Sie begründen es damit, dass Menschen mit Demenz aus Aktivitäten, die mit sensorischer Stimulation einhergehen, große Befriedigung gewinnen. Dagegen stellen die vorhandenen Kommunikationsschwierigkeiten für den Kranken selbst ein großes Problem und eine Minderung der Lebensqualität dar (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 78).

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist der Meinung, dass sich eine Versorgung und Betreuung an den Bedürfnissen des Erkrankten zu orientieren hat und diese im Zuge einer individuellen Betreuung in hohem Maße zu realisieren versucht. Diese sind (vgl. Bm FSFJ 2001b, S. 20):

- Anerkennung der Individualität
- Recht auf Privatheit und Förderung der menschlichen Würde
- Kontinuität der Lebensgeschichte und Weiterführen der normalen sozialen Rollen
- Eine gesundheitsfördernde, prothetische, Orientierung fördernde und sensorisch stimulierende Umwelt
- Altersgerechte Beschäftigungen und Aktivitäten
- Ein ansprechendes Wohnmilieu, das in die Nachbarschaft eingebunden ist
- Möglichkeiten für Unterhaltung, Spaß, Humor und Kreativität

Diekämper ist der Meinung, dass menschliches Verhalten und Erleben sich nicht nur aus den eigenen Fähigkeiten und den erlebten Gefühlen entwickeln, sondern immer in Wechselwirkung mit anderen Personen des Zusammenlebens und der Beschaffenheit und Gestaltung des Lebensumfelds steht. Er betont: „Wie andere Menschen auf die ein-tretenden Verluste und Veränderungen des Menschen mit Demenz reagieren, bestimmt im Wesentlichen die für ihn erlebbare Lebensqualität“ (Diekämper 2001, S. 14). Er spricht von einer „spürbaren“ Lebensqualität, die durch die Sicherstellung der psychischen Bedürfnisse nach Nähe, Wertschätzung, Zuneigung und Anbindung an andere Menschen bestimmt ist. Aber viel wesentlicher ist für demenzkranke Menschen die spürbare Qualität der erlebten Gefühle (vgl. Diekämper 2001, S. 15). Diekämper versucht die komplexe Lebenssituation des Menschen mit einer Demenz zu erfassen und weist auf unterschiedliche Möglichkeiten hin, welche die Lebenssituation des demenzkranken Menschen und die von ihm erlebbare Lebensqualität beeinflussen und mitbestimmen. Folgende Grafik gibt einen Überblick über die Einflussfaktoren der Lebenssituation des Menschen mit Demenz:

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Abb 2. Einflussfaktoren auf die Lebenssituation dementer Menschen (Diekämper 2001, S. 16)

Zusammenfassend kann man sagen, dass Menschen mit Demenz ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit haben. Sie erleben Aktivitäten, die vor allem die sensorische Wahrnehmung betreffen als sinnvolle Tätigkeit und sie brauchen besondere Aufmerksamkeit und Anerkennung zur Erhaltung ihres Selbstwertgefühls und ihrer Identität. Wichtig ist auch die spürbare Lebensqualität demenzkranker Menschen, die deutlich in einer Wechselwirkung zu anderen Menschen steht. Eine Minderung der Lebensqualität stellen vor allem die Kommunikationsstörungen und der Verlust ihrer Autonomie dar.

Aufgrund ihrer Erkrankung können Menschen mit Demenz ihre Bedürfnisse nicht immer klar äußern, d.h. es bedarf sensibler Betreuer, die die individuellen Bedürfnisse wahrnehmen, denn durch die zunehmende Abhängigkeit im alltäglichen Leben brauchen die Betroffenen mehr Unterstützung, um ihre Bedürfnisse durchsetzen zu können (vgl. Grond 2001a, S. 10).

5 Selbstbestimmung

Selbstbestimmung ist ein weitläufiger Begriff. In der praktisch-philosophischen Theorie bedeutet Selbstbestimmung die Möglichkeit und Fähigkeit des Individuums, frei der eigenen Vernunft gemäß zu handeln und die Gesetze, Normen und Regeln des Handelns selbst neu zu entwerfen. Im Verfassungsrecht Deutschlands bedeutet das Selbstbestimmungsrecht das Recht des Einzelnen auf freigewählte, eigen-verantwortliche Daseinsgestaltung (vgl. Borutta 2000, S. 88).

Menschen mit Demenz stehen unter dem besonderen Schutz der Verfassung als Menschen, deren Grundrechte in besonderer Weise bedroht sind. Demente Menschen leben meistens in Abhängigkeitsverhältnissen, die durch sozialstaatliche und gesellschaftliche Abmachungen bestimmt sind und die Pflege und Betreuung gewährleisten, in denen aber gerade Selbstbestimmung und Identität bedroht sein können (vgl. Klie 2002, S. 324). Schmidl/Kojer sind der Meinung, dass Menschen mit Demenz viel zu selten und viel zu wenig intensiv in Vorgänge und Entscheidungen, die sie selbst und ihren Körper betreffen, mit einbezogen werden (vgl. Kojer/Schmidl 2002, S. 257). Borutta verbindet das Selbstbestimmungsrecht mit dem Freiheitsanspruch und leitet dies aus verschiedenen grund- bzw. strafrechtlichen Bestimmungen ab. Für ihn steht auch bei Menschen mit Demenz der Art. 1 Abs. 1 GG an erster Stelle, der lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Dieser Grundsatz gibt dem verwirrten Menschen das Recht auf die Wahrung seiner Würde und verpflichtet das Pflegepersonal ebenso dazu. Ein weiterer wichtiger Punkt ist Art. 2 Abs. 1 GG: „Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt…“. Borutta betont, dass auch Menschen mit Demenz eine Persönlichkeit besitzen. Niemand hätte das Recht, Eingriffe in seine Persönlichkeitsentfaltung vorzunehmen, auch wenn sie noch so unvernünftig erscheinen. Eine Ausnahme stellt dabei die akute Selbstgefährdung oder die grobe Verletzung von Rechten anderer dar, wobei dies eine Intervention nur bedingt zulässt. Denn Interventionen, die sich auf freiheitsentziehende Maßnahmen beziehen, sind gesetzlich geregelt: „Die Freiheit der Person kann nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden“ (Art. 104 GG). Dies bedeutet für Pflegende, dass sie nur auf Grundlage dieser rechtlichen Bestimmungen freiheitseinschränkende Maßnahmen anwenden dürfen (vgl. Borutta 2000, S. 59). Oft werden verwirrte Menschen gerade in stationären Einrichtungen aus falsch verstandenem Schutzgedanken heraus fixiert und unter psychischem Druck an der Ausübung ihres eigenen Willens gehindert (vgl. Borutta 2000, S. 19). Das Bundesministerium ist auch der Meinung, dass Eingriffe in die Freiheit der Selbstbestimmung als eine grundsätzliche Verletzung der menschlichen Würde angesehen werden (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 355).

Borutta sieht aber auch Einschränkungen in der Ausübung des eigenen Willens bei Menschen mit Demenz, aber er betont: „Natürlich ist der verwirrte Bewohner in seiner Selbstbestimmungsfähigkeit eingeschränkt, das Recht zur Selbstbestimmung bleibt ihm dennoch erhalten, auch wenn die Wahrnehmung und die Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts durch ihn selber natürlich auf Grenzen stoßen“ (Borutta 2000, S. 20). Er vertritt die Meinung, dass verwirrte Menschen aufgrund ihrer Krankheit oft die Folgen ihres Handelns nicht abschätzen oder beurteilen können, d.h. aber nicht, dass andere deswegen ständig entscheiden, wie weit der Freiheitsspielraum des Betroffenen gehen darf. Es geht vielmehr um die Frage, ob und wenn ja, in welcher Form durch Pflegende in das Leben dementer Menschen einerseits tatsächlich eingegriffen wird und andererseits eingegriffen werden darf (vgl. Borutta 2000, S. 22).

Auch das Kuratorium Deutscher Altershilfe (KDA) ist der Meinung, dass das Vorliegen einer Demenzerkrankung keineswegs einen völligen Ausschluss der individuellen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit bedeutet. „Das Ausmaß erhaltener Autonomie hängt vom Schweregrad und Verlaufsstadium des Krankheitsprozesses sowie von situativen Gegebenheiten ab. Die Handlungskompetenz kann für verschiedene Lebensbereiche unterschiedlich gut erhalten sein. Außerdem lassen sich mehrere Ebenen der Handlungskompetenz unterscheiden. So gibt es eine Autonomie des Willensentschlusses, der Handlungsdurchführung und der Handlungsdelegation“ (KDA 2001, S. III/83).

Das Bundesministerium spricht von einer „oszillierenden Balance“. Das bedeutet, eine Balance zwischen Abhängigkeit und selbstbestimmter Autonomie muss durch den Prozess des Aushandelns ein Gleichgewicht finden. Dieses Gleichgewicht sollte zwischen Freiheitsräumen, Verantwortlichkeiten und Bedürfnisbefriedigung ermittelt werden (vgl. Bm FSFJ 1998, S. 22). Pflegende oder Betreuende sollen durch eine gute, validierende Kommunikation und der Zuhilfenahme diplomatischer Künste Kompromisse finden, die sowohl den Bedürfnissen und Wünschen der dementen Menschen gerecht werden als auch die nötige und fachgerechte Pflege weitgehend gewährleisten (vgl. Schragel/Binder 2002, S. 120).

Auf den ersten Blick sind Selbständigkeit und Selbstbestimmung Begriffe, die Aktivität voraussetzen („ich kann, ich will, ich tue“). Aber bei einer genaueren Betrachtung zeigt sich, dass Selbstbestimmung ebenso die Möglichkeit beinhaltet „Nein“ zu sagen („ich will heute nicht, ich will jetzt nicht, ich will nicht mit Dir“). Das Eingehen auf diese „kontraproduktiven“ Bedürfnisse stellt für die Pflegenden eine besondere Schwierigkeit dar (vgl. Schragel/Binder 2002, S. 119). Denn Menschen mit Demenz können oft nicht erkennen, was geschehen wird, wenn wir ihren Willen voll respektieren (vgl. Schragel/ Binder 2002, S. 120).

Das KDA ist der Ansicht, dass Menschen mit Demenz Wert auf Selbstbestimmung, Anerkennung und Würde legen und darauf auch ein Teil ihrer Selbstachtung beruht. Die Aufgabe der Menschen in ihrer Umgebung besteht darin herauszufinden, was sich Menschen mit Demenz wünschen, wie sie ihre Ziele realisieren wollen und welche Hilfen sie benötigen (vgl. KDA 2001, S. III/84).

Reichert / Wahl sehen das Erleben von persönlicher Kontrolle als einen wichtigen Punkt für eine höhere Lebenszufriedenheit an. Der Verlust an Kontrolle scheint (auch) für den alten Menschen mit negativen Konsequenzen verbunden zu sein (Reichert/Wahl 1994, S. 34/35). Auch Flade sieht die Möglichkeit der Umweltkontrolle der Menschen als einen nicht zu unterschätzenden Faktor für Wohlbefinden und Lebensqualität. Umweltkontrolle definiert er als das Ausmaß, in dem ein Umweltbereich so verändert oder erhalten werden kann, dass er in Kongruenz zu persönlichen Vorlieben steht und psychisches Wohlbefinden fördert. Der Verlust an Kontrolle kann besonders wenn sie häufiger und in verschiedenen Situationen gemacht werden, zu „erlernter Hilflosigkeit“ führen. Dieser Zustand kann die Motivation des Individuums Einfluss auszuüben beeinträchtigen und die Orientierung und das Erkennen von Zusammenhängen erschweren, was wiederum zu gravierenden Einbußen an Lebensqualität führt (vgl. Flade 1997, S. 24). Umweltkontrolle bedeutet für ein Individuum eine Erhöhung seines Kompetenzgrades, mangelnde Umweltkontrolle dagegen eine Verringerung desselben und wahrscheinlich auch eine Reduzierung psychischen Wohlbefindens. Als Beispiel für Umweltkontrolle nennt Rath die Möglichkeit, soziale Kontakte aufzunehmen oder nicht bzw. zwischen verschiedenen Aktivitäten wählen zu können etc. (vgl. Rath 1997, S. 259).

Bei den Überlegungen zur Selbstbestimmung eines Menschen spielen auch die Begriffe der Selbständigkeit und der Individualität eine Rolle. Diese möchte ich kurz erläutern.

5.1 Selbständigkeit

„Selbständigkeit ist definiert durch vorhandene Fähigkeiten in spezifischen Lebens-bereichen“ (Bm FSFJ 1998, S. 20). Dabei geht es um die Frage, welche Fähigkeiten vollständig erhalten bzw. welche Beeinträchtigungen festzustellen sind und auf welche Weise Hilfen und Hilfsmittel organisiert werden. Ein Instrument zum Messen von vorhandenen Fähigkeiten in der Pflege stellen die Modelle der Aktivitäten des täglichen Lebens (ADL) und die Aktivitäten und existentiellen Erfahrungen des Lebens (AEDL) dar (vgl. Bm FSFJ 1998, S. 20).

Oft reduzieren sich die Möglichkeiten einer selbständigen Lebensführung mit wachsender Abhängigkeit von Hilfe (vgl. Bm FSFJ 1998, S. 20). Bei Menschen mit Demenz ist die Frage nach Kompetenzen und Fähigkeiten eher nebensächlich. Es gewinnt eher die Frage an Bedeutung, wie es bei diesen starken Einschränkungen einer selbständigen Lebensführung gelingen kann, dass die Betroffenen an ihrem bisherigen Lebensstil anknüpfen können und ihre Privatheit und Würde gewahrt bleibt. In diesem Sinne bezieht sich Selbständigkeit in der Lebensführung auch auf Möglichkeiten der Aufrechterhaltung von Privatheit, eigenen Wertungen und Standards. Harris, Klie und Ramin arbeiteten Standards heraus, in denen sich die Bewahrung von Selbständigkeit ausdrücken kann. Diese sind Achtung von Privatheit, Würde, Unabhängigkeit, Wahlfreiheit, Rechtssicherheit und Selbstverwirklichung (vgl. Bm FSFJ 1998, S. 21).

5.2 Individualität

Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend bezieht Individualität auf die individuellen Ausprägungen von Selbständigkeit und Selbstbestimmung und die individuell geprägten Einflussgrößen (z.B. Sozialisation, und Biografie, Geschlecht, Motivationen und Deutungsmuster) (vgl. Bm FSFJ 1998, S. 23).

Besonders in institutionellen Einrichtungen können Prozesse der Vereinheitlichung und Entindividualisierung stattfinden. Goffman beschreibt stationäre Einrichtungen mit dem Begriff von „Totalen Institutionen“. Durch Grenzziehungen zwischen Außenwelt und einer auf längere Dauer angelegten Innenwelt von stationären Einrichtungen mit meist eigener Logik, durch den geregelten Ablauf und kontrollierende Funktionen des Personals finden in vielen Einrichtungen Anpassungsprozesse statt, die die einzelnen Individuen ihrer Individualität und ihrer spezifischen Lebensumstände berauben. Es kommt dazu, dass die vielen „Ichs“, die in einer Institution zusammenleben, zwangsläufig vereinheitlicht werden. Oft resultieren daraus bei den Bewohnern Gefühle von Ohnmacht und der Verlust von Selbstbestimmung (vgl. Bm FSFJ 1998, S. 22). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend sieht als Möglichkeit der Aufrechterhaltung von Identität und Individualität die Gewährung von Handlungsspielräumen (z. B. in der Möblierung, Gestaltung des Tagesablaufs, Auswahl der Kleidung usw.) (vgl. Bm FSFJ 1998, S. 23). Leptihn betont, dass in Konzepten von Einrichtungen der Bewohner als individuelles Wesen begriffen und entsprechend betreut werden soll. „Das bedeutet, dass Ressourcen, Wünsche und Bedürfnisse wie auch die Pflegeprobleme individuell und systematisch ermittelt, dokumentiert und in entsprechende Betreuungsarbeit integriert werden“ (Leptihn 1996, S. 30). Besonders bei Menschen mit Demenz ändert sich das Krankheitsbild und somit auch die Anforderungen an die medizinische Versorgung, Pflege und Betreuung. Anforderungen an die Pflege und Betreuung müssen sich somit individuell nach der jeweiligen Krankheitsphase, der individuellen Ausprägungen der Krankheitssymptome und der biografischen Prägung der demenzkranken Menschen richten (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2003, S. 12).

6 Wohnen

Wohnung und Wohnumfeld haben vielschichtige Auswirkungen auf die Lebensführung und somit auf die Lebensqualität. Dabei werden drei Dimensionen unterschieden: die Wohnung als emotionaler Raum, als Handlungsraum und als sozialer Raum (vgl. Kulenkampff 2000, S. 6).

Die Wohnung als emotionaler Raum stellt einen emotionalen Schutzraum dar, der Regeneration und eine Rückbesinnung auf die eigene Identität ermöglicht. Dabei spielt die Gestaltung der Wohnung als wesentlicher Aspekt für die Lebensqualität eine Rolle, indem ästhetische Bedürfnisse erfüllt werden. Andererseits ist die Wohnungseinrichtung mit emotionalen Erinnerungen verknüpft und repräsentiert verschiedene Stadien der individuellen Biografie eines Menschen.

Die Wohnung als Handlungsraum ist geprägt durch die Möglichkeiten, die aufgrund des räumlichen Rahmens und der technischen Ausstattung der Wohnung gegeben sind sowie durch die Verfügbarkeit von Handlungsressourcen im Wohnumfeld. Defizite in diesem Bereich wirken einschränkend im Hinblick auf die Möglichkeit individueller Entfaltung.

Die Wohnung als sozialer Raum spielt eine große Rolle für den Aufbau und die Stabilität sozialer Beziehungen. Damit die Wohnung ein Ort lebendiger Kommunikation sein kann, wird die räumliche Möglichkeit vorausgesetzt, Besuch empfangen zu können bzw. es muss einen bestimmten qualitativen Wohnungsstandard geben, um Besuch empfangen zu wollen (vgl. Kulenkampff 2000, S. 6).

Bereits vor 1981 wies Lawton auf die Zusammenhänge zwischen der Handlungskompetenz eines Menschen und dem Einfluss seiner Umgebung hin. Da gesunde Menschen in der Lage sind sich der Umwelt anzupassen, beeinflusst die Umgebung diese nur geringfügig. Für Menschen mit Demenz spielt die Umgebung eine entscheidende Rolle. Sie brauchen eine Umgebung, die sich ihren Fähigkeiten und Defiziten anpasst, sie fördert, ohne zu überfordern. Bewegungsfreiheit und sinnvolle Aktivitäten müssen ermöglicht werden (vgl. Bm FSFJ 2002a, S. 179). Lawton geht davon aus, dass für eine selbständige Lebens- und Haushaltsführung ein bestimmtes Ausmaß an Kompetenz erforderlich ist und entwickelte dazu ein ökologisches Modell. Dies sagt aus, dass je höher der Kompetenzgrad eines Menschen ist, desto größer kann die Spannweite im Hinblick auf die Umweltanforderungen sein, ohne das psychische Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit bzw. die Lebensqualität zu beeinträchtigen. Bei einem abnehmenden Kompetenzgrad wird dieses Spektrum immer enger (vgl. Flade 1997, S. 19). Für Menschen mit Demenz ist das Wohnumfeld von geradezu existentieller Bedeutung für den Verlauf und die Bewältigung ihrer Erkrankung und es kann bei entsprechender Gestaltung sowohl kompensatorische als auch therapeutische Funktion haben (vgl. Rath 1997, S. 246ff). Borutta ist der Meinung: „Durch günstige Umweltbedingungen kann der Kompetenzgrad eines Menschen erhalten und nach oben verschoben werden und damit die Lebensqualität und seine Zufriedenheit verbessert werden“ (vgl. Borutta 2000, S. 92).

[...]


[1] Im weiteren Verlauf meiner Arbeit werde ich für Kuratorium Deutscher Altershilfe die Abkürzung KDA verwenden.

[2] Bundesministerium für Gesundheit werde ich im weiteren Verlauf mit Bm G abkürzen.

[3] Für das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend werde ich im weiteren Verlauf meiner Arbeit die Abkürzung Bm FSFJ verwenden.

[4] Siehe auch Kapitel 8.1.4.

Ende der Leseprobe aus 132 Seiten

Details

Titel
Probleme und Möglichkeiten zur Erhaltung der Lebensqualität bei Menschen mit Demenz unter dem Gesichtspunkt Wohnen und Selbstbestimmung
Hochschule
Philipps-Universität Marburg
Note
2
Autor
Jahr
2004
Seiten
132
Katalognummer
V166134
ISBN (eBook)
9783668749245
ISBN (Buch)
9783668749252
Dateigröße
1017 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
probleme, möglichkeiten, erhaltung, lebensqualität, menschen, demenz, gesichtspunkt, wohnen, selbstbestimmung
Arbeit zitieren
Diplom-Pädagogin Cornelia Suchan (Autor:in), 2004, Probleme und Möglichkeiten zur Erhaltung der Lebensqualität bei Menschen mit Demenz unter dem Gesichtspunkt Wohnen und Selbstbestimmung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/166134

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