Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Das Leseverhalten
2.1 Allgemeines Leseverhalten
2.2 Forschungsergebnisse zum Leseverhaltens von Jungen und Mädchen
2.3 Theoretische Erklärungsansätze für das geschlechtsspezifische Leseverhalten
3. Konsequenzen für den Deutschunterricht
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
1. Einleitung
Jahrzehntelang appellierten Experten[1] aus verschiedenen Richtungen, dass Mädchen hinsichtlich ihrer naturwissenschaftlichen Fähigkeiten und Ausrichtungen gefördert werden müssten. Spätestens seit PISA besteht nun auch auf Seiten der männlichen Schüler dringender Handlungsbedarf, denn 80% der Schüler mit Lese- und Rechtschreibschwäche sind männliche Jugendliche![2] Dem Geschlecht kommt in Bezug auf das Lesen eine beachtliche Bedeutung zu, wie auch Bettina Hurrelmann bestätigt: „Wenn man vorhersagen will, ob ein Kind eher viel oder wenig liest, bleibt das Geschlecht einer der zuverlässigsten Prädikatoren“.[3] Das Lesen und v. a. das Lesen von Büchern ist und war immer schon ‚Frauensache‘.[4] Warum dies so ist, möchte ich in der folgenden Arbeit ergründen:
Im Verlauf meiner Hausarbeit gehe ich über die Klärung von Begrifflichkeiten zunächst auf das Allgemeine Leseverhalten ein, um im Anschluss mit Hilfe von verschiedenen Studien das unterschiedliche Leseverhalten von Jungen und Mädchen darzustellen. Darauf aufbauend werde ich Theorien bzw. Erklärungsansätze vorstellen, die diese Differenzen im Leseverhalten begründen. Inwiefern der Deutschunterricht auf diese Entwicklung reagieren und das Lesen gesamtgeschlechtlich fördern kann, thematisiere ich im letzten Punkt meiner Arbeit.
2. Das Leseverhalten
Bevor ich auf die Unterschiede des Leseverhaltens von männlichen und weiblichen Schülern eingehen möchte, halte ich es vorab für notwendig den Begriff ‚Leseverhalten‘ zu definieren:
Unter ‚Verhalten‘ versteht man in der Psychologie „die Summe der inneren und äußeren Aktivität eines Individuums in der Auseinandersetzung mit seinen materiellen und sozialen Lebensbedingungen“.[5] Für das Verhalten spielt zudem das Interesse eine wichtige Rolle. Im Fall des Lesens stellt das Interesse ein qualitatives Gerichtet-Sein auf einen Lesestoff dar, der für jeden Menschen einen unterschiedlichen subjektiven Wert hat.[6]
Wie Katinka Dijkstra in ihrer Arbeit an einem Schaubild darstellt, gibt es eine ganze Reihe von Faktoren, die das Leseverhalten beeinflussen (vgl. Anhang 1).[7] Laut dieser Übersicht wird die Schule unter dem sozialen Faktor angesiedelt. Schule kann somit, neben Familie und Freundeskreis, das Leseverhalten in Bezug auf den privaten Lektüreentschluss und die Lektürewahl entscheidend mitbestimmen. Inwieweit dies‘ die Schulen übernehmen und fördern können und müssen, werde ich im Punkt 3 klären.
2.1 Allgemeines Leseverhalten
Empirische Studien belegen, dass nicht etwa weniger gelesen wird als früher, sondern nur anders und anderes. Man kann grundsätzlich also von einem gewandelten Leseverhalten sprechen. Diese Unterscheidung zu früher ist abhängig davon, was in Beruf und Alltag erforderlich und praktizierbar ist. Insbesondere das sog. ‚Lese-Zapping‘ setzt sich heute durch. Darunter versteht man, dass Texte nur überflogen und interessante Passagen ‚herausgepickt‘ werden. Zudem sind kurze Lesephasen (das Lesen kurz vor dem Schlafengehen oder nebenbei im Bus) typisch für die heutige ‚Lesegesellschaft‘. Der ehemalige lange ‚Leseatem‘ literarischen Lesens verschwindet zunehmend zu Gunsten eines zeitlich eingeschränkten Konsums. Hinzu kommt eine umfassende und steigende Ausstattung des familiären Wohnraumes mit audiovisuellen und digitalen Medien. Sind diese einmal verfügbar, werden sie von ihren Besitzern auch genutzt.[8]
2.2 Forschungsergebnisse zum Leseverhaltens von Jungen und Mädchen
Die PISA-Studien haben belegt, dass die Sprach-, Lese- und Schreibkompetenzen bei Mädchen und Jungen sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. So ist der Vergleichsstudie zu entnehmen: „Die größten und konsistentesten Geschlechtsunterschiede sind im Bereich Lesen zu beobachten. In allen PISA-Teilnehmerstaaten erreichen Mädchen signifikant höhere Testwerte als die Jungen“.[9] Auch deutschlandweite empirische Studien, wie etwa die Untersuchungen des Instituts für angewandte Kindermedienforschung (IfaK) sowie die KIM- und JIM-Studien vom Medienpädagogischen Forschungsverband Südwest, verweisen auf ein stark divergierendes Leseverhalten bei männlichen und weiblichen Schülern. Im Folgenden möchte ich die wichtigsten Erkenntnisse dieser Studien zusammenfassen:
Die Geschlechtsunterschiede beim Lesen machen sich in vier Dimensionen bemerkbar:
Lesequalität: Mädchen und Frauen lesen anderes als Jungen und Männer.[10] Mädchen/Frauen bevorzugen fiktive Genres (z. B. Romane), Biographien oder Lektürestoffe mit Bezug zum eigenen Leben bzw. ihrem gesellschaftlichen Umfeld. Sie präferieren daher eher realistische oder problemorientierte Geschichten und lesen mehr deskriptive Texte (vgl. Anhang 2). Jungen interessieren sich hingegen v. a. für Geschichten mit Spannung und Aktionsreichtum. Sie bevorzugen Krimis, Fantasy, Science-Fiction, Horror- und Abenteuergeschichten (vgl. Anhang 2).[11] An erster Stelle der Lieblingslesestoffe von 6-18-jährigen Jungen steht beispielsweise J. K. Rowlings Fantasy-Romanreihe „Harry Potter“. In der Altersgrupp der 6-13-Jährigen werden Comics sehr geschätzt – teilweise sogar mehr als Bücher.[12]
Ein deutlicher Unterschied zum Leseverhalten gleichaltriger Mädchen besteht im geringen Stellenwert von Film- und Fernsehbegleitbüchern.[13] So wollen Jungen im Gegensatz zu Mädchen nur im Ausnahmefall durch Lesen Medienereignisse aus Film und Fernsehen wiederholen und mehr Nähe zu Mediencharakteren oder deren Gefühle herstellen.[14] Stark ausgeprägt ist ihr Interesse hingegen am Thema Technik und an einer informativen Darstellungsweise, weshalb sich mit zunehmendem Alter die Lektürepräferenzen der Jungen allmählich in die Richtung ihrer Väter wandeln, d.h. hin zu Sach- und Fachbüchern, Zeitungen und Zeitschriften.[15] Diese Tendenz des Lesens von Erwachsenenliteratur findet bei beiden Geschlechtern statt: Bereits im Alter von zwölf Jahren werden Bestseller der Erwachsenenliteratur (z. B. Stephen King und John Grisham) bzw. Titel von gängigen Publikumszeitschriften für Erwachsene (z. B. „Sport-Bild“ und „Stern“) genannt. In der Altersgruppe danach steigt das Interesse sogar noch weiter an.[16]
Lesestrategie: Mädchen und Frauen lesen anders als Jungen und Männer. „ Den bevorzugten Genres entsprechend lesen Mädchen/Frauen empathisch und emotional involviert, während Männer eher sachbezogen und distanziert lesen oder in fremde, fantastische und exotische Welten abtauchen wollen (Jungen)“.[17] Die verschiedenen Lesestoffe bewirken dabei einen unterschiedlichen Umgang: Während das an Entwicklung und Geschichten interessierte Lesen eher kontinuierlich und am gesamten Text orientiert ist, lässt sich das an Informationen orientierte Lesen eher als selektiv und punktuell charakterisieren.[18] Auffällig ist auch, dass v. a. auf Seiten der Jungen Bücher immer häufiger nicht mehr vollständig gelesen werden.[19]
Lesequantität und -häufigkeit: Mädchen und Frauen lesen länger und häufiger als Jungen und Männer. Diese Aussage möchte ich anhand von drei Studien verdeutlichen:
In den Jahren 1995/96 wurden im Rahmen des Modellversuchs ‚Öffentliche Bibliothek und Schule‘ der Bertelsmann-Stiftung 4.461 Schüler zwischen sechs und 16 Jahren (d.h. von der 1. bis zur 10. Klasse) in sechs deutschen Städten mittlerer Größe befragt. Die Auswertung dieser Befragung ergab, dass mit Zunahme des Lebensalters eine kontinuierliche Abnahme der Leseintensität erfolgt.[20] „[W]ährend in den Klassenstufen 1 und 2 etwa 80 Prozent der Kinder im Leseindex[21] >>hoch<< oder >>sehr hoch<< liegen, sind es in den Stufen 3 bis 6 etwa 55 Prozent und in den Stufen 7 bis 10 nur noch 30 Prozent“ (vgl. Anhang 3).[22] Je älter die Schüler sind, desto häufiger geben sie an, sehr selten oder nie zu lesen. Insbesondere die Jungen sind davon betroffen: Ab der 7. Klasse gehört fast jeder fünfte Junge, jedoch nur jedes 20. Mädchen in die Leseindexkategorie ‚sehr niedrig‘.[23]
Zu ähnlichen Ergebnissen kam 1999 das Institut für angewandte Kindermedienforschung (IfaK) bei Untersuchungen zur Rezeption von Film- und Fernsehbüchern durch 153 Kinder und Jugendliche im Alter zwischen sechs und 18 Jahren: Während 55% der Jungen zwischen zehn und 16 Jahren keine erzählende Literatur (mehr) lasen, lag bei den Mädchen der Anteil der Nichtleserinnen bei 33%. Demgegenüber bezeichneten sich ¼ der befragten Mädchen, aber weniger als 10% der Jungen als regelmäßige Leser.[24]
Die dritte Studie, die ich zur Lesehäufigkeit von Jungen und Mädchen hinzuziehen möchte, besteht eigentlich aus zwei Studien: Die KIM- und JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest. Beide untersuchen seit 1999 regelmäßig den Alltag von Kindern und Jugendlichen mit dem Schwerpunkt ‚Mediennutzung‘. Bei der KIM-Studie 2008 wurden 1.206 deutschsprachige Schulkinder im Alter von 6 bis 13 Jahren und deren primäre Erziehungspersonen (Haupterzieher) befragt.[25] Hinsichtlich der Beliebtheit von Freizeitaktivitäten entstand dabei die Abbildung in Anhang 4. Ersichtlich wird, dass sich die Interessen je nach Geschlecht sehr unterscheiden. Betrachtet man v. a. die Mediennutzung, so wird deutlich, dass Jungen weitaus häufiger den Computer nutzen, Spielekonsolen und Videospiele verwenden als Mädchen. Allein beim Fernsehen liegen die Mädchen knapp über den Jungen. Betrachtet man nun aber das einzig aufgeführte Printmedium ‚Buch‘, so bestätigen sich die Ergebnisse der anderen Studien auch hier: Mädchen benennen etwa doppelt so oft wie Jungen das Lesen von Büchern als ihre liebste Freizeitaktivität. Jeder zehnte Junge und jedes fünfte Mädchen lesen täglich oder mehrmals pro Woche Bücher. Während 2/3 der Mädchen gerne oder sehr gerne lesen, gilt dies für gerade einmal 38% der Jungen. Entsprechend ist der Anteil der Nichtleser bei den Jungen mit 21% deutlich höher als bei den Mädchen (11%).[26]
Die JIM-Studie befragte im Jahr 2008 1.208 Jugendliche im Alter von 12 bis 19 Jahren.[27] Die o. g. Ergebnisse zur Mediennutzung lassen sich auch bei der JIM-Studie wiederfinden. Jungen im Alter zwischen 12 und 19 beschäftigen sich weitaus häufiger mit den sog. ‚Neuen Medien‘ (Computer, Internet und MP3-Player) als gleichaltrige Mädchen, wohingegen diese regelmäßiger zu Büchern greifen (48% vs. 32%) und häufiger im kreativ-gestalterischen Bereich tätig sind (digitale Fotos/Filme/Videos) (vgl. Anhang 5). Es bestätigt sich also auch hier, dass Mädchen deutlich mehr Affinität zum Lesen zeigen als Jungen: Jedes zweite Mädchen, aber nur jeder dritte Junge liest regelmäßig Bücher.[28] Verglichen mit den Werten der IfaK-Untersuchung von 1999 könnte man unter Vorbehalt von einer Steigerung der Lesehäufigkeit sprechen.[29] Auffällig ist, dass sich Jungen in dem Alter offenbar stärker für Onlineausgaben von Zeitungen und Zeitschriften interessieren als Mädchen (vgl. Anhang 5).[30]
[...]
[1] Die nachfolgend verwendete männliche Form bezieht selbstverständlich die weibliche Form mit ein. Auf die Verwendung beider Geschlechtsformen wird lediglich mit Blick auf die bessere Lesbarkeit des Textes verzichtet.
[2] Vgl. Haug 2005.
[3] Hurrelmann et al. 1993, S. 53 zit. n. Garbe 2002, S. 215.
[4] Vgl. Haug 2005.
[5] Schaub et al. 1995, S. 360.
[6] Vgl. Katz 1994, S. 4.
[7] Vgl. Dijkstra 1994, S. 41
[8] Vgl. Bischof et al. 2002, S. 2-3; vgl. Runge 1997, S. 21.
[9] PISA 2001, S. 253.
[10] Vgl. Garbe 2002.
[11] Vgl. Runge 1997, S. 29-30, 32.
[12] Vgl. Köhler 2006.
[13] Vgl. Bischof 2002, S. 4.
[14] Vgl. Köhler 2006.
[15] Vgl. Garbe 2008, S. 76; vgl. Runge 1997, S. 32-33.
[16] Vgl. Bischof 2002, S. 3.
[17] Garbe 2003.
[18] Vgl. Haug 2005.
[19] Vgl. Köhler 2006.
[20] Vgl. Garbe 2002, S. 217.
[21] Ist das für diese Studie entwickelte Maß für Lesegewohnheiten. Aus den Antworten der befragten Kinder wurde der jeweilige Leseindex ermittelt. Die Menge aller möglichen Indexwerte wurde in fünf Gruppen aufgeteilt, sodass jede befragte Person eine der Leseindex-Gruppen ‚sehr hoch‘, ‚hoch‘, ‚mittel‘, ‚niedrig‘, ‚sehr niedrig‘ zugeordnet werden konnte.
[22] Harmgarth 1997, S. 12. zit. n. Garbe 2002, S. 217.
[23] Vgl. Garbe 2002, S.217.
[24] Vgl. Köhler 2006; vgl. Bischof et al. 2002, S. 1.
[25] Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2008, S. 3-4.
[26] Vgl. ebd., S. 23.
[27] Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2009, S. 4.
[28] Vgl. ebd., S. 24.
[29] Allerdings sollte diese Prognose sehr kritisch betrachtet werden und sie gilt auch nur als ungefähre Beurteilung, da beide Studien unterschiedliche Ausgangspunkte hinsichtlich der befragten Probanden hatten und daher in solch‘ einer Art gar nicht miteinander verglichen werden können (z. B. Alter, Zahl der Probanden insgesamt).
[30] Vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2009, S. 13.