Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
2. DIE TYPISCHEN ERZÄHLERFIGUREN IM DETEKTIVROMAN
2.1. ALLGEMEINES
2.2. DER AUKTORIALE ERZÄHLER
2.3. DER NEUTRALE ERZÄHLER
2.4. DIE WATSON-FIGUR
2.5. DIE TÄTER-PERSPEKTIVE
2.6. DIE DETEKTIV-PERSPEKTIVE
2.7. DIE OPFER-PERSPEKTIVE
2.8. DIE MULTIPERSPEKTIVE
3. DIE ERZÄHLERFIGUR IN THE MURDER OF ROGER ACKROYD
3.1. DIE WATSON-FIGUR
3.2. DIE WATSON-FIGUR ALS SONDERFALL
3.3. DIE WIRKUNG DIESER PERSPEKTIVE
4. DIE ERZÄHLERFIGUR IN WACHTMEISTER STUDER
4.1. DER AUKTORIALE ER-ERZÄHLER
4.2. DIE WIRKUNG DIESER PERSPEKTIVE
5. DER VERGLEICH DER ERZÄHLERFIGUREN
5.1. ICH- UND ER-ERZÄHLER
5.2. DIE WIRKUNG DER UNTERSCHIEDLICHEN ERZÄHLPERSPEKTIVEN
6. FAZIT
7. LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
„Ein Kriminalroman ist nicht eine Geschichte von Opfer, Täter, Detektiv, Verdächtigen; das sind Materialien, mit denen er arbeitet. Ein Kriminalroman entsteht einzig durch die Art und Weise, wie er erzählt wird.“1
Die Kriminalliteratur wird bei vielen Literaturwissenschaftlern immer noch als niedere Gattung bezeichnet, weil sie als nicht anspruchsvoll und trivial gilt und die Bedürfnisse der Massen befriedigt. Deshalb wird dieses Genre erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit ernsthaft wissenschaftlich untersucht und auch eine einheitliche Definition des Begriffs steht noch immer aus.
In dieser Arbeit soll es darum gehen, die Erzählperspektiven zweier sehr unterschiedlicher Detektivromane gegenüberzustellen. Der bekanntere von Agatha Christie beinhaltet die am häufigsten auftretende Form des Erzählens im Detektivroman, die Perspektive der sogenannten Watson-Figur, betitelt nach dem gleichnamigen Freund und Helfer von Sherlock Holmes. Der unbekanntere von Friedrich Glauser zeigt eine ebenso vielseitige wie interessante Form des Erzählens anhand eines außerhalb des Geschehens stehenden Er-Erzählers. Ziel dieser Arbeit ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Erzählweisen herauszustellen und ihre Wirkung auf den Leser zu erörtern.
Bei der Definition des Begriffs Detektivroman halte ich mich an Peter Nusser2, da dessen Ausführungen mir schlüssig erscheinen. Das bedeutet, dass ich Kriminalliteratur bzw. Kriminalroman als Oberbegriff der Gattung sehe, der die Untergattungen Detektivroman und Thriller beinhaltet. In beiden Formen des Kriminalromans kann der Protagonist ein Amateur- oder Profi-Detektiv sein, jedoch ist der Detektivroman vom Thriller insofern zu unterscheiden, als dass dort der Schwerpunkt auf der Verfolgung des meist bekannten Täters liegt und nicht auf der Lösung eines Rätsels:
„Der Detektivroman bzw. die Detektiverzählung sind inhaltlich dadurch gekennzeichnet, daß sie die näheren Umstände eines geschehenen Verbrechens (fast ausschließlich des Mordes) im Dunkeln lassen und die vorrangig intellektuellen Bemühungen eines Detektivs darstellen, dieses Dunkel zu erhellen.“3
Wenn im Folgenden also vom (klassischen) Detektivroman gesprochen wird, ist damit eine spezielle Art von Kriminalroman gemeint, in welchem die zentrale Gestalt ein Detektiv ist, der ein Verbrechen aufklärt. In der Forschungsliteratur wird dies auch häufig als „Whodunit“ bezeichnet.4
„Das Ziel des Erzählens ist rückwärts gerichtet, auf die Rekonstruktion des verbrecherischen Tatvorgangs, also einer bereits abgelaufenen Handlung, die dann am Schluß nach Überführung des Täters für den Leser meist kurz in chronologischer Folge zusammengefaßt wird.“5
„Dabei ist von zentraler Bedeutung, daß die Aufklärung durch den Detektiv nicht zu schnell vollzogen werden darf, damit genügend Spannung erzeugt werden kann. Erzählen heißt in diesem Fall vornehmlich Retardierung.“6
Genauer könnte man einen Detektivroman in Aufklärungs- und Verbrechensgeschichte aufteilen.7 Die Aufklärungsgeschichte wird in chronologischer Reihenfolge anhand der Aktivitäten des Detektivs erzählt und die Verbrechensgeschichte in umgekehrter Reihenfolge, also retrospektiv. In diesem Teil wird zuletzt erhellt, was schon vor Beginn der Aufklärungsgeschichte passiert ist, nämlich der Mord.
Der Detektivroman ist also ein hochgradig konstruierter Roman mit strengen Gattungskonventionen, welche sogar von mehreren Autoren in Regeln und Richtlinien festgelegt wurden.8 Das hinderte allerdings Autorinnen wie Agatha Christie, die sogar selbst Mitglied des „Detection Club“ in London war, nicht daran, diese Regeln zu brechen.
In den Fällen, in denen die verwendete Sekundärliteratur von diesem Verständnis des Begriffs abweicht, wird darauf hingewiesen.
Arthur Conan Doyle und Agatha Christie sind die bekanntesten Vertreter solcher Detektivromane. In Deutschland gab und gibt es kein ebenso berühmtes Beispiel. Der hier zum Vergleich angeführte Autor Friedrich Glauser ist Schweizer, seine Romane sind heute nur wenigen Lesern bekannt. Dennoch kann er meines Erachtens als deutschsprachiger Vertreter einem Vergleich mit Agatha Christie standhalten.
2. Die typischen Erzählerfiguren im Detektivroman
2.1. Allgemeines
Bei der folgenden Vorstellung der verschiedenen Erzählerfiguren, die es im Detektivroman geben kann, werde ich mich hauptsächlich auf die Untersuchung Erz ä hlsituationen und Figurenperspektiven im Detektivroman 9 von Beatrix Finke stützen. Diese Autorin besitzt allerdings ein etwas anderes Verständnis des Begriffs Detektivroman als in der Einleitung definiert. Sie scheint diesen mit dem Begriff Kriminalroman gleichzusetzen, weshalb einige Erzählperspektiven in ihrer Arbeit auftauchen, die nach meiner Definition in den Bereich des Thrillers gehören. Nicht alle der unten genannten Erzählperspektiven kommen also im klassischen Detektivroman (wie in der Einleitung definiert) vor.
Finke teilt in ihrer Analyse die Erzählperspektiven zunächst in vier Gruppen auf: Die auktoriale Erzählsituation, die neutrale Erzählsituation, die multiperspektivische Erzählsituation und die Ich-Erzähler. Letztere können die Sicht des Detektivs, seines Helfers (der sogenannten Watson-Figur), des Täters oder des Opfers einnehmen. Wie später noch zu zeigen sein wird, ist auch die Überschneidung verschiedener Ich-Erzähler oder das Nebeneinander von Erzählperspektiven möglich.
Finke weist darauf hin, dass die Wahl der Erzählerfigur gerade im Detektivroman eine immense Bedeutung und Tragweite besitzt:
„Im Unterschied zu allen übrigen Gattungen der narrativen Literatur ist hier die Vermittlungsinstanz bzw. Erzählerfigur nicht nur fiktiver Träger der Vermittlung, sondern zugleich auch fiktive Instanz der Mystifikation des Lesers: die Wahl des jeweiligen Perspektiventrägers soll eine Sichtweise des Geschehens und eine Selektion sowie Abfolge der einzelnen vermittelten Informationen plausibilisieren, durch die der Rezipient auf eine falsche Spur geführt und ihm ein in bestimmten Zügen unzutreffendes Bild der fiktiven Wirklichkeit aufoktroyiert wird, ohne daß er davon vorzeitig etwas merkt.“10
Der Einfluss, welchen der Erzähler auf den Leser ausübt, steuert die Wirkung, die der Text hinterlässt. Besonders im klassischen Detektivroman hängt diese Lenkung sehr davon ab, ob der Leser dem Erzähler Glauben und Vertrauen schenken kann oder nicht.11 Einer der Grundsätze der Detektivliteratur in diesem Zusammenhang lautet: „[E]ine Figur der Erzählung darf die Unwahrheit sagen, der Autor selbst jedoch nicht.“12 Das bedeutet, der Leser muss sich sicher sein können, dass der Autor selbst die Wahrheit kennt und nicht etwas allgemeingültiges als falsch definiert oder umgekehrt. Ob seine Figuren die Unwahrheit sagen, ist davon unabhängig, denn sie können manche Dinge auf ihrer innerfiktionalen Ebene (noch) nicht wissen oder wollen sie aus bestimmten Gründen nicht preisgeben. Beides dient dem Autor zur Verschleierung wichtiger Informationen für den Leser.
Der Erzähler in einem Detektivroman hat nach Michael Dunker viele Möglichkeiten der Verschleierung13: Zum Beispiel kann er „dem Leser eine lösungsrelevante Information zwar (...) vermitteln, sie aber gleichzeitig so (...) verbergen, daß er ihre Relevanz nicht erkennt.“14 Dafür sind solche Personen geeignet, die von den innerfiktionalen Figuren - und meist auch vom Leser selbst - nicht ganz ernst genommen werden, weil sie zum Beispiel als verwirrt oder dumm dargestellt werden. Äußerungen dieser Personen werden vom Leser häufig automatisch ignoriert oder für irrelevant erklärt, so dass der Erzähler auf diese Weise wichtige Hinweise geben kann, ohne dass der Leser es bemerkt. Er hält sich so an das fair play15, da er wichtige Informationen nicht verschweigt, aber der Leser errät trotzdem nicht zu früh die Lösung.
„Häufig ist es nicht möglich, den Leser so zu beeinflussen, daß er das Vorhandensein einer lösungsrelevanten Information nicht bemerkt. In solchen Fällen ist es notwendig, dem Rezipienten eine falsche Interpretation der betreffenden Information zu suggerieren.“16
Dies kann ebenfalls mit Hilfe einer als dumm oder verwirrt geltenden Figur geschehen, oder - denn diese Figur nimmt der Leser aufgrund ihrer Position und Charakterisierung meist auch nicht ganz ernst - durch die Watson-Figur. Deren vom Detektiv unreflektierten Äußerungen führen den Leser am häufigsten auf falsche Fährten. Schließlich können noch Negation und Relativierung „bewirken, daß der Leser die innerfiktionale Realität nicht als real betrachtet, weil sie ihm als irreal dargeboten wird. Dies geschieht, indem ein entscheidender Hinweis kurz nach seiner Erwähnung von der gleichen oder einer anderen Person oder vom Erzähler geleugnet oder in Frage gestellt wird.“17
Finke legt besonderen Wert auf die von ihr so genannten „Unbestimmtheits- stellen“. Diese definiert sie als vom Autor bewusst gewählte Leerstellen im Text mittels derer bestimmte „Informationen, die für das Verständnis der Handlung relevant sind“18 verweigert werden. Dabei unterscheiden sowohl Finke als auch Dunker19 zwischen markierten und unmarkierten Unbestimmtheitsstellen (auch bestimmte und unbestimmte Leerstellen genannt).
„Als markierte Unbestimmtheitsstellen gelten solche Textstellen, an denen dem Leser während des Lesevorgangs bewußt ist, daß an der betreffenden Stelle absichtlich wichtige Informationen ausgelassen worden sind.“20
„Im Gegensatz zu markierten Unbestimmtheitsstellen liegen unmarkierte Unbestimmtheitsstellen dann vor, wenn der Rezipient das Fehlen eines oder mehrerer relevanter Handlungsteile während des Lesevorgangs gar nicht wahrnimmt und er erst an einem späteren Punkt der Handlung oder in der Aufklärungsszene merkt, daß ihm an der jeweiligen Textstelle etwas Entscheidendes vorenthalten wurde.“21
Die wichtigste markierte Unbestimmtheitsstelle ist der Mord. Im Detektivroman sind solche Unbestimmtheitsstellen allerdings nur vorläufig, da der Leser am Ende die Lösung präsentiert bekommt und damit auch die bis dahin fehlenden Fakten nachgereicht werden. Finke urteilt, dass „ein Detektivroman ohne unmarkierte Leerstellen (...) nicht denkbar“22 ist, da diese während des Romans Spannung und am Ende Verblüffung erzeugen.
Eine weitere Möglichkeit der Verschleierung sind die sogenannten Irrfährten („red herrings“)23. „Im Idealfall sind die Irrfährten so über die Erzählung verteilt, daß fast jede beteiligte Person verdächtig erscheint.“24 „Eine Sonderform der Irrfährte stellen Sekundärhandlungen dar, die in die Erzählung eingebaut werden, aber in keinem Zusammenhang mit dem Mordrätsel stehen.“25
Reine Außendarstellungen der Figuren eignen sich zur Informationsverweigerung am besten, da diese hier am wenigsten auffällt.
Will man nicht - wie Finke und Dunker - von markierten und unmarkierten Unbestimmtheitsstellen sprechen, kann man nach Lindemann einen Detektiv- roman auch in Aufklärungs- und Verbrechensgeschichte aufteilen. Die Aufklärungsgeschichte beschreibt dabei in chronologischer Reihenfolge die Arbeit des Detektivs und die Verbrechensgeschichte wird von hinten nach vorn aufgerollt und betrifft alles, was zum Mord bzw. dem Rätsel gehört.
„Während eine Aufklärungsgeschichte problemlos auktorial erzählt werden kann, darf die Verbrechensgeschichte niemals auktorial erzählt werden, sofern die Verbrechensgeschichte im Rahmen der Aufklärungsgeschichte von einem Detektiv rekonstruiert wird.“26
„Häufig weist auch die Watson-Perspektive eine auktoriale (bzw. nullfokalisierte) Erzählsituation auf.“27 Da die Watson-Figur fast immer retrospektiv berichtet, muss sie sich beim Erzählen dümmer stellen. Lindemann unterscheidet deshalb zwischen demjenigen, der spricht bzw. erzählt und demjenigen, der wahrnimmt.28 Das heißt, der eigentliche Erzähler weiß mehr als er während der Erzählung preisgibt, aber sein wahrnehmendes Ich, über welches er erzählt, weiß manches in diesem Moment noch nicht oder erfährt es erst dann. Das ist sogar bei The Murder of Roger Ackroyd so, denn auch der Täter-Erzähler weiß nicht alles, vor allem nicht alles, was der Detektiv weiß.29
„Die Erzeugung von Spannung stellt das entscheidende Kriterium der Leserlenkung in der klassischen Detektivliteratur dar.“30
Die Watson-Perspektive taucht im klassischen Detektivroman am häufigsten auf, daneben existieren noch in weit geringerem Maße die auktoriale, die Opfer- und die Multiperspektive.
2.2. Der auktoriale Erzähler
Der auktoriale Erzähler ist deutlich als erzählende Instanz wahrnehmbar.31 Er ist keine Figur seines Textes, sondern berichtet von einem übergeordneten Standpunkt aus das Geschehen. Er kann auch immer wieder hinter den Figuren zurücktreten und verschiedene Perspektiven „einnehmen“. Ein auktorialer Erzähler wird sich aber immer zwischendurch wertend und kommentierend einschalten und ist deshalb nicht mit der Multiperspektive gleichzusetzen, wo zwischen verschiedenen personalen Erzählern gewechselt wird, ohne eine solche übergeordnete Instanz.32
Im Detektivroman tritt die auktoriale Erzählerfigur immer dann hinter den Figuren zurück, wenn sie nicht zu früh etwas preisgeben will.33 Dann wird der Leser direkt mit dem Geschehen konfrontiert und verfolgt die Dialoge der handelnden Personen. Der auktoriale Erzähler zeigt sich, wenn es um die Kommentierung und Charakterisierung der Figuren geht.34 Das gilt vor allem für die Detektivfigur.35
Ein auktorialer Erzähler ist ein Erzähler, der Kompetenz und Vertrauen ausstrahlen sollte. Der Leser nimmt ihn als glaubwürdig an. Dazu Finke:
„Die ‚Zurückhaltung’ der auktorialen Instanz, die Thematisierungen und Relativierungen des Erzählten ausschließt, bewirkt, daß der Leser die dargestellten Geschehnisse automatisch - und zu Recht - mit den tatsächlichen Ereignissen der fiktiven Realitätsebene gleichsetzt: das, was im klassischen Detektivroman von der auktorialen Instanz erzählt wird, i s t die fiktive Realität, und es wäre für den Leser weder notwendig noch überhaupt sinnvoll, die Richtigkeit der Darstellung zu hinterfragen.“36
Deshalb ist es für den Autor wichtig, zu beachten, dass eine Irreführung des Lesers nur in den Reden der Figuren stattfinden darf, da ansonsten die fiktive Realität verletzt würde. Das schließt allerdings auch die Erzählung einer Watson-Figur ein, da diese ebenfalls eine fiktive Figur ist.
2.3. Der neutrale Erzähler
Finke definiert die neutrale Erzählung als „reine Außendarstellung aller Figuren und Vermeidung jeglicher Subjektivierungen im Erzählertext“37. Ein Beispieltext dafür ist Dashiell Hammetts The Maltese Falcon. Hier tritt keine wertende oder kommentierende Instanz auf, der Erzähler verschwindet quasi hinter den Figuren und berichtet „aus ihnen heraus“. So entsteht ein vermeintlich objektiver Bericht des Geschehens, der jedoch immer noch insofern subjektiv ist, da der Autor die Dinge aus seiner Sicht beschreibt.
2.4. Die Watson-Figur
„Der Einsatz einer Watson-Figur als Ich-Erzähler ist in der Detektivliteratur nicht nur die älteste, sondern auch die am weitesten verbreitete Standardform der figuralen Monoperspektive.“38
Sie bekam ihren Namen von Dr. Watson, Assistent von Sherlock Holmes, dem berühmten Detektiv von Arthur Conan Doyle.39
Meist erzählt die Watson-Figur allein die ganze Geschichte und damit ist der Leser von Anfang an auf diese eingeschränkte Perspektive festgelegt. Er nimmt alles durch die Augen des Ich-Erzählers wahr und neigt dazu, ihm in allem zuzustimmen, da er ihm normalerweise Sympathie entgegenbringt.40 Die Watson-Figur ist ein normaler Durchschnittsbürger „ohne außergewöhnliche Charaktereigenschaften“41, mit dem der Leser sich identifizieren kann. Auch dass er - wie im Falle von Dr. Watson - meist Arzt ist, oder einen anderen soliden Beruf hat, macht ihn glaubwürdig.42
„Zugleich untermauert in allen Watson-Texten auch die handlungsinterne Position des Erzählers, seine Stellung eines Helfers ohne Eigeninteressen hinsichtlich des Kriminalfalles, den Eindruck seiner Glaubwürdigkeit als neutraler und damit objektiver Berichterstatter.“43
Aufgrund der Bewunderung, die der Assistent dem Detektiv entgegenbringt, und seiner leichten zur Schau getragenen Naivität, kann der Leser sich dieser Figur gegenüber meist etwas überlegen fühlen, wenn er schneller als diese etwas durchschaut, denn gegenüber dem Detektiv wird der Leser zwangsläufig stets intellektuell versagen.
Die Erzählerfigur steht hier nicht selbst im Mittelpunkt des Geschehens, sondern ein Detektiv - meist ein Freund des Erzählers. Die Watson-Figur berichtet von dessen Ermittlungen, kommentiert und bewertet sie und teilt dem Leser seine eigenen Schlussfolgerungen und Gedanken mit. Diese Innendarstellungen der Erzähler-Figur dienen zur Verwirrung des Lesers. Diese wird nämlich meist als zu dumm dargestellt, den Fall selbst zu lösen und führt den Leser deshalb mit seinen meist fehlerhaften Vermutungen auf „falsche Fährten“ (‚red herrings’)44. Ein Ich-Erzähler kann nicht - wie ein auktorialer Erzähler - in das Innere der anderen Figuren sehen und demzufolge die Richtigkeit seiner Annahmen nicht immer überprüfen.
Bedeutend ist auch, wie bereits erwähnt, „die Tatsache, dass der Erzähler sich für seinen Bericht stets gleichsam künstlich in jenen defizitären Informationsstand zurückversetzt, aus dem heraus er als erlebendes Ich das Geschehen verfolgt hat.“45
2.5. Die Täter-Perspektive
Bei der Täterperspektive gibt es nach Finke zwei verschiedene Varianten, die offene und die verdeckte Täterperspektive. Bei der offenen ist dem Leser von Anfang an bekannt, wer der Täter ist, da der Erzähler sich entweder als dieser vorstellt bzw. zu erkennen gibt oder der Leser kann den Mord selbst direkt mitverfolgen und „mitfiebern“, ob der Mörder gefasst wird. Bei der sehr viel seltener auftretenden verdeckten Täterperspektive erfährt der Leser erst ganz am Schluss, wenn dieser entlarvt ist, dass der Erzähler selbst der Täter ist.
Die offene Täterperspektive, welche die reine Verbrechensgeschichte erzählt, widerspricht meiner in der Einleitung gegebenen Definition des Begriffs Detektivroman, denn hier geht es schließlich um das „Whodunit?“46. Ich nehme diese Perspektive dennoch mit in meine Analyse auf, da die verdeckte Täterperspektive, zum Beispiel in Verbindung mit der Watson-Perspektive wie bei The Murder of Roger Ackroyd, in Einzelfällen im Detektivroman auftritt.
Bei der verdeckten Täter-Perspektive kann der Erzähler die Sympathie des Lesers positiv beeinflussen, obwohl dieser den Täter normalerweise ablehnen müsste. Er baut dabei auf der Tatsache auf, dass der Leser dem Ich-Erzähler per se erst einmal vertraut und glaubt, da er mit der Watson-Figur bisher gute Erfahrungen gemacht hat. Wenn der Detektiv dieser Figur innerhalb des Romans Vertrauen entgegenzubringen scheint, wiegt das den Leser ebenfalls in Sicherheit.
[...]
1 Zimmermann, Hans Dieter: Die schwierige Kunst des Kriminalromans. Zum Werk des Schweizers Friedrich Glauser. In: Germanisch Romanische Monatsschrift Neue Folge Band 28 (1978). S. 337-347. S. 338.
2 Vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman. 3., aktualisierte und erweiterte Auflage Stuttgart/Weimar: Metzler 2003. (= Sammlung Metzler 191). Kap. 1.1.1.
3 Ebd. S. 2f.
4 Vgl. Nusser 2003, S. 6.
5 Ebd. S. 3.
6 Lindemann, Uwe: Narrativik des Detektivromans. Zwei Geschehen, zwei Geschichten, ein Text. In: Orbis Litterarum 57 (2002), Heft 1, S. 31-51. S. 33.
7 Vgl. Lindemann 2002.
8 Vgl. z.B. Todorov, Tzvetan: Typologie des Kriminalromans. In: Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman. Poetik-Theorie-Geschichte. München: Fink 1998. (= UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher; 8147; Große Reihe). S. 208-215. S. 213.
9 Finke, Beatrix: Erzählsituationen und Figurenperspektive im Detektivroman. Amsterdam: Grüner 1983. (= Bochumer Anglistische Studien, Band 15).
10 Ebd. S. 3.
11 Finke 1983, S.42.
12 Buchloh, Paul G./Becker, Jens P.: Der Detektivroman. Studien zur Geschichte und Form der englischen und amerikanischen Detektivliteratur. Mit Beiträgen von Antje Wulff und Walter T. Rix. 2., überarbeitete und ergänzte Auflage Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978. S. 87.
13 Vgl. Dunker, Michael: Beeinflussung und Steuerung des Lesers in der englischsprachigen Detektiv- und Kriminalliteratur. Eine vergleichende Untersuchung zur Beziehung Autor-Text- Leser in Werken von Doyle, Christie und Highsmith. Frankfurt a.M.: Lang 1991. S. 63ff.
14 Ebd. S. 63.
15 Zum fair play vgl. auch Nusser 2003, S. 24.
16 Ebd. S. 68.
17 Dunker 1991, S. 74.
18 Finke 1983, S. 47.
19 Vgl. Dunker 1991, S. 81ff.
20 Ebd. S. 81.
21 Ebd. S. 84.
22 Finke 1983, S. 86.
23 Vgl. Nusser 2003, S. 25.
24 Dunker 1991, S. 91.
25 Dunker 1991, S. 92.
26 Lindemann 2002, S. 34.
27 Ebd. Anmerkung 19.
28 Ebd. S. 43.
29 Vgl. Dunker 1991, S. 165.
30 Ebd. S. 180.
31 Finke 1983, S. 63.
32 Vgl. Ebd. Kapitel 8.
33 Vgl. Ebd. S. 71.
34 Vgl. Ebd. S. 70.
35 Zur Charakterisierung eines ‚klassischen’ Detektivs vgl. Nusser 2003, S. 38-43.
36 Finke 1983, S. 73f.
37 Ebd. S. 309.
38 Finke 1983, S. 109.
39 Vgl. Dunker 1991, S. 31f.
40 Vgl. Finke 1983, S. 110 und 117.
41 Ebd. S. 117.
42 Vgl. dazu auch Dunker 1991, S. 31.f.
43 Finke 1983, S. 120.
44 Vgl. Finke 1983, S. 124.
45 Ebd. S. 114.
46 Vgl. Fußnote 4.