Angewandte Ethik, ganz schön praktisch: Thomas Riedmann behandelt in seiner DAS-Arbeit herausforderndes Verhalten von betreuten Personen und die Auseinandersetzung der Betreuungspersonen mit diesem Thema. Die Arbeit ist praxisrelevant gestaltet und soll Betreuungsteams dabei unterstützen, Integritätsverletzungen und moralischen Stress zu erkennen und einen Umgang damit zu finden, der die betroffenen Betreuungspersonen gesund und arbeitsfähig bleiben lässt.
Riedmann untersucht, welches Potential Distanzierungsverhalten zum Schutz der Integrität und zum Schutz vor moralischem Stress für Betreuungspersonen birgt. Er analysiert, welche ernst zu nehmenden Risiken Distanzierungsverhalten für betreute Personen birgt und welche komplexen Zusammenhänge zwischen Integritätsverletzung, moralischem Stress und Arbeitsgesundheit bestehen. Dabei sei es wichtig, die Selbstreflexion im Hinblick auf Integritätsverletzungen und der Anerkennung der eigenen Vulnerabilität zu schulen, berufliche Kompetenzen im ethischen Bereich zu schaffen und durch Weiterbildung zu vertiefen sowie moralische Stresssituationen zu identifizieren und geeignete Massnahmen zur Verhinderung von Schäden zu setzen.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Hauptteil
Begriffsklärung: herausforderndes Verhalten
Begriffsklärung: Distanzierung
Begriffsklärung: Integrität
Begriffsklärung: moralischer Stress
Fallbeispiel: Markus und Renate
Einwände gegen Distanzierungshandlungen
Zusammenfassung
Literaturverzeichnis
Einleitung
In dieser Arbeit geht es um herausforderndes Verhalten von betreuten Personen und der Auseinandersetzung der Betreuungspersonen mit diesem Thema. Die Arbeit soll praxisrelevant sein und der angewandten Ethikentsprechend helfen, begründete Entscheidungen der Betreuungspersonen zu treffen. Sie soll Betreuungsteams unterstützen, Integritätsverletzungen und moralischen Stress zu erkennen und einen Umgang damit zu finden, der die betroffenen Betreuungspersonen gesund und arbeitsfähig bleiben lässt. Bewusst behandelt diese Arbeit die Themen in «der Breite», um die komplexen Zusammenhänge von herausforderndem Verhalten und der Gesundheit am Arbeitsplatz aufzuzeigen. Betreuungspersonen sollen inspiriert werden, spezifisch auf ihr Arbeitssetting passende Antworten zu auftretenden Problemen zu finden. Zur Untersuchung der These «Ja, Betreuungspersonen dürfen sich bei herausforderndem Verhalten von betreuten Personen von diesen distanzieren» wähle ich die Bottom-up- Methode.
Herausforderndes Verhalten schafft bei Betreuungspersonen immer wieder Situationen, welche zu Überforderung, Ratlosigkeit, moralischem Stress und Integritätsverletzungen führen. Das Berufsethos bringt es oft mit sich, dass in Betreuungsteams das Thema der Überforderung externalisiert (z. B. mit schlechten Arbeitsbedingungen begründet) oder gar nicht erst angesprochen wird. Ziel ist es, moralischen Stress und Integritätsverletzungen zu enttabuisieren, Betreuungspersonen zur Reflexion zu animieren und die Wahrnehmung bezüglich beruflicher Selbstfürsorge zu stärken. Distanzierungshandlungen in herausfordernden Situationen kann eine Möglichkeit sein, sich vor Integritätsverletzung und moralischem Stress zu schützen. Hierzu werde ich den Begriff der Distanzierung in Betreuungssituationen erläutern und festlegen, wie er in der Folge gemeint ist.
In einem ersten Schritt werde ich die zentralen Begriffe herausforderndes Verhalten, Distanzieren, Integritätsverletzung und moralischer Stress erläutern und auf die spezifische Verwendung in dieser Arbeit definieren.
In einem weiteren Schritt werden Beispiele aus der Praxis veranschaulichen, in welchen Situationen moralischer Stress entsteht und in welchen Integritätsverletzungen stattfinden. Oft sind diese Verletzungen subtil, in komplexen Betreuungssituationen verborgen, und auf den ersten Blick nicht erkennbar. Dilemmata und Überforderung in der Situation das Richtige zu tun, sind ursächlich für moralischen Stress. Die Distanzierung aus solchen Betreuungssituationen scheint dem Berufsethos zu widersprechen und wird von Betreuungspersonen als berufliche Schwäche empfunden. Die Frage nach der Urteilsfähigkeit betreuter Personen und inwiefern diese Verantwortung für ihr Handeln tragen, wird anhand dieser Beispiele untersucht.
In einem weiteren Schritt werde ich darlegen, welche Auswirkungen sowohl für betreute als auch betreuende Personen zu erwarten sind. Intuitiv ist die Distanzierung in herausfordernden Situationen oft das richtige Vorgehen. Was für einzelne Personen, aber auch ganze Betreuungsteams oft zurückbleibt, sind ein schlechtes Gewissen, kollektive Schuldgefühle oder Teamspaltung, was wiederum moralischen Stress hervorruft. Die Konsequenzen daraus können zu einem übermässigen, persönlichen Einsatz in solchen Situationen sein, welche die Gesundheit von Betreuungspersonen gefährdet oder gar zum Ausstieg aus dem Beruf führen. Ausserdem kommt es vor, dass Betreuungspersonen zur Überversorgung von betreuten Personen neigen, diese nicht ernst nehmen und ihnen Rechte zur Selbstbestimmung absprechen. Steigt der moralische Stress, ist eine qualitative Verschlechterung in der Betreuung die Folge. Eine solche Minderung zeigt sich im Extremfall in der Entmenschlichung und entwürdigender Betreuung behinderter Menschen.
Risiken, welche eine unreflektierte, nicht gerechtfertigte Distanzierung von Betreuungspersonen mit sich bringt werde ich in einem weiteren Schritt skizzieren und diskutieren. Die Thematik der Willkür, des Machtmissbrauches und dem Vorschieben von Gründen, um Pflichten nicht erfüllen «zu müssen», sind ernst zu nehmende Einwände gegen Distanzierungshandlungen. Diese Einwände werde ich meiner These gegenüberstellen.
Hauptteil
Begriffsklärung: herausforderndes Verhalten
Herausforderndes Verhalten kann sehr unterschiedlich ausgestaltet sein und sich in vielfältigen Formen und Situationen manifestieren. «Für dieses Phänomen werden vielfältige Paralellbegriffe verwendet: Verhaltensauffälligkeit, abweichendes, aggressives, bedrohliches oder festgefahrenes Verhalten» (Büschi, 2018, S. 6). In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff des herausfordernden Verhaltens verwendet (was sich im Widerspruch zu nachfolgender Definition von E. Büschi zeigt). Eine einheitliche Definition ist weder in der Praxis noch in der Theorie etabliert, weshalb ich mich an der Definition nach Eva Büschi (Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit, 2019) orientiere. Büschi nennt vier Elemente zur Definition von herausforderndem Verhalten. Diese sind:
• «umfassende externalisierende (z.B. selbst- und/oder fremdverletzende oder sachbeschädigende, sexualisierte, verweigernde Verhaltensweisen, Bedrohungen, Provokationen) und internalisierende (z. B. Antriebslosigkeit, Passivität oder Rückzug) Verhaltensweisen.
• Sie können sowohl verbal als auch nonverbal erfolgen und sich gegen die eigene Person, gegen andere begleitende Personen, gegen Mitarbeitende, Angehörige oder unbeteiligte Dritte richten.
• Sie können sich mittels spezifischer Anzeichen ankündigen oder (scheinbar) abrupt und plötzlich eintreffen.
• Sie können gezielt ausgeübt und gerichtet wirken oder aber eher impulsiv, unkontrolliert und unberechenbar». (Büschi, 2018, S. 6f)
Herausforderndes Verhalten kann sich in unterschiedlicher Intensität, Häufigkeit und Dauer zeigen. Besonders belastend für die betreute Person wie auch für betreuende Personen ist es, wenn das herausfordernde Verhalten eine stark gesundheitsgefährdende Intensität, grosse Häufigkeit und lange Dauer aufweist, Interventionen keine oder nicht die gewünschte Wirkung zeigen und zu Ohnmachtsgefühlen führen. Das wiederholte Erleben von herausforderndem Verhalten kann bei Betreuungspersonen zu psychischen und physischen Belastungen führen. Die Konfrontation im Spannungsfeld von herausforderndem Verhalten (z. B. selbstverletzendes Verhalten) der betreuten Person und/oder dem Umstand als Betreuungsperson physisch und/oder psychisch bedroht zu sein, wird als sehr belastend beschrieben. «.. .1 Iabermann-I lorstmeier und Limbeck, die Begleitpersonen in der stationären Behindertenhilfe in Deutschland befragten, stellten fest, dass herausfordernde Verhaltensweisen für gut ein Drittel der Begleitpersonen einen Belastungsfaktor darstellen» (Habermann-Horstmeier, 2016, S. 517). Um eine professionelle Betreuungsarbeit leisten zu können, bedingt dies Reflexion des eigenen Handelns und des Überprüfens und Modifizierens von Strukturen. Teamsitzungen, Supervision und Fallbesprechungen eignen sich, um belastende Situationen zu reflektieren und Strukturen zu überdenken. Diese Gefässe können auch hilfreich zur persönlichen und individuellen Vorbereitung von Betreuungspersonen auf Situationen mit herausforderndem Verhalten sein. Als «Sofortmassnahme», um sich als Betreuungsperson zu schützen, kann eine Distanzierung von der belastenden Situation sinnvoll sein. In akuten Situationen, insbesondere bei selbst- und/oder fremdverletzendem Verhalten, hat der Schutz von Betreuungspersonen grösste Priorität.
Begriffsklärung: Distanzierung
Die Distanzierung in Betreuungssituationen kann durch unterschiedliche Massnahmen erfolgen. Welche Massnahmen beziehungsweise Handlungen in der vorliegenden Arbeit gemeint sind, wird hier beschrieben. Distanzierung kann stattfinden durch:
• Das Verlassen des Raumes durch die Betreuungsperson.
• Das Abwenden des Blickes bei selbstverletzendem Verhalten von betreuten Personen.
• Das Verweigern einer Zeugenschaft bei Vorbereitungen zu deviantem Verhalten der betreuten Person, wenn diese nicht verhindert werden können.
• Das Verweigern von Antworten auf Fragen der betreuten Person, um Bestätigung respektive Legitimation für deviantes Verhalten zu erreichen oder Verwirrung und Unsicherheit bei Betreuungspersonen auszulösen.
• Das Zurückweisen von Verantwortung, wenn diese von der betreuten Person selbst übernommen werden kann.
• Das Weglaufen aus potenziell bedrohlichen Betreuungssituationen.
• Das eigene Einschliessen in sicheren Räumen.
Die genannten Massnahmen sind nicht abschliessend aufgeführt. Sie sind situationsbedingt und je nach vorhandener, aktueller Resilienz der Betreuungsperson variabel. Distanzierungshandlungen können in zwei Kategorien eingeteilt werden. Zum einen in Distanzierungshandlungen, bei denen sich die Betreuungsperson räumlich distanziert. Das betrifft Situationen, in denen die Betreuungsperson physisch bedroht ist oder in denen die Betreuungsperson eine Zeugenschaft verweigert. Zum anderen in Distanzierungshandlungen, bei denen die Betreuungsperson physisch anwesend bei der betreuten Person bleibt, aber beispielsweise bei selbstverletzendem Verhalten ihren Blick abwendet. In diese Kategorie fallen beispielsweise auch das Verweigern von Antworten auf Fragen oder die klare Zurückweisung von Verantwortung an die betreute Person, sofern diese die Verantwortung selbst tragen kann. Deutlich normabweichendes, herausforderndes Verhalten, insbesondere bei Selbstverletzung und/ oder externalisierter Gewalt, wirkt auf Beobachtende verstörend, kann Stress oder moralischen Stress auslösen und durch Integritätsverletzungen traumatische Folgen haben. Distanzierungshandlungen sind als äusserste Massnahmen zu empfehlen, um die Betreuungsperson vor akuter Gefährdung und Beeinträchtigung ihrer psychischen und physischen Einsatzfähigkeit zu bewahren. Da es sich um akute Notfallsituationen in der Interaktion zwischen Betreuten und Betreuungspersonen handelt, ist es wichtig, die Handlungsfähigkeit der Betreuungsperson gut zu schützen oder rasch wieder herzustellen. Eine Distanzierungshandlung aus der Betreuungssituation bedeutet nicht einen Abbruch der Betreuungsbereitschaft, sondern eine Verhinderung einer unmittelbaren Beeinträchtigung der Einsatzfähigkeit. Betreuungspersonen haben weiterhin die Pflicht, verantwortungsvoll den Schutz der betreuten Personen zu gewährleisten. Dieser Schutz kann sich in deeskalierenden Massnahmen zeigen, aber auch im Beizug weiterer Instanzen zur Schadensminderung der betreuten Personen, z. B. weitere Mitarbeitende, Polizei, Ambulanz, Amtsarzt und so weiter. Mittelfristig sind Distanzierungshandlungen bedeutsam, um weiterhin qualifizierte Betreuungsarbeit leisten zu können, um die notwendige Motivation, Reflexion und Kreativität in der Betreuungsarbeit zu behalten und um sich vor berufsbedingter Frustration und Enttäuschung zu schützen.
Begriffsklärung: Integrität
Im folgenden Abschnitt werde ich darlegen, wie ich die Begriffe der Integrität und Integritätsverletzung verwende. Dabei orientiere ich mich an Arnd Pollmann, der im Buch «Integrität Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie» das Thema Integrität untersucht. In dieser Arbeit werde ich einige seiner Aussagen praxisnah interpretieren und vereinfachen. An dieser Stelle will ich darauf aufmerksam machen, dass Betreuungspersonen im gleichen Masse ein Recht auf Schutz ihrer Integrität besitzen, wie die von ihnen betreuten Personen. Dieser Umstand wird in der Praxis oft unterschätzt oder fehlinterpretiert, was zu unbeachteten Integritätsverletzungen führt. Die Anerkennung der eigenen Vulnerabilität kann vor den Folgen von Ohnmacht, Krankheit und Berufsausstieg schützen.
Pollmann beschreibt vier Bedeutungsdimensionen des Integritätsbegriffes, den ethischen, den moralischen, den psychologischen und sozialpsychologischen Begriffsgebrauch. Pollmanns Bemühung ist es, die vier Bedeutungen nicht nur zu unterscheiden, sondern unter ein Dach zu bringen (Pollmann, 2018). Der ethischen Begriffsbedeutung ordnet Pollmann die «Selbsttreue», der moralischen die «Rechtschaffenheit», der psychologischen die «Integriertheit» und der sozialphilosophischen die «Ganzheit» zu. Im Kern beschreibt Pollmann das funktionierende Zusammenspiel eines unversehrten Ganzen, das die Integrität einer Person ausmacht. Wird dieses Zusammenspiel gestört oder behindert, kann von Integritätsverletzungen gesprochen werden. Pollmann betont, dass Integrität die physische und psychische Unversehrtheit wie auch die Selbsttreue einer Person umfasst. Eine Verletzung der Integrität kann daher sowohl körperliche Schäden als auch seelische Traumata verursachen. Diese Verletzungen führen oft zu einem Gefühl der Ohnmacht und einem erheblichen Verlust an Vertrauen in sich Selbst und in die Umgebung, in welcher man lebt und mit der man interagiert. Er hebt hervor, dass der Schutz der Integrität ein grundlegendes Menschenrecht ist, und dass jede Form von Gewalt eine ernsthafte Bedrohung für die menschliche Würde darstellt.
Ich werde in dieser Arbeit nicht im gleichen Masse auf alle vier Bedeutungsdimensionen eingehen. Im Kontext der zentralen Fragestellung priorisiere ich die Auseinandersetzung mit der moralischen Integrität. Im folgenden Abschnitt werde ich erläutern, wie Pollmann bezüglich der moralischen Integrität, der «Selbsttreue», verstanden werden kann. Pollmann schreibt: «. gänzlich anders geartet sind Situationen, in denen sich eine Person nahezu gezwungen sieht, eine moralisch bedenkliche oder gar verwerfliche Tat zu vollbringen, gerade um ihre Integrität zu retten» (Pollmann, 2018, S. 103). Wende ich diese Aussage auf das Distanzierungsverhalten von Betreuungspersonen an, komme ich zum Schluss, dass die Distanzierung in Betreuungssituationen aus der Perspektive des Berufsethos als bedenklich oder verwerflich angesehen werden kann. Zwingt das subjektive Empfinden von Angst, Hilflosigkeit oder der Umstand einer aktuellen Bedrohung der Betreuungsperson, sich in herausfordernden Situationen zu distanzieren, schützt sich die Betreuungsperson dadurch vor Integritätsverletzungen. Weiter schreibt Pollmann: «Man denke hier etwa an den im Anschluss an Immanuel Kant viel diskutierten Fall der >Notlüge> oder auch an Lawrence Kohlbergs berühmtes >Heinz-Dilemmata>... In Fällen dieser Art ist im Rahmen der Integritätsdebatte häufig treffend vom Phänomen >schmutziger Hände> die Rede. Hier wird ein Verlust moralischer Integrität im Sinne der Rechtschaffenheit gezielt in Kauf genommen, um dadurch die Integrität insgesamt zu bewahren» (Pollmann, 2018, S. 103 f). Angewendet auf das Distanzierungsverhalten bedeutet das, dass es Betreuungspersonen nur dann erlaubt ist, sich aus einer Betreuungssituation zu distanzieren, wenn ausreichend gute Gründe vorliegen. Diese «Erlaubnis» kann das Verhalten der Betreuungsperson nach Aussen rechtfertigen, die «Erlaubnis» allein schützt aber noch nicht vor den emotionalen Belastungen der Betreuungsperson, welche sich möglicherweise die Frage nach den «schmutzigen Händen» stellt. Wege für einen hilfreichen Umgang mit emotionalen und weiteren belastenden Aspekten werden in einem folgenden Abschnitt thematisiert.
Begriffsklärung: moralischer Stress
«Die meisten Forschungsarbeiten knüpfen an eine Form der engen Definition von MoS [moralischem Stress, T.R.] in der Tradition von Andrew Jameton an. Eine aktuelle Definition in dieser Tradition könnte etwa lauten: MoS ist ein psychischer Spannungszustand, der auftritt, wenn jemand ein moralisches Urteil gefällt hat, aber nicht danach handeln kann. Warum eine Person nicht nach ihrem moralischen Urteil (also ihrer Einschätzung, was in der Situation richtig/ falsch ist, handeln kann) liegt daran, dass sie mit Handlungsbarrieren konfrontiert ist. Nach Jameton sind solche Handlungsbarrieren vor allem in der Institution verortet, in der die Pflegekraft arbeitet, z. B. aufgrund begrenzter Ressourcen. Später ergänzte er die Möglichkeit, dass Handlungsbarrieren auch zwischenmenschlich bestehen können.» (Kühlmeyer, 2023, S. 11) In der Literatur wird zwischen externalen und internale Handlungsbarrieren unterschieden. Externale Handlungsbarrieren betreffen vorwiegend Strukturaspekte, wie Zeitmangel, Machtstrukturen oder institutionelle Handlungsvorgaben. Internale Handlungsbarrieren betreffen vorwiegend persönliche Handlungsbarrieren wie beispielsweise Selbstzweifel, Ohnmacht oder Machtlosigkeit um hier einige zu nennen. Um das Thema des moralischen Stresses einzugrenzen, beschäftige ich mich in der vorliegenden Arbeit mit den zwischenmenschlich bedingten, internalen Handlungsbarrieren. Im Kontext der praktischen Arbeit in der Betreuung von Personen mit herausforderndem Verhalten treten oft internale Handlungsbarrieren auf. Diese zeigen sich beispielsweise in selbstverletzendem Verhalten und/oder dem Verweigern von unterstützenden Betreuungsangeboten. Aggressives Verhalten gegenüber Betreuungspersonen verhindert oftmals das Erreichen von Hilfsangeboten bei betreuten Personen. Konkret lässt sich der erlebte moralische Stress von Betreuungspersonen dadurch begründen, dass selbstverletzendes und/oder aggressives Verhalten irritierend wirkt und Angst und Verzweiflung auslösen kann. Bei Betreuungspersonen bleibt dadurch ein Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit zurück. Internale Handlungsbarrieren sind für die Gesellschaft wie auch für die direkt betroffenen Betreuungspersonen schwierig zu begründen, da keine objektiven Parameter zur Messung und Kategorisierung dieser bestehen. Wesentlich erscheint mir der Umstand, dass moralischer Stress nicht als konstante Grösse betrachtet werden kann und in jedem Fall einzeln betrachtet werden muss. Dazu schreibt Kühlmeyer: «Ob MoS erlebt wird, hängt dabei wesentlich von den Bewältigungsressourcen einer Person bzw. von den Ressourcen zur Bewältigung einer moralischen Herausforderung in ihrer Arbeitsumgebung ab.» (Kühlmeyer, 2023, S. 12) « Mitarbeitende im Handlungsfeld der sog. Behindertenhilfe benötigen geeignete Strategien professionellen Handelns, um im Dialog mit anderen und der gemeinsamen Auseinandersetzung handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben. Dazu gehört sowohl die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme als auch das deutliche Benennen der Grenzen der eigenen Verantwortung.» (Schäper, 2023, S. 13) Diese Aufforderung zur
Benennung der Grenzen ist kompatibel anwendbar auf die Frage, ob es Betreuungspersonen erlaubt ist, sich in Situationen mit herausforderndem Verhalten zu distanzieren. Um Folgen von moralischem Stress abzuwenden oder zu verringern, bedarf es einer seriösen Reflexion der eigenen Wahrnehmung und der aktuellen Situation. Verantwortungsübernahme bedeutet in diesem Zusammenhang einerseits die Auseinandersetzung mit ethischen Fragestellungen, welche die Pflicht, Menschen in Not zu helfen, betreffen und andererseits sich in den Bereichen der persönlichen Wahrnehmung weiterzubilden.
Das Verringern von moralischem Stress bei Betreuungspersonen erhöht die Arbeitsqualität und verbessert somit die Situation für betreute Personen. An dieser Stelle verweise ich auf das «Eskalationsmodell moralischer Belastung» nach Baumann-Hölzle und Gregorowius (Gregorowius, 2023). Ohne dieses Modell hier detailliert zu erläutern, zeige ich einige Eckpunkte auf. Die Autoren:innen beschreiben folgende drei Steigerungsstufen moralischer Belastung aus der «Perspektive der Betroffenen»: Moralischer Stress, moralische Verletzung und moralischen Zusammenbruch. Moralischer Stress charakterisiert sich in einer «Stressreaktion aufgrund einer Dilemmasituation infolge äusserer Rahmenbedingungen, moralische Verletzung in Erschütterung von Grundüberzeugungen infolge andauernden Stresses oder schwerer traumatischer Ereignisse, moralischer Zusammenbruch durch länger andauernde, bis irreversible Störung der Grundüberzeugung infolge starken Stresses oder eines schweren Traumas» (Gregorowius, 2023, S. 26). Diesen Steigerungsstufen gegenüber formulieren sie drei weitere Stufen moralischen Stresses aus der «Perspektive des Handelnden» (Gregorowius, 2023, S. 26). Diese sind: Moralisches Versagen, moralische Verfehlung und moralisches Verbrechen. Moralisches Versagen charakterisiert sich in «unbeabsichtigtes oder auf Grund der Umstände erzwungenes Handeln gegen wichtige moralische Grundüberzeugungen. Moralische Verfehlung in bewusstes, aber auf Grund der Umstände erzwungenes Handeln gegen moralische Grundüberzeugungen und moralisches Verbrechen in bewusstes Handeln gegen moralische Grundüberzeugungen unter Wissen um die Folgen für die eigene Vorteilsnahme.» (Gregorowius, 2023, S. 26)
Das Eskalationsmodell zeigt deutlich die Dynamik moralischen Stresses auf. Hierbei wird sichtbar, welche Risiken für betreute Personen wie auch für Betreuungspersonen bestehen, wenn der moralische Stress zu gross wird. «Die Gefahr einer Eskalation (bei?) moralischer Belastungen oder moralischer Verfehlungen zeigt auf, wie dringend eine Prävention und rechtzeitige Intervention sind. Man kann von einer moralischen Verpflichtung zur Prävention und Intervention auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene sprechen» (Gregorowius, 2023, S. 32). Bemerkenswert an diesem Modell ist die neutrale Bezeichnung «der Betroffenen respektive der Handelnden». Im Kontext zur Fragestellung in dieser Arbeit können betreute Personen wie auch Betreuungspersonen Betroffene oder auch Handelnde sein. «Individuelle, organisationale oder gesellschaftliche Rahmenbedingungen sind hinsichtlich der moralischen Vulnerabilität des Menschen und mit Blick auf ethische Grenzüberschreitungen relevant und können moralische Belastungen mitverursachen. Das Eskalationsmodell möchte keine <Täter-Opfer Zuschreibung>, sondern auf moralische Vulnerabilität aufmerksam machen, die zu einem Verlust der Fürsorgebereitschaft und -fähigkeit führen kann» (Gregorowius, 2023, S. 31). Professionelle Betreuungspersonen müssen sich im Umgang mit moralischen Belastungen und moralischem Stress aktiv auseinandersetzen, um nicht zu «Handelnden» zu werden. Gregorowius gibt Empfehlungen ab und zeigt Möglichkeiten auf, sich vor moralischer Belastung zu schützen. «Änderungen der organisationalen Rahmenbedingung (Zeit- und Fachkräftemangel), Änderungen in der eigenen Haltung und des Umgangs mit belastenden Situationen (Coping), Umgang mit Spannungsfeld Sensibilität und Distanz, Ressourcen: Austausch und gemeinsame Reflexion, Weiterbildung: Erlernen von ethischen Kompetenzen, Klarheiten in Entscheidungs- und Therapiesituationen». (Gregorowius, 2023, S. 27)
Fallbeispiel: Markus und Renate
Folgendes Beispiel hat sich mit unveränderten Fakten in einem Wohnheim für psychisch kranke Menschen zugetragen. Alter und Namen wurden geändert.
Markus ein 24-jähriger, durchschnittlich intelligenter Mann lebt aufgrund seiner Verhaltensstörungen per fürsorglicher Unterbringung (FU) in einer betreuten Wohngemeinschaft. Häufiges, mehrfach tägliches, selbstverletzendes Verhalten und/oder massiv aggressives Verhalten gegenüber Gegenständen oder Betreuungspersonen sind die vorrangigen Schwierigkeiten bei seiner Alltagsbewältigung. Auffällig ist, dass sein Verhalten personenspezifisch ist und nur bei bestimmten Betreuungspersonen auftritt. Dieser Umstand lässt vermuten, dass sein Verhalten zielgerichtet ist (vgl. E. Büschi). Die Wohngemeinschaft ist spezialisiert auf die Betreuung von Personen mit besonders herausforderndem Verhalten. Die Betreuungspersonen, im Fallbeispiel Renate, sind gut ausgebildet und verfügen über ausreichend Ressourcen, um intensive Betreuungsangebote (z. B. 1:1-Betreuung) zu gewährleisten.
Markus wird am Morgen von Renate, einer ausgebildeten Betreuungsperson, geweckt. Er teilt ihr mit, schlecht geschlafen zu haben. Aus diesem Grund wünscht er sich für den heutigen Tag eine besonders enge Betreuung. Renate nimmt Markus' Anliegen ernst und betreut ihn in einem 1:1-Setting in Sichtweite. Als Markus äussert, auf die Toilette gehen zu müssen, begleitet ihn Renate bis zur Toilettentür. Aus Gründen der Privatheit erlaubt Renate ihm, sich in der Toilette einzuschliessen. Wenig später hört sie das Zerreissen von Textilien. Als sie mit dem «Notschlüssel» die Türe öffnet, sieht sie Markus, wie er sich selbst mit Stoffstreifen seines T-Shirts stranguliert hat.
Dieses Fallbeispiel ermöglicht es, zwei Aspekte der Integritätsverletzung, welche moralischen Stress begründen, herauszuarbeiten. Die Frage nach der Urteilsfähigkeit kann ebenfalls untersucht werden. Auch wenn auf diese Frage schwerlich eine zuverlässige Antwort gefunden werden kann, ist es bedeutsam, wie sensibel mit dieser von Betreuungspersonen umgegangen wird. Besondere Beachtung muss dabei dem Umstand der asymmetrischen Beziehung, welche hier besteht, geschenkt werden. Kritische Reflexion und professionelle Evaluation helfen von «Vorverurteilungen» abzusehen, den betreuten Personen aber auch das Recht auf (Selbst-)Verantwortung zuzusprechen.
Auf den ersten Blick scheint es, dass Markus alles richtig macht, da er um Hilfe und zusätzliche Unterstützung bei Renate bittet. Diese nimmt aber sein Anliegen zu wenig ernst und verletzt ihre Fürsorgepflicht, was zur Selbstverletzung von Markus führt. Bei genauerem Betrachten dieser Situation drängt sich einerseits die Frage auf, ob Markus Renate bewusst täuschte, so wie Renate das empfindet. Wenn von der Urteilsfähigkeit von Markus ausgegangen wird, er die Selbstverletzung geplant hat und die Risiken und Konsequenzen kalkuliert hat, kann diese Frage mit «Ja» beantwortet werden. Kognitiv ist Markus ausreichend in der Lage, einen persönlichen Gewinn für sich auszumachen. Dieser Gewinn kann im Sinne einer Teamspaltung, Abwertung von Renate und dadurch gewonnenem Machtgefühl begründet werden. Renate wird sich die Frage stellen, ob sie etwas anders hätte machen müssen, um die Selbstverletzung zu verhindern. Es liegt ein «vermeidbares» Dilemma in diesem Fallbeispiel vor: Der Wunsch nach Hilfe und Unterstützung von Markus und das gleichzeitige Ablehnen des Hilfsangebotes durch ihn. Um diesem Dilemma zu entgehen, ist es notwendig Markus mitzuteilen, dass er Hilfe von Renate erwarten kann, wenn er die Hilfsangebote annimmt, aber dass er für seine Handlungen selbst die Verantwortung tragen muss, wenn er die Angebote ablehnt. Renate kann die von Markus übertragene Verantwortung zurückweisen, selbstverletzendes Verhalten kann dadurch nicht in jedem Fall verhindert werden, die Integrität von Renate ist jedoch besser geschützt.
«Urteilsunfähigkeit ist keine inhärente Eigenschaft, sondern wird dem Patienten zugeschrieben. Diese Zuschreibung beruht auf einem Abwägen relevanter Informationen; sie erfolgt unter Einbezug moralischer Prinzipien Respekt vor der Selbstbestimmung des Patienten und Fürsorge. Sie gründet somit auf ethisch-normativen Überlegungen, ob dem Patienten die Entscheidungsverantwortung abgenommen werden muss.» (SAMW, 2019, S. 7)
Grundsätzlich gilt jede Person als urteilsfähig. «Urteilsfähigkeit setzt bestimmte mentale Fähigkeiten voraus. Erkenntnisfähigkeit: Fähigkeit, die für die Entscheidung relevanten Informationen zumindest in den Grundzügen zu erfassen. Wertungsfähigkeit: Fähigkeit, der Entscheidungssituation vor dem Hintergrund der verschiedenen Handlungsoptionen eine persönliche Bedeutung beizumessen. Willensbildungsfähigkeit: Fähigkeit, aufgrund der verfügbaren Informationen und eigener Erfahrungen, Motive und Wertvorstellungen einen Entscheid zu treffen. Willensumsetzungsfähigkeit: Fähigkeit, diesen Entscheid zu kommunizieren und zu vertreten.» (SAMW, 2019, S. 8)
Aufgrund der Annahme, dass grundsätzlich jede Person urteilsfähig ist und die bestimmenden Faktoren bekannt sind, gilt es, diese am Fallbeispiel zu diskutieren. Zuerst muss das Verständnis der Urteilsfähigkeit, wie sie im Text verstanden wird, geklärt und von der juristischen Urteilsfähigkeit und Schuldfähigkeit abgegrenzt werden. Das Verständnis von Urteilsfähigkeit steht hier im Kontext zu konkreten Betreuungssituationen. Die Fragen lauten: Ist sich die betreute Person ihres Handelns bewusst? Kann die betreute Person ihr Handeln steuern und trägt somit Verantwortung dafür? Ist die betreute Person Zwängen oder unkontrollierbaren Impulsen unterworfen? Liegt eine psychopathologische Störung vor oder ist die Person kognitiv nicht in der Lage, ihr Handeln zu beeinflussen?
In der Wahrnehmung von Betreuungspersonen ist es relevant, ob eine Absicht hinter dem Verhalten steht und somit eine Verantwortung für die Handlung besteht oder nicht. Einerseits beeinflusst die Beurteilung der Absicht das Empfinden von Integritätsverletzungen. Andererseits erleichtert es der Betreuungsperson, sinnvolle Interventionen durchzuführen. Ziel der Evaluation, des Wollens und der Absicht der betreuten Person ist es, Betreuungspersonen besser vor moralischem Stress und Integritätsverletzungen zu schützen. Auf diese Weise erhalten Betreuungspersonen Hinweise für ihr eigenes, begründbares und richtiges Tun.
In diesem Fallbeispiel spricht für die geplante Selbstverletzung von Markus, dass er einen Ort wählt, an dem er der engen Begleitung durch Renate ausweichen kann. Markus geht davon aus, dass er sich in der Toilette einschliessen kann, ohne besondere Aufmerksamkeit bei Renate zu wecken. Würde Markus aus Zwängen oder unkontrollierbaren Impulsen heraus agieren, hätte er sich im öffentlichen Raum stranguliert. Das hätte Renate die Möglichkeit geboten, zu intervenieren. Dieser Umstand verstärkt bei Renate das Gefühl, getäuscht worden zu sein. Aspekte der Integritätsverletzung bei Täuschungen besteht darin, der eigenen Wahrnehmung nicht zu vertrauen, dem Gefühl angelogen zu werden und im beruflichen Kontext unaufmerksam, ungenügende Arbeit geleistet zu haben. Das Gefühl, getäuscht zu werden, kann sich unter Umständen aus dem beruflichen Kontext mit negativen persönlichen Erfahrungen potenzieren. Dieses Risiko ist allen Integritätsverletzungen, welche im Berufsalltag stattfinden gemein. Berufliche und persönliche Verletzungen können in diesem Bereich nicht voneinander getrennt werden. Umso anspruchsvoller ist deren Aufarbeitung im beruflichen Setting, da für gewöhnlich in diesem eine «klare» Trennung von Beruf und Privatem vorherrscht.
Einwände gegen Distanzierungshandlungen
Anhand der Bearbeitung der zentralen Begriffe scheint sich die These zu bestätigen. In diesem Falle wäre es Betreuungspersonen moralisch erlaubt, bei herausforderndem Verhalten von betreuten Personen sich von diesen zu distanzieren. Das Risiko einer Fehleinschätzung der Umstände durch Betreuungspersonen wurde jedoch nicht angesprochen und diskutiert. Zurückblickend auf das Fallbeispiel hält die Argumentation der Urteilsfähigkeit, welche Markus zugeschrieben wird, nicht stand. Aufgrund seiner Pathologie, welche durch ihre Komplexität auch von Psychiatern nicht näher bezeichnet werden kann, ist es nicht zulässig, die Verantwortung an ihn zu übergeben. Vielmehr ist es die Pflicht der Betreuungsperson, ihn vor selbstverletzendem Verhalten zu schützen. Ob das in diesem Falle mit einer offenen oder angelehnten Toilettentür Wirkung gezeigt hätte, ist unklar. Anhand dieses Beispiels lässt sich darstellen, wie schwierig die Beurteilung der Urteilsfähigkeit und der daraus gefolgerten Selbstverantwortung ist. Wenn sich, wie im Fallbeispiel, Renate von Markus getäuscht fühlt und ihre Wahrnehmung der Integritätsverletzung an der interpretierten «Täuschung» festmacht, beachtet sie im Reflexionsprozess ihren persönlichen Anteil, der zur Strangulation geführt hat, nicht. Das heisst jedoch nicht, dass Renate nicht in ihrer Integrität verletzt wurde. Eine Aufarbeitung der Situation zum Beispiel durch begleitete Reflexion im Betreuungsteam ermöglicht es, den Blick auf andere mögliche Ursachen der empfundenen Integritätsverletzung zu richten.
Als weiterer Einwand muss der Umstand der asymmetrischen Beziehung geprüft werden. Betreute Personen und Betreuungspersonen verfügen über unterschiedliche Machtinstrumente, wobei die institutionelle Macht der Betreuungspersonen als stärker beurteilt werden kann. Betreute Personen verfügen vor allem über die Macht «über sich selbst», sie können sich regelwidrig verhalten, sich selbst verletzen und/oder externale Gewalt ausüben. In der Folge verbinden Betreuungspersonen solches Verhalten mit dem Gefühl der Machtlosigkeit. Demgegenüber steht die institutionelle Macht der Betreuungspersonen. Diese kann sich in vielerlei Massnahmen wie Isolation, Vernachlässigung, unmenschlicher Betreuung bis zum Ausschluss von Hilfsangeboten zeigen. Missbraucht eine Betreuungsperson ihre Macht, ist das ein schweres moralisches Vergehen (vgl. Eskalationsmodell Gregorowius). Institutionen der Behindertenbetreuung wie auch deren Mittarbeitende sind verpflichtet, Massnahmen gegen Machtmissbrauch durchzusetzen und Missbrauch zu verhindern. Dazu bedarf es einer verpflichtenden Dokumentation aller Situationen, bei denen die Freiheit betreuter Personen eingeschränkt wird. Jegliche Interventionen aufgrund von herausforderndem Verhalten muss schriftlich festgehalten und begründet werden. Als Instrument wird in der Schweiz zunehmend der «Bündner Standard» (Bündner Standard, kein Datum) gewählt. Dieser Einwand kann dahingehend entkräftet werden, als dass bei seriöser, pflichtbewusster Arbeit, Machtmissbrauch verhindert wird.
Gründe, mit denen sich Distanzierungsverhalten rechtfertigt, wie zum Beispiel fehlende Fachkompetenz oder ungenügende Ressourcen, müssen auf ihre Stichhaltigkeit geprüft werden. Bei ungenügender Begründung kann von vorgeschobenen Gründen ausgegangen werden. Da die persönliche Resilienz keine Konstante ist, sondern sich je nach persönlicher Situation verändert, sollte der Fokus auf die aktuelle Situation gelegt werden. Dabei liegt es am Betreuungsteam, betroffenen Betreuungspersonen Unterstützung anzubieten, um entscheidungs- und handlungsfähig zu sein. Eine vertrauensvolle, kollegiale Zusammenarbeit im Team beeinflusst die Transparenz zur Benennung von problematischen Betreuungssituationen. Sind Motivationsmangel und/oder Gleichgültigkeit gegenüber betreuten Personen Ursache für vorgeschobene Gründe, bedarf es klarer Konsequenzen, welche mit einer beruflichen Trennung von der Betreuungsperson sanktioniert werden muss. In Anbetracht, dass aufgrund der persönlichen Resilienz die Leistungsfähigkeit von Betreuungspersonen inkonstant ist, kann der Einwand nur dann ausgeräumt werden, wenn die Kompetenzen der Betreuungspersonen ausreichen, ihre persönliche Verfassung zu reflektieren und gegenüber dem Betreuungsteam zu kommunizieren.
Zur Verteidigung meiner These argumentiere ich mit dem Recht auf umfassenden Schutz der Integrität und auf das Recht der Anerkennung der Vulnerabilität von Betreuungspersonen. Dies führt dazu, dass Betreuungspersonen vor berufsbedingten Erkrankungen besser geschützt sind und weniger aus ihrem Beruf aussteigen. Das führt zu einer höheren Betreuungsqualität und erzielt langfristig einen grösseren Nutzen für die betreuten Personen. Aus ökonomischer Sicht ist es für Institutionen sinnvoll, wenn Fehltage infolge von Krankheit, steigende KT-Versicherungskosten und Neubesetzungen von Stellen vermieden werden können. Für betroffene Personen wiederum ist es wichtig, präventiv gesund zu bleiben.
Meine These werde ich dahingehend anpassen, als dass Betreuungspersonen eine Distanzierung bei herausforderndem Verhalten von betreuten Personen nur unter gewissen Bedingungen erlaubt ist.
Diese Bedingungen beinhalten: eingehende Reflexion der persönlichen Leistungsfähigkeit, seriöse Abklärung der Umstände, Einschätzung der Bedrohung, transparente Kommunikation, pflichtbewusste Dokumentation.
Distanzierungsverhalten darf nicht als Standardintervention etabliert und erst nach Abwägen alternativer Betreuungsmöglichkeiten eingesetzt werden.
Zusammenfassung
Herausforderndes Verhalten betreuter Personen stellt hohe berufliche Anforderungen an die Betreuungspersonen. Durch das explizite Schärfen des Blickes auf das Distanzierungsverhalten von Betreuungspersonen wird in dieser Arbeit ein wenig beachteter Aspekt der Interventionsmöglichkeit behandelt. Offene Fragen bleiben bezüglich anderer Interventionspraktiken wie Isolation (Einschliessen), Fixieren (Festbinden) von betreuten Personen oder der Einsatz von sedierenden Medikamenten.
In dieser Arbeit habe ich dargelegt, welches Potential Distanzierungsverhalten zum Schutz der Integrität und zum Schutz vor moralischem Stress für Betreuungspersonen birgt. Anhand der diskutierten Einwände konnte ich untersuchen, welche ernst zu nehmenden Risiken für betreute Personen durch Distanzierungsverhalten und welche komplexen Zusammenhänge zwischen Integritätsverletzung, moralischem Stress und Arbeitsgesundheit bestehen.
Um diesen anspruchsvollen Aufgaben gerecht zu werden, ist es für Betreuungspersonen wichtig, die Selbstreflexion im Hinblick auf Integritätsverletzungen und der Anerkennung der eigenen Vulnerabilität zu schulen, berufliche Kompetenzen der Ethik zu schaffen und durch Weiterbildung zu vertiefen sowie moralische Stresssituationen zu identifizieren und geeignete Massnahmen zur Verhinderung von Schäden zu setzen. Institutionen sollen zum Schutz ihrer Mitarbeitenden ihre Strukturen dahingehend überprüfen, ob die bestmöglichen Arbeitsbedingungen (betriebliches Gesundheitsmanagement) für die Gewährleistung eines hohen Gesundheitsgrades am Arbeitsplatz bestehen.,
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- Quote paper
- Thomas Riedmann (Author), 2025, Darf sich eine Betreuungsperson bei herausforderndem Verhalten betreuter Personen von diesen distanzieren?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1665377