Homosexualität und Religion in Sub-Sahara Afrika nach 1900


Magisterarbeit, 2010

108 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1. Thema und Fragestellung
1.2. Vorhaben
1.3. Literaturlage

2. Homosexualität
2.1. Definition
2.2. Theorien zur Sexualität/ Homosexualität
2.2.1. Essentialismus vs. Konstruktivismus?
2.2.2. Adams vierfache Typologie der Homosexualität
2.3. Homosexualität in Sub-Sahara-Afrika
2.3.1. Gleichgeschlechtliche Praktiken, die durch Gender definiert werden
2.3.2. Gleichgeschlechtliche Praktiken, die durch Alter strukturiert werden
2.3.3. Egalitäre Beziehungen

3. Religion: Definition

4. Die traditionellen afrikanischen Religionen
4.1. Formen und Inhalte
4.2. Traditionelle afrikanische Religionen und Homosexualität
4.3. Androgyne Gottheiten und ihre menschlichen Vermittler
4.4. Fallbeispiele
4.4.1. Die Wächter der Dagara
4.4.2. Besessenheitskulte
4.4.2.1. Der Bori-Kult
4.4.2.2. Der Ukuthwasa-Kult & Izangoma

5. Der Islam
5.1. Formen und Inhalte
5.2. Der Qur’ān und Homosexualität
5.3. Ahadīth und Homosexualität
5.4. Die Sharīa und Homosexualität
5.5. Die Sharīa in Afrika
5.5.1. Gesetzliche Grundlagen
5.5.2. Fallbeispiele
5.5.2.1. Nigeria
5.5.2.2. Somalia
5.6. Sharīa: International
5.7. Die Stimmen muslimischer „Homosexueller“ in afrikanischen Ländern
5.7.1. Südafrika
5.7.2. Nigeria
5.7.3. Kenia

6. Das Christentum
6.1. Formen und Inhalte
6.2. Ein frühes Beispiel: Der Kabaka in Buganda
6.3. Die Bibel und Homosexualität
6.3.1. Das Alte Testament
6.3.2. Das Neue Testament
6.3.3. Inklusive Lesarten der Bibel
6.3.4. Haltung afrikanischer Kirchen: Die Missionskirchen
6.3.4.1. Die anglikanische Kirche
6.3.4.1.1. Ausgangspunkte der Debatte
6.3.4.1.2. Afrikanische Stimmen
6.3.4.1.2.1. Nigeria
6.3.4.1.2.2. Uganda
6.3.4.1.2.3. Positionen anderer afrikanischer Länder
6.3.4.1.2.4. Südafrika
6.3.5. Haltung afrikanischer Kirchen: Charismatische Kirchen & Pfingstbewegung
6.3.5.1. Die Metropolitan Community Churches

7. Schlussfolgerungen

8. Anhangsverzeichnis

9. Anhang

10. Quellenverzeichnis

11. Abbildungsverzeichnis

1. Einleitung

1.1. Thema und Fragestellung

„Golden girl oder bad boy?“[1], “Weltmeisterin soll ein Zwitter sein”[2], solche oder ähnliche Titel ließen sich im Sommer 2009 in jeder Zeitung oder Zeitschrift Deutschlands und Europas finden. Die Rede ist von Caster Semenya, einer 18-jährigen Athletin aus Südafrika. Sie holte überraschend die Goldmedaille im 800-Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen in Berlin. So überraschend, dass Zweifel an ihrem Geschlecht aufkamen und sie sich einem Geschlechtstest unterziehen musste.[3] Von ihrem Sieg und ihrer Leistung war nur noch selten die Rede, wichtiger schien die Frage nach ihrem Geschlecht zu sein. Dass die Geschlechtertests allerdings schon seit dem Jahr 2000 vom IOC, dem International Olympic Committee, abgeschafft worden waren, ist weniger bekannt. In einigen Ausnahmefällen dürfen die Tests aber durchgeführt werden und Caster scheint eine solche Ausnahme zu sein. Dass hier eine Athletin aus dem subsaharischen Afrika im Mittelpunkt steht, verwundert kaum.

Die Neugier am Geschlecht und der Sexualität eines Menschen reiht sich in eine lange Geschichte ein. Das Interesse an der Sexualität, am Geschlecht oder am Sexleben anderer Kulturen oder einzelner Personen war schon immer groß. Diese Sexualisierung, die vor allem Afrika und den Orient betrifft, geht schon auf das Mittelalter zurück. Bilder von unbeschränkter, extrovertierter Sexualität, der einfachen sexuellen Verfügbarkeit afrikanischer Frauen, dem Mangel an sexueller Moral bestimmten lange Zeit das Bild vom Sexleben der „Afrikaner“. Dieses steht in engem Zusammenhang zum Stereotyp des „Wilden“. Dieser steht in ständigem Kampf mit seiner Natur und Sexualität, derer er kaum Herr wird. Dabei schwankten die Darstellungen von der Idealisierung als eine Art Paradies, bis hin zu Ablehnung der vermeintlichen Sexualität der „Anderen“.[4] Das einige Afrika auch als „Paradies“ für homosexuelle Neigungen ansahen, konnte Robert Aldrich aufzeigen. Er stellt fest, dass viele Männer, die im Zusammenhang mit dem europäischen Imperialismus standen, sexuelle und emotionale Neigungen zu Männern aufzeigten; darunter Henry Morton Stanley (1841-1904) oder Marshall Hubert Lyautey (1854-1934). Daneben gab es aber auch Schriftsteller, wie Arthur Rimbaud (1854-1891) und André Gide (1869-1951), die es vermehrt in die Kolonien zog. Einige Kolonien waren regelrecht „berühmt“ als Orte, an denen gleichgeschlechtliche Neigungen ausgelebt werden konnten.[5] Dabei konnten die Grenzen zwischen Homosexualität, intimen Freundschaften, Verbundenheit unter Männern, paternalistische oder onkelhafte Empfindungen schnell verwischen.[6] Auf der anderen Seite steht der Mythos homosexuelle Praktiken würden im subsaharischen Afrika nicht vorkommen (siehe 2.2, unten). Die Rolle von Anthropologen, die stark vom Kolonialismus geprägt waren, ist evident. Denn sie waren diejenigen, die sich dem Thema Sexualität widmeten und diese dokumentierten. Entscheidend waren ihre Vorstellungen von der Sexualität der „Afrikaner“. Oftmals wurden selektiv bestimmte Formen von Sexualität dokumentiert, andere Formen dafür ignoriert. Dies ist vor allem in Bezug auf gleichgeschlechtliche Praktiken im subsaharischen Afrika geschehen. Es entstanden verschiedene Dichotomien und Hierarchien, die nicht nur das „Andere“ abgrenzen sollten, sondern auch als „besser“ oder „schlechter“ einstuften und zugleich definierten was „normal - anormal“ ist. Die Ausblendung homosexueller Praktiken ist eine Folge dessen, was Marc Epprecht den „Heterosexismus der Ethnografie“ nennt.[7] Dennoch sollte nicht vergessen werden, dass der Diskurs über Homosexualität erst Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Hier entstand nicht nur die Abgrenzung zur Heterosexualität, sondern auch verschiedene Konzepte, die vor allem durch die Psychotherapie und die Kirche geprägt wurden (siehe 2.1, unten). Diese Konzepte sollten eine Erklärung für das „Andere“, in diesem Fall die Homosexualität liefern.

Diese Stereotype über Sexualität, insbesondere über Homosexualität, der Heterosexismus und der einsetzende Diskurs über Homosexualität prägen auch den Umgang der Religionen Afrikas - die traditionellen[8] Religionen, den Islam und das Christentum - mit dem Thema der Homosexualität. Welche Positionen nehmen die drei Religionen in Bezug auf Homosexualität ein? Gibt es Unterschiede oder Gemeinsamkeiten im Umgang mit gleichgeschlechtlichen Neigungen? Wie stellen sich gleichgeschlechtliche Praktiken im afrikanischen Kontext überhaupt dar? Wie nehmen sich Homosexuelle in religiös geprägten Gesellschaften wahr und wie werden sie von diesen wahrgenommen? Diesen Fragestellungen soll in der Arbeit nachgegangen werden.

1.2. Vorhaben

Wie das Thema der Arbeit erkennen lässt, soll es zum einen um Homosexualität, zum anderen um Religion im subsaharischen Afrika gehen und in welcher Beziehung beide Komponenten zueinander stehen. Schon der Titel macht eine Zweiteilung der Arbeit deutlich. Um sich dem Thema zu nähern, soll zunächst geklärt werden, wie sich Sexualität und in diesem Falle Homosexualität definiert. Hierzu sollen die Theorien des Essentialismus und Konstruktivismus nicht nur eine theoretische Grundlage liefern, sondern auch helfen Sexualität näher einzuordnen. Eine spezifische theoretische Basis bildet dann Barry Adams vierfache Typologie der gleichgeschlechtlichen Praktiken. In einem allgemeinen Blick auf den afrikanischen Kontinent sollen Diskurse im Hinblick auf Homosexualität im subsaharischen Afrika dargestellt werden. Zudem solle eine Vorstellung vermittelt werden, wie sich gleichgeschlechtliche Praktiken im afrikanischen Kontext ausdrücken. Hierfür sollen exemplarisch Beispiele herausgegriffen werden, die sich an Adams Typologie orientieren. Es soll auch klar werden, wie vielfältig gleichgeschlechtliche Neigungen und Praktiken aussehen können und zudem hervorgehoben werden, dass kein einheitliches Bild des „Homosexuellen“, welches universal anwendbar ist, existiert. Zugleich wird ein kurzer Einblick gegeben, wie Homosexualität im subsaharischen Afrika wahrgenommen wird.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit den drei dominanten Religionen Afrikas: den traditionellen Religionen, dem Islam und dem Christentum. Bevor alle drei Religionen einzeln betrachtet werden, wird der Versuch einer Definition von Religion vorangestellt. Ein Versuch muss es schon deshalb bleiben, da es für den Begriff der Religion keine klare eindeutige Definition gibt, allerdings verschiedene Perspektiven aus denen man dieselbe betrachten kann. Die folgenden drei Kapitel beschäftigen sich dann mit den einzelnen Glaubensrichtungen. Zunächst soll eine kurze Einführung aufzeigen, wie sich die Religionen im afrikanischen Kontext konstituieren und präsentieren. Dabei soll es jedoch nicht Aufgabe sein, die Religionen in all ihren Facetten darzustellen, sondern einen kurzen Überblick zu geben. Wichtiger wird die Rolle von Religion in Bezug auf Homosexualität sein. Dafür sollen für die sogenannten Buchreligionen, den Islam und das Christentum, die wichtigsten Quellen untersucht werden: der Qur ’ā n, Ahad ī th, Shar ī a und die Bibel. Für die traditionellen afrikanischen Religionen soll ein allgemeiner Überblick gegeben werden. Der theoretische Komplex liefert die Grundlagen für die Fallbeispiele, die einzelne Komponenten beleuchten sollen. Die Auswahl der Fallbeispiele ist auf die Quellen- und Literaturlage zurück zu führen.

Die Schlussbetrachtung soll als Zusammenfassung dienen und zudem die vorangestellten Fragen noch einmal näher betrachten.

1.3. Literaturlage

Während die Geschichte der Sexualität für verschiedene Kulturkreise relativ gut erforscht ist, so ist die Geschichte der Homosexualität bisher vernachlässigt worden. Besonders für den muslimischen Kulturkreis und für das subsaharische Afrika liegen bisher nur wenige Arbeiten vor. Beiden Themen hat sich Stephen O. Murray, amerikanischer Soziologe und Anthropologe, gewidmet und mit seinen beiden Werken „Islamic Homosexualities“ von 1997 und „Boy-wives and female husbands“ aus dem Jahre 1998 Grundlagen geschaffen. Letzteres bildet auch eines der wenigen Bücher, die sich dem ganzen subsaharischen Afrika annehmen. Daneben existieren vor allem Studien über das südliche Afrika. Marc Epprecht hat für Simbabwe und Südafrika Aufklärungsleistung vollbracht. West-, Zentral- und Ostafrika bleiben in den meisten Publikationen dagegen weit zurück. Meist sind es nur einzelne Kapitel oder spezifische Studien, sie sich mit diesen Gebieten befassen. Dabei wird weibliche Homosexualität in vielen Publikationen nur am Rande diskutiert. Eine Ausnahme bildet „Tommy boys, lesbian men and ancestral wives“ von Ruth Morgan und Saskia Wieringa. Beide haben verschiedene Frauen aus dem südlichen und östlichen Afrika, Kenia und Tansania, interviewt und deren Erfahrungen in diesem Buch zusammengefasst.

Studien zu Homosexualität in Zusammenhang mit den traditionellen Religionen Afrikas bleiben marginal. Die meisten Berichte stammen von Ethnologen, Reisenden, Regierungsbeamten, die fremden politischen Systemen entstammten, oder christlichen Missionaren. Diese waren nicht nur Außenstehende, was soziale oder sexuelle Beziehungen angeht, sondern auch was die religiösen Traditionen betraf.[9] Ein Vorreiter, allerdings nicht in Bezug auf afrikanische Religionen, bildet Gilbert Herdt, der Homosexualität in Papua Neuguinea erstmals in einem traditionellen, religiösen Zusammenhang untersuchte. Daraufhin wurde diesem Diskurs vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt, allerdings weniger im afrikanischen Kontext. Über Afrika gibt es laut Robert M. Baum bis heute keine Publikation, die sich einzig diesem Thema widmet.[10] Einzelne Berichte finden sich bei verschiedenen Autoren, wie John Beattie, John Middleton, Randy Conner oder Hermann Baumann. Oftmals beschränken sich die Aussagen jedoch auf wenige Zeilen oder Seiten.

Ähnlich sieht es im islamischen Kontext aus, indem Homosexualität bisher kaum Gegenstand der Forschung war. Asifa Siraj führt diesen Umstand auf die drei Hauptquellen des Islam, den Qur ’ā n, die Ahad ī th und die Shar ī a zurück, die vor allem die sexuelle Moral bestimmen und sich gegen gleichgeschlechtliche Praktiken aussprechen.[11] Ob sich diese These bestätigen lässt, soll sich im Laufe der Arbeit klären (siehe 5.2. - 5.4, unten). Arbeiten zum Thema Islam und Homosexualität stammen vor allem aus den letzten 20 Jahren. Stephen O. Murray hat sich 1997 erstmals in einem ganzen Buch dem Thema gewidmet. „Islamic Homosexualities“ hat den Fokus aber vor allem auf die arabische Welt und Nordafrika gerichtet; das subsaharische Afrika kommt nur sehr marginal vor. Eine weitere Monografie, die sich dem Thema in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang annimmt, stammt von Rudolf Pell Gaudio. Er betrachtet die `yan daudu in ihrem muslimischen Umfeld, was nicht nur neue Erkenntnisse in Bezug auf den Bori-Kult liefert, sondern auch aufzeigt, wie eben jene in ihrer Gesellschaft integriert werden und wie sie sich selbst wahrnehmen. Weitere Monografien zu Homosexualität in muslimischen Gesellschaften Afrikas gibt es bisher nicht.

Der letzte Teil der Arbeit widmet sich dem Christentum und Homosexualität im sub- saharischen Afrika. Auch hier ist die Literaturlage dürftig. Lediglich ein Buch befasst sich mit dem Thema Christentum, Homosexualität und Afrika: „Aliens in the household of god“ von Paul Germond und Steve De Gruchy. Dieses Buch bezieht sich auf Südafrika und betrachtet unterschiedlichste Aspekte. Nicht nur die Stimmen homosexueller Gläubiger und Pfarrer finden ihren Platz, sondern auch Betrachtungen zu einer inklusiven Lesart der Bibel, den Entwicklungen von Kirchen, die sich offen gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensweisen geben und Aspekte zu AIDS Kampagnen. Auch Studien zu den anglikanischen Kirchen in Nigeria, Uganda und Südafrika sind vielfach zu finden. Rar bleiben dagegen Studien, die sich mit den charismatischen Kirchen und der Pfingstbewegung und deren Standpunkt zu gleichgeschlechtlichen Neigungen, auseinandersetzen.

Abschließend noch ein Wort zu einigen Begrifflichkeiten. Wenn im weiteren Zusammenhang von Homosexualität die Rede sein wird, sind Menschen gemeint, die gleichgeschlechtliche Neigungen und Vorlieben hegen, ganz gleich ob sie sich selbst als schwul, lesbisch oder homosexuell definieren. Ähnlich soll mit dem Begriff „Afrika“ verfahren werden, der, wenn nicht spezifisch darauf hingewiesen wird, dass subsaharische Afrika bezeichnet.

2. Homosexualität

2.1. Definition

Der Begriff Homosexualität wurde im Jahre 1869 von dem deutsch-ungarischen Schriftsteller Karl Maria Kertbeny (1824-1882) geprägt. In seiner Flugschrift „Paragraph 143 des preußischen Strafgesetzbuches vom 14. April 1851 und seine Wiederbestätigung als Paragraph 152 im vorgeschlagenen Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund“ heißt es: „Neben dem normalsexualen Triebe der gesammten Menschheit und des Thierreiches scheint der Natur in ihrer souveränen Laune bei Manne wie Weib auch den homosexualen Trieb gewissen männlichen wie weiblichen Individuen bei der Geburt mitgegeben, ihnen eine gleichgeschlechtliche Gebundenheit verliehen zu haben, welche die damit Behafteten sowohl physisch als geistig unfähig macht, auch bei besten Willen, zur normalen Erection zu gelangen, also einen direkten Horror vor dem Gegengeschlechtlichen voraussetzt, und es dem mit dieser Leidenschaft Behafteten ebenso unmöglich macht, sich dem Eindrucke zu entziehen, welchen einzelne Individuen des gleichen Geschlechts auf sie ausüben.“[12]

Demnach bezeichnet Homosexualität also eine emotionale wie auch sexuelle Neigung zum eigenen Geschlecht, die sowohl Männer als auch Frauen betreffen kann. Dabei stellt das Wort Homosexualität an sich eine hybride Wortneubildung dar, die sich aus dem griechischen homos, der gleiche, und dem lateinischen Wort sexus, das Geschlecht, zusammensetzt.[13] In Abgrenzung dazu steht der Begriff der Heterosexualität, der emotionale und sexuelle Neigungen zum anderen Geschlecht bezeichnet.[14] Mit Einführung des Terminus Homosexualität wurde der bis dato verwendete Begriff der Sodomie[15], der seit dem Mittelalter üblich war, abgelöst.[16] Zudem wurde mit der Einführung des Begriffes eine völlig neue Kategorie geschaffen, welche die Denkweise und Wahrnehmung des menschlichen Geschlechtslebens neu strukturierte und formte. Dabei beteiligten sich verschiedene Disziplinen, ein Bild des „Homosexuellen“ zu kreieren; allen voran die Psychotherapie. Daneben hat aber auch die Kirche einen wesentlichen Beitrag zu dem Stereotyp geleistet. Während erstere den „Homosexuellen“ als eine von seinen Trieben beherrschte Person ohne freien Willen darstellte,[17] sprach sich die christliche Kirche gegen jegliche sexuelle Handlungen aus, die nicht der Fortpflanzung diente. Damit widersprachen gleichgeschlechtliche Neigungen dem christlichen Weltbild und der gesellschaftlichen Moral. Gleichgeschlechtliche Kontakte gibt es überall auf der Welt. Sie können unterschiedlichste Formen annehmen und nicht jeder, der wiederholt homosexuelles Verhalten an den Tag legt, ordnet sich selbst in die „Kategorie“ der Homosexuellen ein.[18] Nach Epprecht bezeichnet der Begriff keine einzelne Person oder ein einzelnes Verhaltensmuster, sondern eine Varietät an Leuten und sexuellen Verhaltensweisen. So gibt es Frauen und Männer, die Beziehungen zum eigenen Geschlecht hegen, sich aber nicht als homosexuell definieren und umgekehrt eben jene, die sich als schwul oder lesbisch bezeichnen. Zudem existieren viele Ausdrucksweisen innerhalb der (Homo-) Sexualität. Es gibt aktive und passive Partner, ebenso gleichwertige, so genannte „Kuschelliebschaften“, bei denen Sex eine untergeordnete Rolle spielt, Bisexuelle, Transgender[19] und Intersexuelle[20]. Das Phänomen des Cross-Dressing, das Tragen von Kleidung des anderen Geschlechts, fällt ebenfalls hier hinein.[21] Auch muss ein bestimmtes Verhaltensmuster innerhalb einer Gesellschaft von ein und derselben Person nicht immer gleich verstanden werden, da beispielsweise verschiedene Hintergründe und Partner vorhanden sein können. Gleiches gilt für eine bestimmte soziale Rolle, die verschiedentlich interpretiert und auch ausgelebt werden kann.

2.2. Theorien zur Sexualität/ Homosexualität

2.2.1. Essentialismus vs. Konstruktivismus?

Schwieriger ist die Frage nach der Gleichsetzung von männlicher und weiblicher Homosexualität zu beantworten. Hier spielen die Konzepte des Essentialismus und des Konstruktivismus einer Rolle. Beide werden in Bezug auf Sexualität angewandt. Der Essentialismus sieht Sexualität als eine Entität eines jeden Menschen an. Menschliches Verhalten wird durch genetische, biologische und physiologische Mechanismen vorbestimmt und ist von daher nicht wandelbar. Die Sexualität des Menschen wird als biologischer „Zwang“ angesehen.[22] Die Begriffe Homo- und Heterosexualität werden dabei als eine Eigenschaft des Menschen aufgefasst. Beide Kategorien sind für Essentialisten universal anwendbar, dass heißt für jeden Kulturkreis und für jede historische Epoche. Sie begründen diesen Standpunkt damit, dass gleichgeschlechtliche Praktiken in verschiedenen Kulturen und zu unterschiedlichen historischen Zeiten auftraten. Der Konstruktivismus fasst dasselbe Phänomen als soziales Konstrukt auf. Das bedeutet Sexualität ist keine unabhängige Kategorie, die objektiv auf jeden kulturellen und historischen Kontext anwendbar ist. Denn jede Kultur bestimmt für sich selbst was sexuell ist oder ob es überhaupt ein Konzept für Sexualität gibt.[23] Die Gesellschaften teilen Sexualität dann in „normale, erlaubte“ und in „deviante, tabuisierte“ Formen ein, an denen sich Individuen im Rahmen ihrer sexuellen Sozialisation orientieren. Diese Orientierung muss aber nicht lebenslang festgelegt sein, sondern wird immer wieder sozial überformt.[24] Konstruktivisten sagen, dass es zudem keinen Zusammenhang zwischen einem bestimmten sexuellen Verhaltensmuster und der Annahme einer bestimmten Identität gibt. Sexualität muss also kein Kriterium für die eigene Identität sein. Zwar teilen Gesellschaften bestimmte sexuelle Formen, aber Kontext und die Bedeutung desselben können variieren.[25] Aus konstruktivistischer Sicht müsste also eine Gleichsetzung männlicher und weiblicher Homosexualität abgelehnt werden.

Letztlich sollten beide Konzepte zusammen betrachtet werden, um ein ganzes Bild zu erhalten. Denn die Essentialisten reduzieren Sexualität allein auf das biologische, die Konstruktivisten das gleiche Phänomen auf das kulturelle; beides ist aber nicht unbedingt voneinander trennbar.[26] Zwar müssen die Konzepte von Homo- und Heterosexualität in ihrem spezifischen sozialen Umfeld betrachtet werden, dennoch sollte die biologische Komponente von Homosexualität immer im Hinterkopf behalten werden, gerade wenn es um die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Neigungen geht. Der gesellschaftliche, soziale Aspekt wird dennoch im Vordergrund stehen, da vor allem die Gesellschaft und Kultur konstituiert was Sexualität ist und was ihre Mitglieder daraus machen.

2.2.2. Adams vierfache Typologie der Homosexualität

Lange Zeit wurde das Thema der (Homo-) Sexualität in einem biologischen Sinne betrachtet und Heterosexualität mit Reproduktion gleichgesetzt, was dazu führte andere Formen von Sexualität pathologisch oder von der Norm abweichend zu betrachten.[27] Daher schlägt Barry Adam eine vierfache Typologie für eine soziale Strukturierung von Homosexualität vor:

(1) Homosexualität, die durch Alter strukturiert wird (age-structured)
(2) Homosexualität, die durch Gender definiert wird (gender-definded)
(3) Egalitäre Beziehungen
(4) Homosexualität, die durch den Beruf bestimmt wird (profession-defined)[28]

Gleichgeschlechtliche Praktiken, die auf einer Altersstrukturierung basieren, kommen in vielen Gesellschaften vor; bekannt geworden ist diese vor allem unter Männern im alten Griechenland. Hier gibt es immer einen älteren und einen jüngeren Partner, die verschiedene Rollen einnehmen. Ein veralteter Begriff ist der der Knabenliebe oder die Päderastie. Der Ältere, wird meist als der maskuline, aktive Partner angesehen, der Jüngere nimmt dabei eine „feminine“, passive Rolle ein.[29] Gender-definierte Homosexualität bedeutet, dass ein Partner seine oder ihre sexuelle Identität, die normalerweise seinem oder ihrem biologischen Geschlecht entspricht, aufgibt und Ansprüche auf die Identität des anderen Geschlechtes erhebt. Die homosexuelle Beziehung wird somit einem heterosexuellen Muster unterworfen.[30] Beide Formen, altersstrukturierte und Gender-definierte Homosexualität, können im Zusammenhang auftreten und kommen u.a. bei den Ila, Krongo, Mesakin, Nyoro, Ondonga und Zulu vor (siehe 2.3, unten). Bei den vorangegangenen Formen, werden die Partner durch ihren sozialen Merkmale und ihre Rollen bei sexuellen Kontakten voneinander unterschieden. Diese Rollen existieren bei egalitären Beziehungen nicht. Beide Partner ähneln sich in ihren sozialen Merkmalen und nehmen sowohl aktive als auch passive Rollen ein. Oftmals haben beide ein ähnliches Alter, selbst wenn dies nicht der Fall ist, würde dieser Unterschied die sexuelle Rolle nicht bestimmen. Beide Partner behandeln sich als sozial Gleichrangige.[31] Die letzte Kategorie von Homosexualität, die in Zusammenhang zu einem Beruf steht, spielt für Afrika nur eine untergeordnete Rolle. Darunter fällt u.a. die Prostitution, aber auch die Drag Queens. Alle Formen existieren oft nebeneinander in einer Gesellschaft, wobei aber meist einer Form sichtbarer ist als die anderen.[32]

2.3. Homosexualität in Sub-Sahara-Afrika

„ […] Same-sex sexual contact probably occurs everywhere.”[33] So beginnt Stephen O. Murrays Buch „Homosexualities“, dennoch herrscht vor allem in den afrikanischen Ländern, die Meinung vor, Homosexualität sei „unnatürlich“, ein westlicher Import und von daher „unafrikanisch“. Der ehemalige Präsident Tansanias Julius Nyerere war einer der ersten Staatschefs, die sich negativ über Homosexualität äußerten. Im Oktober 1973 im Interview mit dem deutschen Schriftsteller Hubert Fichte, äußerte Nyerere, dass homosexuelle Beziehungen unnatürlich seien und geächtet werden sollten.[34] Andere staatliche Führer wie Robert Mugabe aus Simbabwe oder frühere Staatschefs wie Daniel Arap Moi aus Kenia, Frederick Chiluba aus Sambia oder Sam Nujoma aus Namibia äußerten sich ähnlich über Homosexualität.[35]

Der Gedanke, in Afrika existieren keine gleichgeschlechtlichen Praktiken, wurde jedoch schon im 18. und 19. Jh. von den Europäern aufgegriffen, als diese den afrikanischen Kontinent in unzähligen Missionen weiter erforschten. Hierbei entstanden eine Vielzahl von Publikationen zu verschiedenen Ethnien. Im Mittelpunkt stand dabei auch immer das sexuelle Verhalten, wobei über gleichgeschlechtliche Praktiken nur marginal berichtet wurde. Edward Gibbon stellte in seiner „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ aus dem Jahr 1781 die These auf, Homosexualität würde in den afrikanischen Gesellschaften nicht vorkommen. Sir Richard Francis Burton (1821-1890) bestätigte ein Jahrhundert später diese mit den Worten: „[…] The negroe race is mostly untainted by sodomy and tribalism […]“.[36] Burton, der Reisen nach Südasien, Südamerika, Afrika und in den mittleren Osten unternommen hatte, wurde erstmal 1845 bei einem Aufenthalt in Indien mit Homosexualtät konfrontiert. Unter General Sir Charles Napier erhielt er die Aufgabe ein paar nahe gelegene Bordelle, in denen vorrangig junge Männer und Eunuchen ihre Dienste anboten, zu untersuchen. Ob seine Faszination gegenüber sexuellen Praktiken hier begann ist unklar, dennoch wird diese [Faszination] in seinem berühmten Werk „The thousand and one nights“ deutlich.[37] Vier Kapitel setzen sich mit dem Thema Homosexualität auseinander. Im Kapitel über Päderastie erörtert er erstmals seine These einer sotadic zone, welche die homosexuelle Welt von jener unterschied, in der dergleichen nicht auftrat. Burton behauptet, dass die Ursache für Homosexualität geografisch und klimatisch bedingt sei und er steckte ein Gebiet, das sich 43° nördlich des Äquators bis 30° südlich erstreckte, ab. Die Zone umfasste Südfrankreich, Spanien, Italien, Griechenland, die nordafrikanische Küste, Kleinasien, Mesopotamien (Irak, Syrien und Türkei), Afghanistan, Teile Indiens (u.a. Kashmir und Pubjab), China, Japan, die Südseeinseln und Amerika. Er konstatiert:

„Within the Sotadic Zone the Vice is popular and endemic, held at the worst to be a mere peccadillo, whilst the races to the North and South of the limits here defined practice it only sporadically amid the opprobrium of their fellows who, as a rule, are physically incapable of performing the operation and look upon it with the liveliest disgust. […] Roman civilization carried pederasty also to Northern Africa, where it took firm root, while the negro and negroid races to the South ignore the erotic perversion, except where imported by foreigners into such kingdoms as Bornu and Haussa.”[38]

Auch hier tritt also schon die These auf, dass Homosexualität, wenn sie denn in afrikanischen Kulturen vorkomme, eingeführt worden war. Andere, wie Apolo Kagwa, Ferdinand Weine oder Wilhelm Schneider, stellten fest, dass Sodomie ebenso in Afrika auftrete. Sie führten diesen Umstand darauf zurück, dass Homosexualität durch nicht-afrikanische Gesellschaften, allen voran arabischen Händlern oder Europäern, eingeführt worden wäre. Dass diese Meinungen bis heute weiter vorherrschen, zeigt die Studie „Homosexuality in Ethiopia“ von Daniel Iddo Balcha aus dem Jahr 2009. Er zitiert den Autor Haile G. Mammo, der in seinem Buch “The truth about Homosexuality in Our City” schreibt:

„ […] [T]hat homosexuality has nothing to do with Ethiopian Culture or history. […] It was introduced by foreigners who came to Ethiopia on mission usually involving rape or payment. Then it was ‘imported’ by Ethiopians who had been living abroad for an extended period of time or other Ethiopians who travel abroad frequently. […]”.[39]

Aber auch innerhalb Afrikas herrschen Meinungen vor, dass Homosexualität ein Import anderer afrikanischer Gesellschaften sei.[40] So behaupten beispielsweise die Menschen im Süden Nigerias, dass homosexuelles Verhalten bei ihnen nicht vorkomme, sondern nur bei den Muslimen, den Hausa, im Norden.[41] Bei den Sudanesen sollen es wiederum türkische Plünderer, während es bei den östlichen Bantusprechern die Nubier eingeführt haben sollen.[42]

Das überhaupt eine Debatte über Homosexualität im afrikanischen Kontext angeregt wurde, ist indirekt dem simbabwischen Staatschef Robert Mugabe zu verdanken. Im Jahre 1995 wollten die Organisation Gays and Lesbians of Zimbabwe (GALZ) einen der insgesamt 400 Stände auf der Internationalen Buchmesse von Simbabwe (Zimbabwe International Book Fair) beantragen. Unterstützt wurden sie dabei von der Publishers Association of South Africa. Im März desselben Jahres erhielten sie die Lizenz, einen Stand zu betreuen. Bereits eine Woche vor Beginn der Messe wurde der Leitung jedoch ein Brief des damaligen Informationsdirektors Bornwell Chakaodza zugestellt, in welchem es hieß, dass man GALZ den Stand absprechen müsse, da weder die Gesellschaft noch die Regierung Simbabwes die Zurschaustellung homosexueller Literatur billige. Man setzte die Bewilligung des Standes mit der Akzeptanz von Homosexualität gleich. Robert Mugabe eröffnete die Messe am 01. August 1995 mit folgenden Worten:

„I find it extremely outrageous and repugnant to my human conscience that such immoral and repulsive organizations, like those of homosexuals who offend both against the law of nature and the morals of religious beliefs espoused by our society, should have any advocates in our midst and elsewhere in the world. “[43]

Letztlich wurde der Stand geschlossen, blieb aber für alle sichtbar auf der Messe stehen, wo dieser bald zum Anlaufpunkt vieler Menschen wurde. Lokale und Internationale Medien berichteten von dem Vorfall und öffentliche Diskussionen in benachbarten Ländern (Namibia, Lesotho, Botswana und Swaziland) wurden angeregt.[44]

Die Aussage Mugabes lässt auch Rückschlüsse auf die rechtliche Lage Homosexueller in Afrika zu. Lediglich Südafrika hat im Zuge seiner Unabhängigkeit als erstes Land weltweit die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verboten.[45] In allen anderen afrikanischen Staaten stellt sich die Lage anders dar. Die Mehrheit der afrikanischen Länder stufen Homosexualität als illegal ein, dabei ist die Zahl in den letzen 10 Jahren (1998-2000) sogar von 30 auf 37 Länder gestiegen (siehe Anhang 1, unten). Gefängnis- und Geldstrafen sind dabei die häufigsten Strafmaßnahmen. Aktuelle Debatten finden sich in Burundi und Uganda. Am 22. April 2009 verabschiedete Pierre Nkunrunziza, der momentane burundische Präsident, ein neues Strafgesetzbuch, in welchem erstmals Beziehungen zwischen Menschen des gleichen Geschlechts verboten wurden.[46] Am 14. Oktober 2009 wurde auch in Uganda ein Gesetz gegen Homosexualität eingereicht. Dieses sieht eine lebenslange Haftstrafe für Frauen, die gleichgeschlechtliche Beziehungen führen und die Todesstrafe für Schwule und Aktivisten vor. Zusätzlich sollen all jene gestraft werden, die homosexuelle Menschen decken bzw. sich für die Rechte eben jener einsetzen.[47] In den islamisch geprägten Ländern, in denen auch die Sharīa gilt, sind härtere Strafen angesetzt. Da aber ein direkter Zusammenhang zur Religion gegeben ist, wird die Sharīa zu einem späteren Zeitpunkt durchgesprochen (siehe 5.4. und 5.5, unten).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Legaler Status von Homosexualität in Afrika (Stand 1998)

Quelle: o.V.: Legal status of Homosexuality in Africa. 1998.

[online: http://www.afrol.com/html/Categories/Gay/backgr_legalstatus.htm; 07.11.09]

Mag auch das westliche Konzept von Homosexualität in Afrika fremd sein, gleichgeschlechtliche Praktiken sind es nicht. Stephen O. Murray und Will Roscoe konnten in über 50 afrikanischen Gesellschaften gleichgeschlechtliche Strukturen nachweisen. Viele dieser [Gesellschaften] haben eigene Termini, mit teils mehreren Bedeutungen. Die bekanntestes sind wohl die `yan daudu der Hausa oder die mashoga der Swahili. Es lassen sich verschiedenste Bezeichnungen in allen vier Sprachfamilien finden.

Folgt man Barry Adams vierfacher Typologie, so lassen sich in Afrika immerhin drei der vier Muster vorfinden: altersstrukturierte, Gender-definierte und egalitäre gleichgeschlechtliche Beziehungen, sowohl für Männer als auch für Frauen. Dabei gab es viele Indizien, die für einen indigenen Ursprung sprechen, wobei jedoch Einflüsse nichtafrikanischer Herkunft durchaus vorkamen. Beweise dafür, dass eine spezifische Gruppe (wie die Araber oder Europäer) Homosexualität in Afrika „eingeführt“ hätte, so wie vielfach behauptet wurde, konnten nicht ausgemacht werden.[48] Den statistisch größten Anteil machen die Gender- definierten Beziehungen aus, gefolgt von den Altersstrukturierten und den egalitären Verhaltensmustern. Dabei können sich die drei Typen auch überschneiden. Wie sehen diese Beziehungen nun konkret aus?

2.3.1. Gleichgeschlechtliche Praktiken, die durch Gender definiert werden

Besonders hier gestaltet es sich sehr schwierig ein spezifisches Beispiel wiederzugeben, da sich die meisten Berichte auf wenige Zeilen beschränken. Ausführliche Beispiele finden sich lediglich für die `yan daudu in Nigeria und die washoga in Kenia. Da beide aber im Bereich der traditionellen Religionen (siehe 4.4.2.1, unten) bzw. im muslimischen Kontext (5.6.2. und 5.6.3, unten) gute Fallbeispiele liefern, sollen sie nicht besprochen werden. Daher soll und muss sich auf einen kurzen Überblick beschränkt werden.

Homosexualität, die durch einen Wechsel der sexuellen Identität gekennzeichnet wird, ist die häufigste Form in Afrika. Dort wo es auch zu Disparitäten im Alter kommt, ist es meist der Jüngere, der eine von seinem biologischen Geschlecht abweichende soziale Rolle einnimmt.[49] Oft spielt dieser Rollenwechsel auch in einem religiösem Zusammenhang eine wichtige Rolle (siehe 4.2, unten). Ohne eine religiöse Signifikanz zu haben ist diese Form gleichgeschlechtlicher Beziehungen u.a. für die Nandi (Kenia), Dinka, Ottoro und Nuer (Sudan), Konso und Amhara (Äthiopien), Fanti (Ghana), Ovimbundu (Angola), Tsonga (Südafrika), Tanala und Bara (Madagaskar), Wolof (Senegal), Lango, Iteso, Gisu und Sebei (Uganda) belegt.[50]

Unter den Basongye in der Demokratischen Republik Kongo gibt es die so genannten kitesha (Pl. bitesha), eine alternative Geschlechterrolle für Männer und Frauen. Männer legen dabei weibliches Verhalten an den Tag und tragen weibliche Kleidung. Die kitesha können also männliche soziale Rollen ablegen und die der Frauen annehmen. Dies wird gesellschaftlich akzeptiert. Über ihre Rolle in Bezug auf ihr Sexualverhalten waren sich die Informanten jedoch uneins: sie reichte von homosexuellen Verhaltensweisen über exhibitionistische Heterosexualität bis hin zur Asexualität.[51] Ähnliches wird aus dem Senegal berichtet von den sogenannten gor-digen, Mann-Frauen, die weibliche Kleidung, Make-up und weibliche Frisuren tragen. Oft werden diese Männer mit Prostitution in Verbindung gebracht; ähnliches wird für die `yan daudu in Nigeria und die washoga in Kenia berichtet.[52] Oft tritt diese Form der Homosexualität auch in Zusammenhang mit der alterstrukturierten Form auf, wie am Beispiel der Mossi sehen kann.

2.3.2. Gleichgeschlechtliche Praktiken, die durch Alter strukturiert werden

Die gleichgeschlechtlichen Praktiken, die durch das Alter strukturiert sind, nehmen den zweithäufigsten Platz im subsaharischen Afrika ein. Hier gibt es eine ganze Spannbreite von Beziehungen, die institutionalisiert sein können, wie beispielsweise bei den (A)zande oder Mossi. Daneben existieren Formen, die nicht institutionalisiert sind. Oft tritt diese Form in Zusammenhang mit einer Trennung der Geschlechter auf und ist an afrikanischen Königshöfen, in Krieger-Camps, in Internaten oder bei der Minen- und Plantagenarbeit zu finden.[53] Sie tritt u.a. bei den Anyin, (A)zande, Bangala, Mossi, Pangwe, Tsonga, Xhosa oder Zulu auf.[54]

Am Königshof der Mossi (im heutigen Burkina Faso) gab es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen den Chiefs und den sogenannten soronés (Pagen). Die Jungen im Alter von sieben bis fünfzehn Jahren, dienten, als Frau gekleidet den Chiefs. Dabei wurden ihnen weitere weibliche Attribute, die jedoch in der Literatur nicht weiter benannt wurden, zugeschrieben. Darunter fiel auch die sexuelle Rolle der Frau, die sie vor allem mit den Chiefs vollzogen, da diesen freitags der sexuelle Verkehr mit Frauen versagt war. Die Pagen wurden zudem in Staatsgeheimnisse eingeweiht und mussten jährliche Tests bestehen, um nachzuweisen, dass sie keinen Geschlechtsverkehr mit Frauen hatten. Hatten sie die Geschlechtsreife erreicht, gab ihnen der Chief eine Frau. Im Gegenzug erhielt dieser das Erstgeborene. War diese ein Junge trat er in die Nachfolge seines Vaters und wurde ebenfalls soroné; ein Mädchen wurde in Heirat gegeben.[55] Hier verbinden sich zwei der drei Typen von Homosexualität miteinander: der altersstrukturierte und der Gender-definierte Typ. Dass gleichgeschlechtliche Praktiken an Königshöfen durchaus üblich waren, zeigen auch die Baganda (siehe 6.2, unten) und die (A)zande. Letztere sind vor allem von Evans-Pritchard untersucht worden, der Homosexualität als gängige Praxis an den Königshöfen bezeichnete. Er berichtet von Prinzen, die sich Jungen im Alter von 12 bis 20 Jahren als Pagen auswählen. Vor der Konsultierung des „Giftorakels“ (poison oracle), das dem Auffinden von Hexerei diente, war es den Prinzen verboten geschlechtlichen Verkehr mit Frauen zu vollziehen. Daher wandten sie sich an die Pagen. Dabei schloss Evans-Pritchard nicht aus, dass einige den Geschlechtsverkehr mit Jungen auch deshalb vollzogen, weil sie Gefallen daran fanden.[56]

Ein weiteres Beispiel altersstrukturierter Homosexualität findet sich im südlichen Afrika bei den sogenannten wives of the mines. Es handelt sich um gleichgeschlechtliche Beziehungen, die vor allem zwischen Männern unterschiedlichen Alters auftreten, seltener zwischen Gleichaltrigen. Sie ist für die Tsonga, Xhosa und Zulu belegt. Erstmals wurde man zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im sogenannten Taberer Report von H.M. Taberer,[57] auf Homosexualität in den Minen des südlichen Afrikas aufmerksam. Der Report berichtet von sexuellen Beziehungen, die metsha genannt wurden, zwischen älteren und jüngeren mosambikanischen Minenarbeitern.[58] Jeder, der involvierten Männer, nimmt eine bestimmte soziale Rolle ein. Der Jüngere übernimmt Aufgaben, die aus dem Tätigkeitsbereich der Frauen stammen. Hierzu zählt u.a. das Kochen, Bügeln und Wasser holen. Philemon, ein Informant T. Dunbar Moodies, welcher selbst in den 1940er bis 1960er Jahre in den Minen gearbeitet hatte, sagte zudem aus, dass die jüngeren Männer meist auch femininer auszusehen hatten. Dafür musste dieser sich rasieren. Daneben kam auch das cross-dressing, das Tragen von weiblicher Kleidung, vor.[59] Der ältere Partner überhäufte seinen inkotshane, so wurden die jüngeren Männer genannt, mit Geschenken, Geld und Essen. Ein Bericht von 1927 vom Missionar Henri Junod zeigt ähnliche Strukturen für die Tsonga auf. Die sogenannten boy- wives, nkhonsthana genannt, haben eine ganz ähnliche Rollenverteilung. Die sexuellen Kontakte sind dabei eng an sexuelle Spiele, die beim Heranwachsenden der Nguni, Xhosa und Zulu vorkommen, angelehnt. Der Sex wird dabei zwischen den Oberschenkeln vollzogen. Dies ist auch die häufigste Form von sexuellen Kontakten zwischen heterosexuellen Jugendlichen und sie bleibt es, bis zur Heirat.[60] Die jüngeren Partner wachsen mit der Zeit aus ihrer Rolle heraus und können sich dann wiederum selbst einen Jungen zum boy-wife nehmen. Sie übernehmen dann die Rolle des Älteren. Es gibt verschiedene Gründe für diese Art von Beziehungen. Zunächst durften die Minenarbeiter keine Frauen in den nahe gelegenen Städten besuchen. Dieses Verbot wurde aufgehoben, dennoch traten die Beziehungen weiter auf. Von daher kann sexuelle Frustration, wie Charles van Onselen sie anführt, kein alleiniger Grund für diese Form gleichgeschlechtlicher Kontakte sein.[61] Sicherheit, Besitz (in Form von Geschenken und Geld) oder einfach nur Spaß sind die häufigsten Gründe. Die Geldgeschenke ermöglichten den jüngeren Partnern zudem, zusätzlich Geld zu verdienen, um später selbst heiraten zu können. Aber auch verheirate Männer pflegten die Beziehungen, so wurde die Minenheirat sowohl von den Dorfältesten als auch von Ehefrauen der betreffenden Männer akzeptiert.[62]

Als letztes Beispiel sollen die so genannten Mummy-Baby -Beziehungen in Swaziland und Lesotho dargestellt werden. Damit soll der Fokus auf gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen Mädchen und jungen Frauen gerichtet werden. Diese Form kommt häufig an Internaten, Schulen aber auch innerhalb von Dörfern vor. Judith Gay berichtete erstmals von diesem Verhaltensmuster in Lesotho. Ein älteres Mädchen, die die Rolle der Mummy einnimmt, sucht sich ein jüngeres Mädchen, die die Baby -Rolle Inne hat. Es gibt eine klare Rollenverteilung. Die Mummy-Rolle wird von Frauen im Alter von 15-35 Jahren, die des Babies von 8-24 jährigen Mädchen eingenommen. Dabei sind die Rollen stark an die zwischen Mutter und Tochter angelehnt. Der Älteren wird mit Respekt begegnet. Sie kann entscheiden wer ihr Baby wird und auch welcher Natur die Beziehungen sein soll. Oftmals sind Geschenke involviert, die von der Älteren an die Jüngere gegeben werden. Treffen werden ebenfalls von den Mummies festgesetzt. Eine intime Komponente kann, muss aber keine Rolle spielen. „[…] [B]etween mummies and babies it is like an affair, a romance, and being alone together to hug and kiss each other is always a part of it.”[63] Auf Nachfrage Gays inwieweit Sex wie “zwischen Frau und Mann” vollzogen wird, wurde dies von älteren Frauen zunächst verneint. Jüngere Frauen bestätigten allerdings, dass es zu dieser Art Intimität komme und dass einige Mädchen so lernen würden, wie man „Liebe macht“.[64] Die gleiche Art von Beziehungen findet man auch in Swaziland, wo es als typisches Verhaltensmuster an Internaten gilt. Die Swazi erwarten jedoch, dass diese Art von Beziehungen nach dem Schulabgang aufgegeben wird.[65] Dass dies nicht immer der Fall ist, zeigt sich bei Ruth Morgan und Saskia Wieringa, die verschiedene Frauen, aus unterschiedlichen Länder interviewten, darunter ein Paar aus Swaziland, das aus einer Mummy-Baby-Beziehung heraus entstand. Neben der gegenseitigen emotionalen Unterstützung, dienen diese „Partnerschaften“ als Netzwerk sowohl für verheiratete als auch unverheiratete Frauen, die neu in eine Stadt, ein Dorf oder an eine Schule kommen. Judith Gay sieht im Verhalten der Mädchen eine Art Sozialisierung in die spätere Frauenrolle als Erwachsene. Dazu zählen auch Spiele wie Kochen oder Heirat, denen die Mädchen regelmäßig nachgehen. Sie bezeichnet diese Beziehungen als „institutionalisierte Freundschaften“.[66] Im Vergleich zu anderen Studien schlägt sie zudem vor, dass diese Freundschaften einen Teil der Rolle der verfallenden Initiationsriten übernehmen. Bei den Lovedu und den Venda werden Mädchen durch eine Lehrerin für das Sexleben als Erwachsene vorbereitet. Die „Freundschaften“ füllen dieses Vakuum, da die Initiationsriten rückläufig sind und immer weniger vorkommen. Der Punkt, dass die Basothofrauen sexuelle Aspekte nur mit Frauen besprechen, die bereits Kinder geboren haben, spielt mit Sicherheit auch eine Rolle. Mütter besprechen diese Angelegenheiten nicht mit ihren Töchtern, weshalb Gay annimmt, dass dies von den M ummy- Baby -Beziehungen kompensiert wird.[67] Auch Gay unterschlägt eine Komponente, nämlich dass es mit Sicherheit auch Mädchen gibt, die diese Beziehungen eingehen, weil sie sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen. Wieringa und Morgan liefern wiederum Beweise, dass auch dieser Aspekt eine Rolle spielt.

2.3.3. Egalitäre Beziehungen

Die egalitären Beziehungen, bei denen beide Partner aus gleichen sozialen Hintergründen stammen, sind u.a. für die !Kung und die Nama aus dem südlichen Afrika, die Fon (Benin), die Bafia (Kamerun) und die Nyakyusa (Tansania) nachgewiesen. Es handelt sich jeweils um gleichgeschlechtliche Kontakte unter Männern. Reziproke Beziehungen unter Frauen sind ebenfalls für die Nyakyusa (Tansania) sowie für die Nupe (Nigeria), Tswana (Botswana), die Mongo (Demokratische Republik Kongo), Azande (Sudan),[68] Akan (Ghana) sowie Nandi (Kenia)[69] nachweisbar. Sie können in sämtlichen Altersklassen auftreten, da sie vom Alter unabhängig sind. In Afrika kommen diese aber vermehrt im Jugendalter vor.

Die Nyakyusa, welche am Lake Nyasa im heutigen Tansania leben, bieten ein Beispiel für egalitäre gleichgeschlechtliche Beziehungen. Es herrscht eine starke Geschlechtertrennung vor, weshalb es vor allem zwischen Herdenjungen oder aber zwischen Männern und Jungen, seltener zwischen erwachsenen Männern, zu sexuellen Kontakten kommt. Dies steht in engem Zusammenhang damit, dass die Dörfer der Nyakyusa aus Gruppen von Jungen oder aus Männern und ihren Frauen bestehen. Die Frauen und kleinen Kinder gehören dabei zu den Dörfern ihrer Männer bzw. ihres Vaters. Eine Aufgabe, die den Söhnen im Alter von sechs bis zehn Jahren zugetragen wird, besteht aus dem Hüten der Rinder ihrer Väter. Diese aufwendige Tätigkeit führt dazu, dass die Jungen viel Zeit miteinander verbringen.[70] Sie bilden den Kern der zukünftigen Dörfer. Denn heranwachsende Jungen ziehen im Alter von zehn oder elf Jahren aus den Dörfern ihrer Väter und bilden eigene neue Gemeinschaften, in welchen nur Jungen gleichen Alters vorkommen. Im Dorf bleiben die Jungen bis zur Heirat unter sich.[71] Die Beziehungen beginnen in einem Alter von zehn bis vierzehn Jahren und bleiben meist bis in das junge Erwachsenenalter bestehen; bis die Heirat ansteht. Monica Wilson, die eine Studie zu den altersstrukturierten Nyakyusa-Dörfern durchführte, konstatiert:

„When out herding, some of the older boys do evil with the young ones, the older persuades the little one to lie down with them and to do what is forbidden with them between the legs. Sometimes two older boys who are friends do it together, one gets on top of his fellow, then he gets off and the other one mounts.”[72]

Die Beziehungen werden nach der Heirat aufgeben und sollen im Erwachsenenalter nicht mehr vorkommen, da heterosexuelle Beziehungen eingegangen werden. „A man never dreams of making love to another man - only of making love to a woman.“[73] Dies schließt jedoch nicht aus, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Erwachsenen nicht vorkommen. Zudem soll es bei den Nyakyusa auch lesbische Aktivitäten geben. Wilson nimmt an, dass es sich meist um ältere Frauen in polygamen Haushalten der Chiefs handele.

Genauere Informationen konnte sie jedoch nicht geben.

3. Religion: Definition

Den Begriff Religion zu definieren, stellt kein leichtes Unterfangen dar. Das stellte schon Sundermeier fest. Es gibt verschiedenste Definitionsansätze: Maximal- und Minimaldefinitionen halten sich das Gleichgewicht, können inklusiv wie auch exklusiv verstanden werden und sind dann immer noch nicht ausreichend, um den Begriff zu fassen. Der Begriff Religion sollte zudem „ein Phänomen [beschreiben], das einerseits weltweite Gültigkeit und Verbreitung besitzt“ und andererseits unterschiedlichste „Wirklichkeiten“[74] auf den Punkt bringt.[75] Religion ist also zunächst als allgemeiner Begriff zu verstehen. Sundermeier selbst gibt keine eindeutige Definition von Religion, vermutlich schon deshalb weil man Religion nicht eindeutig definieren kann. Er meint Religion müsse als das gesehen werden, was sie ist und als nichts anderes. Damit versucht er Religion aus der Perspektive jener zu betrachten, die in ihr leben und von ihr bestimmt werden.[76] Der Auffassung Sundermeiers ist durchaus zu folgen, dennoch können verschiedene Ansätze helfen, den Begriff einzuordnen. Philosophische, soziologische, religionswissenschaftliche wie auch theologische Ansätze können durchaus verschiedene Perspektiven auf Religion und was diese eigentlich darstellt eröffnen. Einige Ansätze sollen heraus gegriffen werden, da eine Aufstellung sämtlicher Perspektiven in diesem Zusammenhang kaum möglich sein wird und auch nicht das Thema dieser Arbeit darstellt.

Um sich einer Definition zu nähern, sollte zunächst geschaut werden, wo der Ursprung der Religion liegt. Warum begannen die Menschen an eine höhere Macht zu glauben? Welchem Zweck dient Religion und warum brauchen wir sie? Anfangs diente Religion den Menschen als Erklärung für ihr Sein, die Welt und ihre Besonderheiten. Volkhard Krech spricht von zwei Welten, in denen der Mensch lebte: „[…] [I]n einer Welt des Alltags, in der sie sich häuslich einrichteten und sich die Natur und die Dinge zunutze machten, sowie in einer Welt, die jenseits des Alltags in das weite Reich der Phantasie wies.“[77] Dabei zeigte sich die „jenseitige“ Welt in verschiedenen Sphären, wie z.B. in der Natur und steht in wechselseitigen Bezug zur diesseitigen Welt. Zudem bot der Alltag an, Fragen nach einer dahinter verborgenen Welt zu stellen und dieses Wissen half den Menschen die Schwierigkeiten ihres Seins zu meistern. Der Umgang mit der jenseitigen Welt gab den Menschen die Möglichkeit an der Natur, an ihrem Sein teilzuhaben. Bis heute halten die Menschen daran fest die Welt religiös zu interpretieren, dabei spielt Religion für einige mehr, für andere weniger eine Rolle. Religion lässt den Menschen zum Ursprung des Lebens, des Seins, zurückkehren, dort wo das Leben jenseits von Funktionalität und Nützlichkeit existierte.[78]

Etymologisch stammt der Begriff Religion aus dem Lateinischen. Dabei ist unklar, auf welches Ursprungswort der Terminus zurückgeführt werden kann. Cicero leitet religio von relegere ab und meint den „immer erneut entgegenzubringenden Dienst der Verehrung“. Augustin wiederum führt den Begriff auf religare zurück, welcher die Verbindung zu Gott zum Ausdruck bringt.[79] Der Terminus stammt aus der römischen Kultur und wurde zunächst nur zögerlich von der christlichen Theologie rezipiert und auf das Christentum angewandt. Die eigenständige, allgemeine Verwendung des Begriffes stammt aus der Neuzeit.[80] In der Renaissance wird allmählich dann auch das Christentum in diesen Allgemeinbegriff eingeordnet. Es ist vor allem die Philosophie, die zu einer Verallgemeinerung des Begriffes beiträgt.

Die Religionswissenschaft versucht eine weltliche Erfassung von Religion zu vermeiden und den Begriff religiös zu verstehen. Dieser Tautologie entgeht die Religionswissenschaft nur indem sie den Begriff der Religion explizit deuten kann. Dabei muss eine Definition so allgemein ausgelegt werden können, dass diese für alle Religionen und religiösen Phänomene gleichermaßen Gültigkeit besitzt.[81] Eine solche allgemeine Definition liefert Hans-Peter Hasenfratz, Religionswissenschaftler der Universität Bonn: „[Religion stellt] ein Symbolsystem [dar], das der Kontingenzbewältigung, der biologischen und sozialen Programmierung dient und sich auf eine ‚Andere Wirklichkeit’ bezieht.“[82] Kontingenzbewältigung meint in diesem Zusammenhang, die Zufälle des Lebens, die religiöse Menschen auf Gott beziehen. Krankheit, aber auch Glück und Unglück werden als Strafe, Prüfung oder eben als göttliche Gnade angesehen. Die biologischen und sozialen „Programme“ sind als Regeln, die sich auf den sozialen und sexuellen Umgang beziehen, aufzufassen. Wahl und Anzahl eines Geschlechtspartners, das Verhalten gegenüber bestimmten Gruppen oder auch Strafen bei „Regelverstößen“ fallen darunter. Die „Andere Wirklichkeit“ bezieht sich auf Gott.[83]

Niklas Luhmann (1927-1998), deutscher Soziologe und Philosoph, versuchte der Funktion von Religion auf den Grund zu gehen. Er betrachtete die Religion im Rahmen der Religionssoziologie, welche die sozialen Zusammenhänge zwischen Religion und Gesellschaft untersucht. Neben dem Einfluss von Religion auf eine Gesellschaft werden auch die sozialen Vorraussetzungen für Religion und die sozialen Formen, die Religion annehmen kann, betrachtet. Luhmann sieht die Funktion der Religion in der „Bestimmbarkeit der Welt“.[84] Religion stellt für ihn ein kulturelle Struktur dar, welche eine Transformationsfunktion inne hat. Hiermit meint er, dass unbestimmte Systeme in bestimmte transformiert werden müssen. Mit Hilfe der Religion kann diese Transformation stattfinden und die Welt bestimmt werden. Religion ist für ihn ein Teilsystem des Gesellschaftssystem und damit dem Strukturwandel der Gesellschaft unterworfen.[85] Dies ist auch für die drei dominanten Religionen Afrikas belegt. Wie stellen diese sich dar? Wie wurden vor allem die „Religionssysteme“ adaptiert und transformiert?

[...]


[1] o.V.: Golden girl oder bad boy, 20.08.2009[online: http://www.focus.de/sport/mehrsport/leichtathletik-wm- 2009/tid-15256/caster-semenya-golden-girl-oder-bad-boy_aid_428054.html, 28.12.09].

[2] Schirmer, Andreas/ Ralf Jarkowski: Weltmeisterin soll ein Zwitter sein, 11.09.2009 [online: http://www.stern.de/sport/sportwelt/caster-semenya-weltmeisterin-soll-ein-zwitter-sein-1508423.html, 28.12.09].

[3] Die Ergebnisse desselben sind bis heute nicht vom IOC veröffentlich worden.

[4] Pieterse, Jan Nederveen: White on black: Images of Africa and Blacks in Western popular culture. New Haven/ London 1992. S. 172.

[5] Aldrich, Robert: Colonialism and homosexuality. London 2003. S. 1.

[6] Ebd., S. 3.

[7] Epprecht, Marc: Heterosexual Africa: The history of an idea from the age of exploration to the age of AIDS. Athens 2008. S. 34f.

[8] Traditionell, vom lateinischen traditio bzw. tradere, etwas übergeben, meint die Weitergabe von Überzeugungen oder Glaubensgrundsätzen.

[9] Baum, Robert M.: Homosexuality and the Traditional Religions of Americas and Africa. In: Swidler: Homosexuality and world Religions. S. 1.

[10] Ebd., S. 2.

[11] Siraj, Asifa: On being homosexual and Muslim: Conflicts and challenges. In: Ouzgane: Islamic masculinities. London/ New York 2006. S. 202.

[12] Eder, Franz X.: Kultur der Begierde: Eine Geschichte der Sexualität. München 2002. S. 159.

[13] Boswell, John: Christianity, social tolerance, and homosexuality. Chicago/ London 1980. S. 41.

[14] Der Begriff Heterosexualität entstand 11 Jahre nach dem der Homosexualität. (Vgl. Eder (2002): S. 159.).

[15] Sodomie war ein Sammelbegriff für sexuelle Handlungen, die wider der Natur sind. Dass schloss sowohl den Sex zwischen Menschen des gleichen Geschlechtes, Masturbation sowie Sex mit Tieren ein. (Vgl. Eder (2002): S. 154.).

[16] Eder (2002): S. 152.

[17] Eder (2002): S. 164.

[18] Murray, Stephen O.: Homosexualities. Chicago 2000. S. 1.

[19] Transgender sind Menschen, die ihre soziale Rolle zwischen der sozialen Rolle von Männern und Frauen ansehen. Einige lehnen die Zuweisung zu einem bestimmten Geschlecht ab.

[20] Intersexuelle Menschen weisen sowohl männliche als auch weibliche Geschlechtsmerkmale auf.

[21] Epprecht, Marc: Unspoken Facts: A history of homosexualities in Africa. Harare 2008. S. 1f.

[22] Szesnat, Holger: The essentialist-social constructionist debate and biblical research In: Germond/ de Gruchy: Aliens in the household of God. S. 272.

[23] Szesnat (1997): S. 273ff.

[24] Lenz, Karl/ Heide Funk: Sexualitäten: Entgrenzung und soziale Problemfelder. In: Lenz, Karl/ Heide Funk (Hg.): Sexualitäten: Diskurse und Handlungsmuster im Wandel. München 2005. S. 28.

[25] Szesnat (1997): S. 275.

[26] Ebd., S. 284.

[27] Adam, Barry: Age, structure and sexuality: Reflections on the anthropolical ecidence on homosexual relations. In: Journal of Homosexuality. Volume 11 Issue 3 & 4. Januar 1986. S. 19.

[28] Murray (2000): S. 2f.

[29] Greenberg, David F.: The Construction of Homosexuality. Chicago/ London 1988. S. 26.

[30] Greenberg (1988): S. 40.

[31] Ebd., S. 66.

[32] Murray (2000): S. 3.

[33] Murray (2000): S. 1.

[34] Epprecht (2008): S. 156.

[35]Stobie, Cheryl: Reading bisexualities from a South African Perspective. In: Anderlini-D’Onofrio, Serena (Hg.): Women and Bisexuality: A global perspective. New York 2003. S. 36.

[36] Murray, Stephen O./Will Roscoe (Hg.): Boy-wives and female husbands: Studies in African homosexualities. New York 1998. S. XII.

[37] Aldrich (2003): S. 30.

[38] Aldrich (2003): S. 31.

[39] Balcha, Daniel Iddo: Homosexuality in Ethiopia. Masterthesis der Lund Universität, Faculty of social science, 2009. S. 24.

[40] Diese Zone grenzte Gebiete in denen Homosexualität und Gebiete in denen sie nicht auftrat aus.

[41] Gaudio, Rudolf P.: Male Lesbians and other queer notions in Hausa. In: Murray/ Roscoe (Hg.): Boy-wives and female husbands. S. 115.

[42] Murray/ Roscoe (1998): S. XII.

[43] Murray, Stephen O.: Sexual Politics in Contemporary Southern Africa. In: Murray/ Roscoe (Hg.): Boy-wives and female husbands. S. 247f.

[44] Palmberg, Mai: Ein Tabu ist gebrochen. In: Der Überblick. Heft 2/97. Jahrgang 33. Juni 1997. S. 48.

[45] Pillay, Udesh/Benjamin Roberts/Stephen P. Rule (Hg.): South African social attitudes: Changing times diverse voices. Kapstadt 2006. S. 256.

[46] Human Rights Watch (Hg.): Forbidden: Institutionalizing Discrimination against gays and lesbians in Burundi. Juli 2009. S. 2

[47] o.V.: Uganda Gesetzentwurf droht Schwulen mit der Todesstrafe. 16.10.2009. [online: http://www.queeramnesty.ch/berichte/52-laender/373-uganda-gesetzesentwurf-droht-schwulen-mit-der- todesstrafe; 07.11.2009].

[48] Murray/ Roscoe (1998): S. 267.

[49] Murray (2000): S. 248.

[50] Greenberg (1988): S. 60.

[51] Murray/ Roscoe (1998): S. 145.

[52] Ebd., S. 107.

[53] Murray/ Roscoe (1998): S. 268.

[54] Ebd., S. 284.

[55] Murray/ Roscoe (1998): S. 91f..

[56] Zit. bei Murray (2000): S. 161.

[57] Der Report wurde 1907 veröffentlicht.

[58] Moodie, T. Dunbar: Migrancy and male sexuality on the South African gold mines. In: Duberman, Martin/ Martha Vincinus/ George Chauncey Jr. (Hg.): Hidden from history: Reclaiming the gay and lesbian past. New York 1990. S. 414.

[59] Moodie (1990): S. 417.

[60] Bei den Xhosa werden die sexuellen Spiele metsha genannt, bei den Zulu hlobongo. [Vgl. Moodie (1990): S. 413].

[61] Van Onselen, Charles: Chibaro: African mine labor in Southern Rhodesia 1900-1933. London 1976. S. 175f.

[62] Murray/ Roscoe (1998): S. 179ff.

[63] Gay, Judith: Mummies and Babies and friends and lovers in Lesotho. In: Journal of homosexuality. Heft 2, Ausgabe 3 & 4. Januar 1986. S. 105.

[64] Vgl. Gay (1986): S. 105f.

[65].Khumalo, Siza /Saskia Wieringa: ‘I‘m the black sheep of my family’: Same-sexuality in the corners of Swaziland. In: Morgan/ Wieringa (Hg.): Tommy boys, lesbian men and ancestral wives. S. 273ff.

[66] Gay (1986): S. 97ff.

[67] Ebd., S. 103.

[68] Baum (1993): S. 22f.

[69] Greenberg (1988): S. 67.

[70] Wilson, Monica: Good company: A study of Nyakyusa age-villages. Boston 1951. S. 19.

[71] Greenberg (1988): S. 68.

[72] Wilson (1951): S. 196f.

[73] Ebd., S. 88.

[74] Mit Wirklichkeiten sind die unterschiedlichen Formen, die Religion annehmen kann, gemeint.

[75] Sundermeier, Theo: Was ist Religion: Religionswissenschaft im theologischen Kontext. Ein Studienbuch. Gütersloh 1999. S. 11.

[76] Sundermeier (1999): S. 26f.

[77] Krech, Volkhard: Götterdämmerung: Auf der Suche nach Religion. Bielefeld 2003. S. 7.

[78] Nishitani, Keiji: Was ist Religion?. Frankfurt am Main/ Leipzig 2001. S. 42.

[79] Wagner, Falk: Was ist Religion: Studien zu ihrem Begriff und Thema in Geschichte und Gegenwart. Gütersloh 1986. S. 20.

[80] Ebd., S. 19.

[81] Vgl. Wagner (1986): S. 307f.

[82] Hasenfratz, Hans-Peter: Religion - was ist das: Lebensorientierung und Andere Wirklichkeit. Freiburg im Breisgau 2002. S. 9.

[83] Hasenfratz (2002): S. 9ff.

[84] Luhmann, Niklas: Funktion der Religion. In: Oelmüller, Willi/ Ruth Dölle-Oelmüller/Jürgen Ebach/ Hartmut Przybylski: Diskurs Religion. Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1995. S. 281.

[85] Ebd., S. 285.

Ende der Leseprobe aus 108 Seiten

Details

Titel
Homosexualität und Religion in Sub-Sahara Afrika nach 1900
Hochschule
Universität Leipzig  (Institut für Afrikanistik)
Note
1,8
Autor
Jahr
2010
Seiten
108
Katalognummer
V166558
ISBN (eBook)
9783640827534
ISBN (Buch)
9783640827541
Dateigröße
1040 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Homosexualität, Afrikanische traditionelle Religion, Islam, Christentum, Religion, Afrika, Nigeria, Kenia, Südafrika
Arbeit zitieren
Sandra Miehlbradt (Autor:in), 2010, Homosexualität und Religion in Sub-Sahara Afrika nach 1900, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/166558

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