Leseprobe
Inhalt
0. Einleitung: Ethnomethodologie - ein Vakuum für Theoriebasteleien?
1. Husserl und Schütz - Wegbereiter der Ethnomethodologie
1.1. Husserl´s Phänomenologie
1.2. Schütz: Rationalität und Lebenswelt
2. Ethnomethodologie - eine Methode für alle Methoden?
2.1. Grundsätzliches
2.2. Spezielle Probleme
2.2.1. Das Coroner-Problem
2.2.2. Das Relativismus-Problem
2.2.3. Das Rashomon-Problem
2.3. Telefonläuten, Klatschen, ein Pulsar und GALILEIs schiefe Ebene
2.3.1. Telefonläuten, Takt und Rhythmus
2.3.2. Die Entdeckung eines Pulsars und GALILEIs schiefe Ebene
3. Methodischer Konstruktivismus - ein Anschluss
4. Schluss: Ethnomethodologie als Lebensweltwissenschaft
5. Literatur
0. Ethnomethodologie - ein Vakuum für Theoriebasteleien?
Versucht man, zum Kern des auf HAROLD GARFINKEL (1967) zurückgehenden soziologischen Forschungsansatzes der Ethnomethodologie (auch: EM) vorzudringen, könnte man komprimiert und stark vereinfacht feststellen:
Distinctive emphases on the production and accountability of order in and as ordinary activities identify ethnomethodological studies, and set them in contrast to classic studies, as an incommensurably alternate sociology (GARFINKEL 1991, 17).
Man befindet sich auf dem praktischen Boden der Lebenswelt, im phänomenalen Feld. Leider sind GARFINKELs kunstvolle, manchmal kryptische und höchst redundante englische Texte recht schwer verständlich (zumal es keine deutscheübersetzung gibt), so dass man bei der Suche nach Orientierung schnell auf allerhand heterogene Sekundärliteraturüber die Ethnomethodologie stößt, die sich selbst als nichtanalytisches Forschungsinstrument und vor allem als eine bestimmte Haltung begreift, um die Methoden der Welt- und Sinnkonstitution verschiedener sozialer Gruppen (Ethnien) in und durch gewöhnliche, situative Praxis zu verstehen (LYNCH 1999, 220). GARFINKEL betreibt also Methodologie der Methoden der Ordnungskonstitution von Gesellschaftsmitgliedern, mit denen sie phänomenale Wirkeinheitenüberhaupt erst als Etwas konstituieren und darstellen. Statt systematischer Konzeptualisierungen legt er Deskriptionen des "How It Goes" im Forschungsfeld vor (L 1995, 180) . Auf die spektakuläre Frage hin, welche Theoriebasis er denn für die Ethnomethodologie nennen würde, wenn man ihn mit einem Revolver zu einer Aussage zwänge, antwortete der Ethnomethodologe HARVEY SACKS im Jahre 1975 mit langem, bewussten Schweigen - "a silence louder than words" - und der später folgenden Aufforderung, im Hier-und-Jetzt zu bleiben - ein Hinweis, dass eben in jenem Moment der Frage aufs Neue methodisch Sinn generiert werden sollte (LYNCH 1999, 211; 227). SACKS
"refused to satisfy his interlocutor ´ s presumtion that such sources must reside in a scholarly lineage", schreibt LYNCH (1999, 213) und folgert, dass eine theoretische Zurückhaltung der Ethnomethodologie "will simply create the opportunity for others to construct literary traditions on its behalf." Die vermeintliche Nichtfixierung des epistemischen Selbstverständnisses der EM scheint sie als Einzelteil oder Werkzeug in einer Art Theoriebaukasten verfügbar zu machen. Es gibt zahlreiche derartige Bemühungen, z.B. einer "paradigmatischen Integration" der EM in "eine moderne Wissenschaftstheorie" oder auch die reduktionistische Nutzung der EM als "Unterfutter" fürübergeordnete Makrotheorien (PATZELT 1986, 164; 188). Die EM wird sogar - trotz ihrer explizit phänomenologischen Ausrichtung - als "positivistisch" oder "empiristisch" missdeutet (L 1995, 179). Bei solchen Versuchen fällt die philosophische Unbekümmertheit auf, mit der man sich nach dem Motto "pick up whatever you need" beliebig aus einem "Theorienbabel" bedient und dabei auch noch dem Tiger EM die Zähne zieht (G 1996, 10). Ich werde solche Positionen in dieser kurzen Arbeit nicht weiter ausführen, denn eine "allgemeine EM-Theorie", wie sie PATZELT (1986, 191) vorschwebt, ist mit Vorsicht zu genießen, da dies eine von GARFINKEL (2002, 283) abgelehnte hypostasierende, generalisierende Repräsentation wäre. EM geht es aber gerade um die Prozessrealität des Hier-und-Jetzt, um De- Ontologisierung sozialer Fakten als factum = Gemachtes (E 1982, 10). Ist die Ethnomethodologie also nur eine "deskriptive Verdoppelung" (BERGMANN in LINK 2003, 29) der sozialen Praxis, bleibt also eigentlich nichtsübrig von ihr, weil sich Methode und Gegenstand nicht unterscheiden lassen, hat die EM ihr "Ground Zero" erreicht (LYNCH 1999, 219) - oder steckt mehr dahinter? Genau dieses "What More?" ist es nach GARFINKEL (1996, 6), das die Ethnomethodologie von der formalanalytischen Modellsoziologie der Indikatoren und Statistik (FA) unterscheidet.
Ich bin der Meinung, dass man einen Zugang zur ethnomethodologischen Haltungüberhaupt erst gewinnen kann, wenn man sich mit ihren philosophischen Wurzeln beschäftigt. Da ich mit LANGSDORF (1995, 180) annehme, "that Garfinkels program carries out Husserls program", beginne ich mit einer Einführung in die Phänomenologie HUSSERLs und skizziere SCHÜTZ´ Betrachtungenüber "The Problem of Rationality in the Social World" (1943). Ich möchte zeigen, dass sich Ethnomethodologie im HUSSERLschen Sinn als Lebensweltwissenschaft verstehen lässt und eine Brücke zu JANICHs (1996) Wissenschaftstheorie des Methodischen Konstruktivismus schlagen, der die Wissenschaften wieder an ihre Wurzeln in der Praxis rückbinden möchte.
1. Husserl und Schütz - Wegbereiter der Ethnomethodologie
GARFINKEL (2002, 83; 1967, ix;) selbst und auch andere EM-Autoren erwähnen oft - neben der Gestalttheorie und der Bewusstseinsfeldtheorie GURWITSCHs - vor allem die philosophische und soziologische Phänomenologie und ihre Urheber HUSSERL und SCHÜTZ (später auch MERLEAU-PONTY) als Inspirationsquellen der Ethnomethodologie. Ich halte den phänomenologischen Ansatz in der Ethnomethodologie für essentiell, zentral und fundamental, worin mich auch PSATHAS (2004, 22) bestätigt:
As such, ethnomethodology represents one extension and elaboration of a phenomenological foundation for studies of the world of everyday life.
Die folgenden Einführungen dienen dazu, deutlich werden zu lassen "just what is phenomenological about ethnomethodological enquiries" (L 1995, 178).
1.1. Husserl´s Phänomenologie
HUSSERLs Absicht war es, noch einmal wie bereits KANT, die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnisüberhaupt zu untersuchen und auf ein festes Fundament zu stellen. Sein spezifischer Ansatz, die Phänomenologie, ist die Wissenschaft vom Bewusstsein und seinen Erscheinungen (HUSSERL 1985, 200ff.).
Die bedeutendste Operation, die HUSSERL für die Erforschung des Seins im Bewusstsein vollzieht, ist die Einklammerung der sogenannten Generalthesis der "natürlichen Anschauung", nämlich die Einklammerung des Seinsglaubens der Welt -übrig bleibt die Welt als Phänomen im eigenen Bewusstseinsraum. Man tritt quasi hinter sich selbst und den eigenen Weltvollzug zurück. HUSSERL (1985, 145) nennt diesen gewichtigen Schritt "phänomenologische Epoché":
Ihr vollbewu ß ter Vollzug wird sich als die notwendige Operation herausstellen, welche uns das 'reine' Bewu ß tsein und in weiterer Folge die ganze phänomenologische Region zugänglich macht. [...] . Somit bleibt es als 'phänomenologisches Residuum' zurück, als eine prinzipiell eigenartige Seinsregion, die in der Tat das Feld einer neuen Wissenschaft werden kann - der Phänomenologie.
HUSSERL stülpt also gewissermaßen den Handschuh des naiven Realitätsglaubens von außen nach innen um und zeigt, dass die ganze Welt in uns stattfindet. PLESSNER formuliert treffend:
In Wirklichkeit ist die Sache gerade umgekehrt: nicht ist das Bewusstsein in uns, sondern wir sind 'im' Bewusstsein [...] (PLESSNER 1975, 67).
In seiner Analyse des Weltvollzugs entdeckt HUSSERL eine Zwischendimension des Erscheinens der Welt in Gegebenheitsweisen, d.h. er stellt fest, dass uns ein Ding z.B. niemals als Ganzes gegeben ist, sondern zu je einem Zeitpunkt nur perspektivisch "abgeschattet" in je fragmentarischen Sinneserlebnissen. HUSSERL entdeckt so, dass "das Ding" bereits eine induktive Synthese unseres Bewusstseins ist, indem wir die möglichen weiteren Perspektiven, die in einem nächsten Zeitmoment potentiell erfahrbar sind, (z.B. die Rückseite eines Gegenstands) jeweils mitdenken, also mögliche Verweisungshorizonte antizipierend zusammenfassen und diese Synthesen induktiv zu "Dingen" verallgemeinern. Die Appräsentation (Mit-Gegenwärtigmachen) von Abgeschattetem und die Apperzeption als interpretative Deutung der Empfindungen konstituiert also erst Dinge als Geg]enstände mit Eigenschaften und so ihre Identität. Solche Prozesse laufen - konstituieren sie nicht in einer "Urstiftung" ein Etwas zum ersten Mal - Ich-unbeteiligt, habitualisiert, oder auch als bloß erfahrende "passive Genesis" ab. HUSSERL bezeichnet den Syntheseprozess auch als "noetische Formung der Hyle" (HELD in HUSSERL 1986, 16; SOMMER 1988, 60f.): zunächst ungegenständliche Empfindungskomplexe werden zum Material für das Welterscheinen - heraus gehoben durch die situativen, intentionalen Leistungen des Bewusstseins. Letztlich entstehtüber eine komplexe Schichtung solcher Wahrnehmungs-, Appräsentations- und Induktionsprozesse eine ganze Welt in prinzipiell unendlichen Verweisungshorizonten, immer mit dem je eigenen phänomenalen Leib als Nullpunkt und Zentrum. Die Welt ist also notwendig immer perspektivisch und subjektrelativ (HELD in HUSSERL 1986, 45):
Was die Dinge sind, [...] sind sie als Dinge der Erfahrung (HUSSERL 1985, 183).
Den Kern der HUSSERLschen Reflexionen bildet so der Aufweis und die Analyse der Konstitution der Welt durch ein absolutes Bewusstsein (HUSSERL 1985, 189f.). Eine weitere fundamentale Erkenntnis HUSSERLs ist die der universalen Intentionalität des Bewusstseins. Ein Bewusstseinsakt (Noesis) ist immer gerichtet, d.h. dass ein Subjekt sich immer Gegenstände ins Gegenüber setzt, als "einen Pol, worauf sich bestimmte Bewusstseinsvollzüge jeweils beziehen" (HELD in HUSSERL 1985, 23). Dieses Bezugsgegenüber (Noema) bedarf der Originarität, der anschaulichen Selbstgegebenheit, um mit einer gewissen Evidenzüberhaupt als Etwas erfahren zu werden. Das Bewusstsein ist teleologisch auf Evidenz gerichtet und alle erscheinenden Dinge, Begriffe, Gefühle, Ideen sind immer intentionale Objekte, konstituiert durch die Relevanzen und Leistungen des Subjekts, das Einheiten aus Mannigfaltigkeit synthetisiert (HUSSERL 1985, 155f.; 170). Durch intuitive Schau und sogenannte eidetische Variation lassen sich nach HUSSERL "die Sachen selbst", ihre invarianten Wesenskerne erschauen und gegen Unwesentliches differenzieren (HUSSERL 1985, 255ff.; 170f.): Es ist also ein prinzipieller Irrtum zu meinen, es komme die Wahrnehmung [...] an das Ding selbst nicht heran.[...]. In den unmittelbar anschauenden Akten schauen wir ein 'Selbst'.
Die Welt des Alltags erscheint nur bewusstseinstranszendent, weil die Generalthesis des Seinsglaubens quasi ein Trugbild ist, das die Konstitution und Bewusstseinsimmanenz der Welt im Hintergrund verschwinden und eine Dingwelt als Objektivation von Noemata in einem "Außen" erscheinen lässt (HUSSERL 1985, 156). HUSSERL verwendet für dieses eigentümliche Verhältnis des Bewusstseins zu seiner Welt den Terminus "immanente Transzendenz". Der DESCARTESsche Dualismus der Trennung zwischen res cogitans und res extensa ist damit aufgehoben. Ein "eigentlich Reales", ein "Objektives" oder transzendentes "Ansich" stellt sich als Chimäre heraus:
Eine Transzendenz, die als der beschriebenen Anknüpfung [...] mit meiner jeweiligen Sphäre aktueller Wahrnehmung entbehrte, wäre eine völlig grundlose Annahme; eine Transzendenz, die solcher prinzipiell entbehrte, ein Nonsens (HUSSERL 1985, 178).
Diese monadische Welt des Subjekts ist seine prinzipiell nur ihm selbst zugängliche Primordialsphäre. Tritt nun ein Anderer als Phänomen in diesem Bewusstsein auf, ist er nur durch analogisierende Deutung und Einfühlung als ein Subjekt wie man selbst erkennbar. Durch vorgestellten Perspektivtausch (Reziprozität) eröffnet sich so eine zweite Seinsschichtüber der primordialen: die eigene Welt in den möglichen Gegebenheitsweisen des Anderen (HUSSERL 1986, 204), die sich auf diese Weise undüber gegenseitige Abstimmung, Generalisierung, Habitualisierung und Sedimentierung in eine intersubjektive Welt verwandelt: die Lebenswelt. Auch diese Welt ist bewusstseinsimmanent, subjektrelativ und handelnd konstituiert, der Satz von der unmöglichen vom Subjekt losgelösten Transzendenz gilt auch hier. HUSSERL (1986, 270) fragt nun:
[...] wie kam es zu dem Sprung von Doxa zu Epist é me, und unter dem letzteren Titel zur Idee eines rational erkennbaren An-sich, das sich in den Dingen sinnlicher Erfahrung als blo ß e Erscheinung, blo ß subjekt-relativ darstellt?
Er geht für die Antwort zurück zu den Anfängen systematischer Wissenschaft, begonnen mit der Entwicklung der Geometrie aus der Messkunst der griechischen Antike, die sichüber Idealisierung ihrer räumlichen Figuren zu Limesgestalten von ihrer lebensweltlichen Basis ablöste. Eine besondere Rolle in der Entstehung des modernen Objektivitätsideals spielte GALILEI, der die heute so weit verbreitete Auffassung einer unsichtbaren "objektiven Welt" zum Standard erhob, die nur logisch und induktivüber Idealisierungen, Abstraktionen und Mathematisierung quasi hinter den Erscheinungen zu finden ist. So entstand das Konzept eines unendlichen und rationalen Seinsalls - die Natur als mathematisches Universum, die Physik als universale Wissenschaft (HUSSERL 1986, 221, 245):
Gleich mit GALILEI beginnt also die Unterschiebung der idealisierten Natur für die vorwissenschaftlich anschauliche Natur (HUSSERL 1986, 255f.).
So wurde auch die sinnlich anschauliche Welt der konkreten Phänomene zur Welt zweiter Klasse degradiert, zur bloß vor wissenschaftlichen Welt der wertlosen Subjektivität (HUSSERL 1986, 261). HUSSERL (1986, 258) sieht eine Vertauschung von Lebenswelt und formalisierter, symbolischer Welt als der "eigentlichen" Welt:
Das Ideenkleid 'Mathematik und mathematische Naturwissenschaft', oder dafür das Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befa ß t alles, was wie den Wissenschaftlern, so den Gebildeten als die 'objektiv-wirkliche und wahre' Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, das wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist [...].
Dies istübrigens bereits der Kern von GARFINKELs (2002, 135ff.) Kritik an formalanalytischen Sozialwissenschaften (FA). Die durch den "Formelsinn" erzeugte Idealisierung bringt den Sinnverlust der ursprünglichen Welt mit sich, Limesgestalten verlieren konkrete Sinnesqualitäten, ihre "Füllen", und die zur universellen technischen Methode degenerierte Wissenschaft verliert ihr Ursprungsobjekt (HUSSERL 1986, 236f.; 248f.):
Man operiert mit Buchstaben, Verbindungs- und Beziehungszeichen und nach Spielregeln ihrer Zusammenordnung [...]. Das ursprüngliche Denken, das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den [...] Ergebnissen Wahrheit gibt [...], ist hier ausgeschaltet (HUSSERL 1986, 251).
Das naturwissenschaftliche Paradigma (auch in den Sozialwissenschaften) erzeugt eine neue Ideenwelt der "Objektivität" durch Induktion ins prinzipiell Unendliche (z.B. durch universale Gesetzmäßigkeiten) undüberschreitet damit nach HUSSERL (1986, 284f.) die Grenzen der Lebenswelt als Horizont aller sinnvollen Induktionen. Es besteht nämlich ein gewichtiger Unterschied zwischen Induktionen der Lebenswelt und Induktionen der "objektiven Welt", nämlich den, daß die letztere eine theoretisch-logische Substruktion ist, die eines prinzipiell nicht Wahrnehmbaren, prinzipiell in seinem eigenen Weltsein nicht Erfahrbaren, während das lebensweltlich Subjektive in allem und jedem eben durch seine wirkliche Erfahrbarkeit ausgezeichnet ist. [...] (HUSSERL 1986, 283f.).
Die Lebenswelt ist die einzig wirkliche und erfahrbare Welt ursprünglicher Evidenzen (HUSSERL 1986, 254; 283) und das Universum aller Praxis - auch die der Wissenschaften als Elemente der kulturellen Welt, die nicht ihrerseits die Lebenswelt rückwärts erklären können, sondern selbst von ihr umfasst werden, denn:
Die Verächtlichkeit, mit welcher alles 'blo ß Subjekt-Relative' von dem dem neuzeitlichen Objektivitätsideal folgenden Wissenschaftler behandelt wird,ändert an seiner eigenen Seinsweise nichts, wie es daran nichtsändert, da ß es ihm doch selbst gut genug sein mu ß , wo immer er darauf rekurriert und unvermeidlich rekurrieren mu ß (HUSSERL 1986, 281), z.B. im Vertrauen auf die anschaulich gegebenen Anzeigen von Messinstrumenten.
Solche "Grundzüge einer Wissenschaft von der Lebenswelt", sind für HUSSERL (1986, 276ff.) Basis für die Klärung des Objektivitätsanspruches moderner Wissenschaft. Der reflektierte Rückgang zur ursprünglichen Anschauung - "zu den Sachen selbst" (HUSSERL 1985, 22) - ist Programm und die Lebensweltwissenschaft gegenüber einer "objektiven" Wissenschaft asymmetrisch, einschließend und höherwertig, denn immerhin fungiert [...] das Subjekt-Relative [...] als das für alle objektive Bewährung [...] letztlich Begründende, also als Evidenzquelle, Bewährungsquelle. [...] also das wirklich lebensweltlich Seiende ist eine Prämisse (HUSSERL 1986, 282).
1.2. Schütz: Rationalität und Lebenswelt
SCHÜTZ knüpft ab 1932 mit seinem soziologisch-philosophischen Werk explizit an HUSSERL an (SCHÜTZ 2003, 15) und arbeitet dessen Entwurf einer Lebensweltwissenschaft zu einer umfangreichen phänomenologischen Analyse der Welt der "natürlichen Einstellung" aus. So deckt er (SCHÜTZ 2003, 18) schichtweise jene elementaren Strukturen des Alltagslebens auf, die sozialer Erfahrung, Sprache, sozialem Handeln und der komplexen historischen Welt menschlichen Lebens überhaupt zugrundeliegen.
Er findet universale Kategorien der phänomenologischen Region der Lebenswelt, dem "universe of significations [...] wich we institute only through our action in this lifeworld" (L 1995, 183), die sich als Feld konzentrisch um den zentralen Leib mit Wirkzonen unterschiedlicher Reichweiten und Relevanzen aufschichtet (SCHÜTZ 2003, 69ff.). Ich möchte hier nicht näher auf die Details seiner Lebensweltanalyse eingehen, sondern den Fokus auf SCHÜTZ´überlegungen zur Rationalität in der sozialen Welt (1943) lenken, die fundierend für die Position GARFINKELs (1967, 263ff.) sind. SCHÜTZ (1943, 131f.) stellt zunächst fest, dass es prinzipiell verschiedene Arten der Betrachtung der sozialen Welt gibt, nämlich die als Mitglied, Fremder oder als Forscher - die "daily-life attitude" des Akteurs und das "scientific theorizing" des Beobachters (SCHÜTZ 1943, 131; G 1967, 272). Jede Perspektive erzeugt eine spezifische Erscheinungsweise der Welt, bestimmte Dinge und Begriffe treten in den Vordergrund, andere an den Rand und haben, je nach Relevanzstruktur des Subjekts, auch verschobene Bedeutungen und Beziehungen - man hat es wieder mit HUSSERLs Subjektrelativität der Welt zu tun. Die gilt natürlich auch und besonders für den Forscherstandpunkt mit seinem Schlüsselkonzept: dem Anspruch auf Rationalität. SCHÜTZ (1943, 133ff.) zitiert W. JAMES, der zeigt, dass Apperzeption nicht diskrete Dinge erfasst, sondern verwobene Felder von aufeinander bezogenen Objekten, und dass das Schlüsselkonzept bzw. Interesse (bei HUSSERL die "Einstellung"; LUFT 1999, 16f.) die Bedeutungen und Strukturen des Feldes determiniert. So hat das Konzept "Rationalität" im Kontext der Sozialwissenschaft eine bestimmte Bedeutung und "the level on wich the research may be done depends upon the meaning attributed to the key concept". Und dies ist hier allein die Ebene theoretischer, abstrahierender Beobachtung und Interpretation, einer "Entzauberung" (WEBER) der Welt durch ihre Transformation in ein rationales, vorhersagbares Gebilde, mit der Annahme einer Analogie von wissenschaftlicher und alltäglicher Rationalität und damit eines Modellmenschen des "Rational Choice" - im Unterschied zu den "alter egos" der Lebenswelt. SCHÜTZ (1943, 135f.) sieht zwar in der alltäglichen Typisierung von Geschehnissen bereits den Keim wissenschaftlicher Methodik angelegt, betont aber, dass im Alltagshandeln wissenschaftliche Rationalität nie vorkommt, sondern dass we are guided neither by methodological considerations nor by any conceptual scheme of means-end relations, nor by any idea of values we have to realise. Our practical interest alone [...] is the only relevant principle in the building up of the perspective structure in wich our social world appears to us in daily life (SCH Ü TZ 1943, 136).
In der Lebenswelt dominieren "common sense", "Rezeptwissen", Routinen, Näherungslösungen und reziproke Erwartbarkeiten (likelihood), also eine Art situative "Alltagsrationalität" (SCHÜTZ 1943, 137ff.). SCHÜTZ (1943, 140ff.) weist nach, dass "Rational Choice"-Kriterien im Alltagshandeln prinzipiell gar nicht erfüllbar sind, da sie vollständiges Wissen und komplexeüberlegungen voraussetzen würden, die normale Entscheidungen unmöglich machten. Man orientiert Entscheidungen im wahren Leben ja z.B. auch an Emotionen. Er schließt (SCHÜTZ 1943, 142), that the ideal of rationality is not and cannot be a peculiar feature of every-day thought, nor can it, therefore, be a methodological principle of the interpretation of human acts in daily life.
[...]