Integrative Sportgruppen: Hintergründe, Konzepte und Strategien


Diplomarbeit, 2010

125 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung

2 Definition und Begriffsklärung
2.1 Behinderung
2.1.1 Verschiedene Behinderungsformen
2.2 Integration
2.3 Integrationssport

3 Die motorische Entwicklung
3.1 Die motorische Entwicklung im Kindes- und Jugendalter ohne Beeinträchtigung
3.2 Die motorische Entwicklung unter dem Einfluss körperlicher oder geistiger Funktionseinschränkungen an ausgewählten Beispielen
3.2.1 Sehbehinderung / Blindheit
3.2.2 Down Syndrom
3.2.3 Infantile Cerebralparese
3.2.4 Herzfehler

4 Pädagogik und Didaktik der gemeinsamen Erziehung
4.1 Theoretische Grundlagen der integrativen Pädagogik
4.2 Theoretische Grundlagen der integrativen Didaktik

5 Möglichkeiten und Grenzen der Integration
5.1 Studien über die Auswirkungen von Integration

6 Historische Entwicklung des Integrationssports
6.1 Notwendigkeit von integrativen Sportangeboten

7 Vorstellung und Vergleich integrativer Projekte

8 Planung und Umsetzung integrativer Sportgruppen
8.1 Vorraussetzungen für integrative Sportgruppen
8.1.1 Örtliche und architektonische Rahmenbedingungen
8.1.2 Personelle Vorraussetzungen
8.1.3 Rahmenbedingungen für die Gruppen- und Trainingsgestaltung
8.1.4 Trainingsinhalte und pädagogische sowie didaktische Rahmenbedingungen
8.2 Durchführung integrativer Sportgruppen
8.2.1 Strategien für die erfolgreiche Durchführung
8.3 Vorschläge für Spiele in der heterogenen Gruppe

9 Resümee und Ausblick

10 Anhang

11 Tabellenverzeichnis

12 Abbildungsverzeichnis

13 Abkürzungsverzeichnis

14 Literaturverzeichnis

1 Einführung

„Es ist normal, verschieden zu sein.“ (WEIZSÄCKER, 1993)

In vielen Bereichen des Lebens kann man erkennen, dass Menschen verschieden sind: es gibt Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlichen Glaubens und es gibt Menschen mit den verschiedensten Arten von körperlicher oder geistiger Behinderung. Auch der damalige Bundespräsident Richard von WEIZSÄCKER (1993) hat in seiner Ansprache für die Eröffnungsveranstaltung einer Tagung der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte 1993 in Bonn verkündet, dass es normal ist verschieden zu sein. Wenn Behinderung nur noch als Verschiedenheit aufgefasst wird, wie es WEIZSÄCKER (1993) in der selben Rede gefordert hat, und nicht als Maßstab für Verhalten und Leistung, kommt man der Integration von Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft der Menschen ohne Behinderung sicherlich ein großes Stück näher. Die Akzeptanz gegenüber Behinderten ist seit dieser Zeit gestiegen. Auch gesetzlich wird versucht alle Benachteiligungen, die Menschen mit Behinderung entstehen, zu kompensieren. Tatsächlich jedoch sind Menschen mit Handicap noch lange nicht in allen Bereichen ein gleichwertiger Bestandteil der Gesellschaft (vgl. FEDIUK, 2008 b).

Die Integration oder sogar Inklusion in Kindergärten, Schulen und im Arbeitsleben ist ein häufiges Thema in der Politik und in der Gesellschaft. Ob diese immer sinnvoll ist oder ob die Fördereinrichtungen, die seit den sechziger Jahren entstanden sind, nicht doch große Daseinsberechtigung haben, wird oft diskutiert (vgl. SCHÜLE, 2002). Der Lebensbereich Freizeit wird in diesen Diskussionen jedoch meist übergangen und weist sehr große Defizite bezüglich Integrationsinitiativen auf. Auch Literaturrecherchen ergeben wenig Material zur theoretischen Aufarbeitung von Integration in diesem Feld. Vor allem aber hält der Bereich Freizeit, gerade der Bereich des Sports, viele Gelegenheiten der sozialen Integration bereit. Mit seinen mannigfaltigen Interaktions- und Kommunikationsmöglichkeiten stellt insbesondere der Freizeit- und Breitensport ein geeignetes Handlungs- und Aktionsfeld für gemeinsame Aktivitäten dar (vgl. LANGHAMMER, 2000 / RHEKER, 2000).

RHEKER (2000) beschreibt die Integration von Randgruppen im Sport als leichter zu erreichen als in anderen Handlungsfeldern. Da Sport in sozial definierten Situationen stattfindet, können Unsicherheiten im Umgang mit den „noch nicht so bekannten Personen einer Randgruppen“ (RHEKER, 2000, S.292) aufgefangen werden. Durch das definierte und bekannte Regelwerk, das Spielfeld oder das bekannte Sportgerät (z.B. der Ball), kann es sofort zur gemeinsamen Aktion kommen. Der Integrationssport ist laut RHEKER (1997 / 2008) sowohl im organisierten deutschen Sport als auch in der deutschen Sportwissenschaft noch nicht aus seinem Randdasein heraus gekommen. Auch FEDIUK (2008a, S. 37) beschreibt die Integrationsforschung als ein „höchst defizitäres Forschungsfeld“. Im Gegensatz zur Integration im Vereinssport ist der Gegenstand der Integration von Menschen mit Behinderung in dem Kontext Schule weitgreifend erörtert. Vieles davon lässt sich aber auf die sportliche Erziehung in der Freizeit übertragen. Schließlich ist das Ziel, nämlich sportmotorische Fähigkeiten und Kenntnisse von sportlichen Techniken und Taktiken sowie Freude an der Bewegung zu vermitteln, dasselbe wie in der Schule. Diese Arbeit behandelt die theoretische Aufbereitung des Themas Integrationssport. Sie umfasst Hintergründe des gemeinsamen Sporttreibens von Menschen mit und ohne Behinderung, greift bestehende Konzepte auf und stellt mögliche Strategien für die Entwicklung von Konzepten sowie für die Durchführung von heterogenen Gruppen dar.

2 Definition und Begriffsklärung

Zu den wichtigsten Begriffen dieser Arbeit gehören Behinderung, Integration und schließlich Integrationssport. Um diese verständlicher zu machen und um sie in den richtigen Kontext einzuordnen, werden sie im Folgenden definiert und näher betrachtet.

2.1 Behinderung

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Behinderung in der deutschen Übersetzung der „ International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF)“ aus dem Jahr 2005 über den Begriff der Funktionsfähigkeit eines Menschen. Jener umfasst alle Aspekte der funktionalen Gesundheit. Eine Person ist nach der WHO (2005, S. 4)

„ funktional gesund, wenn

- (...) ihre körperlichen Funktionen (einschließlich des mentalen Bereichs) und Körperstrukturen denen eines gesunden Menschen entsprechen (...)
- sie all das tut oder tun kann, was von einem Menschen ohne Gesundheitsproblem erwartet wird (...)
- sie ihr Dasein in allen Lebensbereichen, die ihr wichtig sind, in der Weise und dem Umfang entfalten kann, wie es von einem Menschen ohne gesundheitsbedingte Beeinträchtigung der Körperfunktionen oder - strukturen oder der Aktivitäten erwartet wird (Konzept der Partizipation [Teilhabe] an Lebensbereichen) “ .

Nach dem Neunten Buch (IX) §2 des Sozialgesetzbuch (SGB) wird der Begriff der Behinderung folgendermaßen definiert:

„ Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist. “

Der Behinderungsbegriff der WHO stellt einen Oberbegriff zu jeder Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Menschen dar und ist damit umfassender als der Behinderungsbegriff des SGB IX. Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte im Sozialbereich in Deutschland aber nur der Behinderungsbegriff des SGB IX verwendet werden (vgl. SGB). Zusammenfassend kann man als Behinderung demnach jede körperliche oder geistige Abweichung verstehen, die einen Menschen davon abhält ein selbstbestimmtes und unabhängiges Leben zu führen. Der Begriff Behinderung soll in dieser Arbeit mit den Wörtern Handicap, Beeinträchtigung und Funktionsstörung gleichgesetzt werden. Dabei beziehen sich die Termini immer auf alle verschiedenen Arten von Behinderung. Handelt es sich um spezielle Behinderungsformen, so wird dies explizit erwähnt.

2.1.1 Verschiedene Behinderungsformen

Ein integratives Konzept will Menschen mit den verschiedensten Arten von Behinderung zusammen bringen. Aufgrund der Vielfältigkeit der Behinderungen, die sich in vielen Fällen überschneiden, fällt es aber schwer sie konkret einzuordnen. Die geläufigste Einteilung ist die Trennung von körperlichen Behinderungen, z.B. Querschnittslähmung und geistigen Behinderungen, z.B. Down-Syndrom. Um sie noch feiner zu unterscheiden, werden sie für diese Arbeit nach KOSEL und FROBÖSE (1999, S.21) in die drei Bereiche der Sinnesbehinderungen, der geistig-seelischen Behinderungen und der körperlichen Behinderungen eingeteilt (Abbildung 1).

Abbildung in die]ser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Allgemeine Übersicht über die Zuordnung von Behinderungen (nach KOSEL & FROBÖSE, 1999, S. 20)

Der Bereich der Sinnesbehinderungen ist relativ überschaubar und wird in Hörschäden und Sehschäden gegliedert. Des Weiteren kann zwischen Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit sowie zwischen Sehbehinderung und Blindheit unterschieden werden. Für beide Formen der Sinnesbehinderung sind drei Faktoren von Bedeutung: Zeitpunkt der Schädigung, Ort der Schädigung und Ursache (Tabelle 1). Je nachdem wann und in welchem Ausmaß die Schädigung stattfindet, hat sie mehr oder weniger Einfluss auf verschiedene Entwicklungsbereiche wie Spracherwerb oder Sozialverhalten (vgl. KOSEL & FROBÖSE, 1999 / Deutsche Gesellschaft der Hörgeschädigten, 2004 / Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband, 2010).

Tabelle 1: Übersicht der Sinnesbehinderungen (erstellt nach KOSEL & FROBÖSE, 1999, S. 219 f., 250 ff. / Deutsche Gesellschaft der Hörgeschädigten, 2004 / Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband, 2010)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die geistige Behinderung dagegen, lässt sich nicht so ohne Weiteres abgrenzen. Sie wird durch eine unterdurchschnittliche Intelligenzleistung, Defizite im adaptiven Verhalten und deren Auftreten in einer Entwicklungsperiode beschrieben. Deshalb gilt jemand nur dann als geistig behindert, wenn eine schwache soziale Kompetenz in Verbindung mit niedriger

Intelligenz vorliegt. Definitionsansätze die sich lediglich auf die IQ-Werte beziehen werden somit umgangen. Auch die Stigmatisierung von Menschen, die wegen ihrer sozialen und praktischen Anpassungsfähigkeiten trotz intellektueller Defizite ein eigenverantwortliches Leben führen können, wird vermieden. Die Ursachen einer solchen Behinderung sind sehr verschieden und können prä-, peri- oder postnatal auftreten. Außerdem treten unterschiedlichste Erscheinungsformen, wie z.B. leichte Intelligenzminderung, Trisomie 21 oder schwere Mehrfachbehinderungen, auf. Im Folgenden wird ein Überblick über die klinischen Syndrome und deren Ursachen bei geistigen Behinderungen gegeben (Tabelle 2) (vgl. SCHANTZ, 1997 / STRAUCH 2009).

Tabelle 2: Einteilung der geistigen Behinderungen in prä-, peri- und postnatale Ursachen (nach STEINHAUSEN, 2006, S. 48 f.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die seelischen Prozesse, welche zu psychischen Behinderungen führen, äußern sich als Neurosen, Psychosen, Verhaltensstörungen, etc. und werden zu den geistigen Behinderungen gezählt. Die Ursachen liegen meist in der Vergangenheit. Beispiele sind Vernachlässigung, Misshandlung oder traumatische Erlebnisse in der Entwicklung (KOSEL & FROBÖSE, 1999).

Der Begriff körperliche Behinderungen umfasst Funktionsbeeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparates, des zentralen und peripheren Nervensystems und der inneren Organe. Diese können sehr unterschiedliche Auswirkungen auf das Bewegungsverhalten haben. Das typische Bild eines

Menschen mit körperlicher Behinderung ist das des Rollstuhlfahrers, aber auch Erkrankungen des Herzens oder der Niere zählen dazu. Die wichtigsten Erscheinungsformen und Ursachen körperlicher Schädigungen werden nach den betroffenen Körperstrukturen unterschieden (Tabelle 3, Tabelle 4, Tabelle 5) (vgl. LEYENDECKER, 2000).

Tabelle 3: Schädigung von Gehirn und Rückenmark (verändert nach LEYENDECKER, 2000, S. 26 f.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 4: Schädigung von Muskulatur und Knochengerüst (verändert nach LEYENDECKER, 2000, S. 27 f.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 5: Schädigung durch chronische Krankheit oder Fehlfunktion von Organen (verändert nach LEYENDECKER, 2000, S. 28 f.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Laut dem STATISTISCHEN BUNDESAMT (2009) waren in Deutschland im Jahr 2007 6,9 Mio. Menschen als Schwerbehinderte bei den Versorgungsämtern anerkannt. Das entspricht einem Anteil von 8,4% der Gesamtbevölkerung. Die Altersverteilung zeigt erwartungsgemäß, dass knapp drei Viertel der Menschen mit Behinderung über 55 Jahre alt sind und nur 4% unter 25 Jahre. Somit liegt der Anteil der unter 25-Jährigen mit Schwerbehindertenausweis im Jahr 2007 bei 1,33% der Gesamtbevölkerung. Die körperlichen Behinderungen machen davon, mit 64,5%, den größten Anteil aus (Tabelle 6). Sie setzen sich aus Einschränkungen der inneren Organe, der Arm- und Beinfunktionen, im Bereich der Wirbelsäule und des Rumpfes, Verlust von Gliedmaßen und Brüsten, Querschnittlähmungen sowie zerebralen Störungen zusammen. Die Sinnesbehinderungen und geistigen bzw. seelischen Behinderungen treten mit jeweils unter 10% vergleichsweise selten auf. Ein Anteil von 16,8 % geht als nicht ausgewiesene Funktionseinschränkungen in die Statistik ein.

Tabelle 6: Verteilung der verschiedenen Behinderungsformen (erstellt nach STATISTISCHES BUNDESAMT, 2009, S. 5)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die häufigste Ursache von Behinderungen stellen mit einem Anteil von 82% Krankheiten dar. Nur 4,4% der Funktionseinschränkungen sind angeboren und lediglich 2,2% entstehen durch Unfälle. Die restlichen 11% der Ursachen setzen sich aus Kriegs- bzw. Wehrdienstschäden und idiopathischen Funktionseinschränkungen zusammen (Tabelle 7, Abbildung 2). Dabei muss beachtet werden, dass sich die Statistiken auf die Gesamtbevölkerung beziehen und Erkrankungen wie Herzinfarkte, Schlaganfälle, etc. den Schnitt der Ursachen stark anheben. Deshalb ist der größte Anteil der Bevölkerung mit Handicap auch über 55 Jahre alt (vgl. STATISTISCHES BUNDESAMT, 2009).

Dieser Teil der Menschen mit Behinderung ist durch den etablierten Rehabilitationssport in Deutschland, der in homogene und krankheitsspezifizierte Gruppen aufgeteilt ist, weitestgehend mit Sportangeboten versorgt. Dennoch wäre es denkbar auch diese Menschen in den Integrationssport mit einzubeziehen (vgl. RHEKER, 2008).

Tabelle 7: Verteilung der Ursachen von Behinderungen (nach STATISTISCHES BUNDESAMT, 2009, S.5)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Verteilung der verschiedenen Ursachen aller Behinderungsarten (erstellt nach Statistisches Bundesamt, 2009, S. 5)

Das Bild der Behinderung wird maßgeblich durch die soziale Situation und die Gesellschaft beeinflusst. Umweltbedingungen, wie z.B. die familiäre Situation oder die Möglichkeit der Einbindung in Freizeitaktivitäten, bestimmen den Grad der Behinderung mit. Jemand ist also nicht aufgrund seiner abweichenden Voraussetzungen behindert, sondern wird durch die Barrieren der Gesellschaft behindert. Je besser Menschen trotz ihrer Behinderung in der Gesellschaft integriert sind, desto weniger stark empfinden sie diese. Das bedeutet, dass das Ausmaß der empfundenen Behinderung auch von dem Grad der Integration abhängt (vgl. KLEE, 1980 / SPECK, 1988).

2.2 Integration

Etymologisch kommt der Begriff Integration aus dem Lateinischen: integer. Im lateinisch-deutschen Wörterbuch wird auf die Stammteile hingewiesen und bedeutet demnach soviel wie unberührt, unangetastet. Das Verb integrare bedeutet wiederherstellen und das Substantiv integratio steht für Erneuerung (vgl. STOWASSER et al., 2003). In den meisten Wörterbüchern, wie z.B. dem Duden oder Knaurs Lexikon, wird Integration als Wiederherstellung oder Vereinigung eines Ganzen bzw. Einbeziehung in ein größeres Ganzes erklärt (vgl. WERMKE et al., 2007 / JUNG SATZCENTRUM, 1999). Nach KASZTANTOWICZ (1982, S.11) bedeutet Integration ebenfalls

„ das Vervollständigen eines unvollständigen Ganzen, die Einbeziehung und Eingliederung von etwas, durch welches das Ganze erst seine eigentliche Vollständigkeit erhält “ .

Demnach würde das für unsere Gesellschaft bedeuten,

„ dass diese erst dann vollständig ist und ihr Wesen als das Gesamt aller in ihr lebenden Menschen erfüllt, wenn auch jene einbezogen sind, die am Rande stehen, welche durch irgendwelche Beeinträchtigungen nicht die ‚ Normalität ’ erfüllen, nicht das gewünschte Verhalten und nützliche Leistungen für sich und die Gesellschaft erbringen “ .

BROICH (2001) beschreibt den Begriff Integration weitgreifend als biologischen, soziologischen, psychologischen, politischen, wirtschaftlichen, juristischen, mathematischen und pädagogischen Begriff und, dass man ihm folglich in den unterschiedlichsten Kontexten begegnet. Die Begriffsbestimmung der vorliegenden Arbeit beschränkt sich auf den sozialwissenschaftlichen bzw. (sonder-) pädagogischen Bereich.

SPECK (1988) unterscheidet konkreter eine indirekte und direkte Form der Integration. Mit der indirekten Form soll die soziale Eingliederung behinderter Menschen erreicht werden, indem sie durch spezielle und separierte Erziehung eingliederungsfähig gemacht werden. Er kritisiert diese Form, da sie „durch Ausgliederung Eingliederung“ (SPECK, 1988, S. 290) erreichen will. Die direkte Form der Integration zeigt sich im gemeinsamen Lernen, Arbeiten und Wohnen und wird von SPECK (1988) nicht nur als Ziel, sondern auch als Weg verstanden. Des Weiteren beschreibt er die soziale Integration als eine Prozess- und Zielvorstellung, die erreichen will, dass Menschen in sozialen Gruppen und Institutionen zusammenleben. Das bedeutet auch, sich gegenseitig zu akzeptieren, einander zu unterstützen und sich zu ergänzen. Dies sollte unabhängig davon, ob eine Behinderung vorhanden ist oder nicht, geschehen. Laut SPECK (1988, S. 293) ist dieser Vorgang „als ein wechselwirkender Annäherungsprozess von beiden Seiten her zu sehen“. Soziale Integration ist also die Einbindung von einem Individuum in die Gesellschaft und seine Umwelt. Davon abzugrenzen ist die personale Integration. Dieser psychodynamische Begriff umfasst die innere Integration, die Akzeptanz von allen Schwächen und Besonderheiten des Körpers und des Geistes sowie das Eins-Sein mit sich selber. Die soziale und personale Integration können aber nicht getrennt werden, da sie sich gegenseitig bedingen. Jemand ist sozial integriert, solange er sich dabei im inneren Gleichgewicht fühlt und zufrieden mit seiner Lebenssituation ist. Umgekehrt aber wächst der Spielraum und die Chancen im Prozess der sozialen Integration mit jeder Steigerung der inneren Sicherheit und der positiven Annahme von sich selbst (vgl. SPECK, 1988).

Ein Teilbereich der Gesellschaft, in welchem soziale und personale Integration stattfindet, ist der Sport. Hier lernt man seinen Körper sowie die eigenen Möglichkeiten und Grenzen kennen. Dies trägt wesentlich zur personalen Integration bei. Des Weiteren bieten Sportveranstaltungen bzw. die sportliche Freizeitgestaltung den notwendigen situativen Kontext auch für die soziale Integration. Zum einen gibt er eben den Menschen mit Behinderung die Möglichkeit der Selbsterfahrung und Kompetenzdarstellung und zum anderen bietet er Nichtbehinderten die Gelegenheit, Leistungsvermögen und Verhaltensweisen betroffener Menschen kennen zu lernen und dabei die eigenen Einstellungen und Erwartungen kritisch zu überprüfen (vgl. SCHEID, 2008).

2.3 Integrationssport

Wie bereits erwähnt wurde, stellt der Integrationssport in der Sportwissenschaft nur eine Randerscheinung dar. Weder im Wörterbuch der Sportwissenschaft (BEYER, 1987) noch im Sportwissenschaftlichen Lexikon (BEYER, 2003) taucht er als Begriff auf. Ein erster erfolgreicher Versuch zur wissenschaftlichen Aufarbeitung gelingt FEDIUK (1992a/b) in seiner theoretisch begründeten, aber praxisorientierten „Einführung in den Integrationssport". Er versteht unter Integrationssport

„ die Annahme eines jeden Menschen [ob behindert oder nicht] und die Schaffung von Vorrausetzungen (...), damit jeder mit seinen Fähigkeiten, Vorraussetzungen und Interessen und seinen sozialen Bindungen in dieser Gesellschaft als gleichberechtigter Partner leben kann" (FEDIUK, 1992a, S.19).

Die verschiedenen Formen des Integrationssports sind meist Initiativen der Praktiker/innen, wie z.B. das Göttinger Modell, das Würzburger oder Paderborner Familiensportmodell oder die Erlebte Integrative Sportschule (EISs). Deshalb ist die theoretische Aufarbeitung des Themas in der deutschen Literatur nur spärlich vorgenommen worden. Neben FEDIUK (1992a, b) versucht sich auch RHEKER (1993) mit seinem „Spiel und Sport für alle“ daran. Verschiedene Herausgeber (vgl. MARKOWETZ & CLOERKES, 2000 / BECKMANN, 2002 / FEDIUK, 2008c) sammeln Beiträge zum Integrationssport. Diese beziehen sich ebenso wie Datenerhebungen zu diesem Thema (vgl. DOLL-TEPPER et al., 1994) vorwiegend auf die Integration in der Schule und im Schulsport. Es gelingt daher nur bedingt das Thema Integrationssport für den Freizeit- und Breitensport aufzuarbeiten.

Im englischsprachigen Raum werden Termini wie integration, inclusion und sogar infusion im Kontext von Sport für Menschen mit Behinderung verwendet. Den Begriff Integrationssport gibt es aber nur im deutschsprachigen Raum. International hat sich deshalb in den letzten zehn Jahren ein englischsprachiger Sammelbegriff durchgesetzt. Der Terminus Adapted Physical Activity wird von SHERRILL (1996, S. 389) folgendermaßen definiert:

„ Adapted Physical Activity is cross disciplinary theory and practice related to lifespan activity of individuals whose function, structure, or appearance requires expertise in (a) assessing and adapting ecosystems and (b) facilitating societal changes necessary for: equal access, integration/inclusion, lifespan wellness, movement success and empowerment/self-actualization “ .

Begriffe wie Behinderung oder Handicap werden hierbei ausgenommen. Der Mensch soll mit seinen individuellen Besonderheiten angenommen werden. Die Behinderung wird als ein Merkmal wie z.B. das Geschlecht oder die Haarfarbe verstanden. Somit gilt jeder mit seinen persönlichen Vorraussetzungen als Individuum. Der Oberbegriff Adapted Physical Activity umfasst den Sport mit allen Sondergruppen, d.h. Sport mit Menschen mit Behinderungen, chronischen Erkrankungen und sonstigen Einschränkungen. Er bezieht sich dabei nicht nur auf das System Schule, sondern auch auf den Freizeitbereich und insbesondere auch auf die Integrationsthematik (vgl. RIEDER, 1996 / DOLL- TEPPER, 2002 / 2003).

Sowohl im deutsch- als auch im englischsprachigen Raum ist der Integrationssport eine Entwicklung der letzten 50 Jahre. Damit die Menschen mit Behinderung in naher Zukunft als vollwertiges Mitglied in jedem Bereich unserer Gesellschaft gelten und sich nach persönlichem Bedarf dem Sport widmen können, erfordert es eine Fortführung der Entwicklung des Behinderten- und vor allem des Integrationssports (vgl. BLOCK, 1994 / FEDIUK, 2008 a).

3 Die motorische Entwicklung

Die unterschiedliche motorische Entwicklung von Menschen mit und ohne Behinderung stellt die größte Besonderheit für das gemeinsame Sporttreiben dar. Bereits in homogenen Gruppen kommt es zu Leistungsdifferenzen einzelner Teilnehmer, z.B. in der Gleichgewichtsfähigkeit oder der Beweglichkeit. Hier bringen jedoch alle Teilnehmer ähnliche kognitive und motorische Voraussetzungen mit, sodass das Gestalten der Sportstunde und das Eingehen auf die Unterschiede einfacher ist. Der Übungsleiter muss den Unterricht nicht so differenziert planen, wie wenn z.B. Teilnehmer ohne Behinderung, mit geistiger Behinderung sowie Rollstuhlfahrer eine Gruppe bilden. Andererseits bieten diese Unterschiede wiederum Möglichkeiten. Die Leistungsschwächeren können von den Stärkeren lernen und diese bauen ihre Sozialkompetenzen aus. Durch eine gut vorbereitete Differenzierung und Gestaltung der sportlichen Aktivität kann auch jeder Teilnehmer seine motorischen Fähigkeiten auf dem persönlichen Niveau trainieren (vgl. DOLL- TEPPER, 1994 / KOSEL & FROBÖSE, 1999 / STRAUCH, 2009).

Die koordinativen und konditionellen Fähigkeiten bilden zusammen die motorischen Fähigkeiten und bedingen sich gegenseitig. Der qualitative Aspekt der Motorik wird durch die koordinativen Fähigkeiten bestimmt. Sie sind von der Informationsverarbeitung, der Bewegungssteuerung und Bewegungsregelung abhängig. Die konditionellen Fähigkeiten dagegen prägen den quantitativen Aspekt und werden von Prozessen der Energiebereitstellung und Energieübertragung beeinflusst (vgl. HIRTZ, 1985). Die motorische Entwicklung ist demnach ein komplexes Konstrukt und vollzieht sich durch aktives Handeln des Individuums in einer Person-Umwelt-Interaktion. Daraus resultieren Wechselbeziehungen zwischen Anpassungsprozessen des Individuums an seine Umwelt sowie Einflussnahme des Individuums auf seine Umwelt. Diese bewirken Fortschritte in der personalen und sozialen Integration und sind demnach von großer Bedeutung für integrative Konzepte. Bewegung ist laut BALSTER (2003, S. 4) auch „ein grundlegendes Mittel zum gefühlsmäßigen Erleben, zur Verständigung, Einordnung des Einzelnen in die Gemeinschaft und Erkenntnisgewinnung“. Störungen im Bereich der motorischen En twicklung haben exorbitanten Einfluss auf die Persönlichkeitsentwicklung und damit auch auf die personale Integration. Durch mögliche Behinderungen kann die Gesundheit eines Menschen so beeinflusst werden, dass die Entwicklung verschiedener Bereiche, wie Sozialkompetenz oder Organfunktionen, beeinträchtigt werden (Abbildung 3). Dies führt ohne Intervention meist zu sozialer Isolation. Durch integrativen Sport, bei dem neben dem Miteinander die individuelle Förderung im Vordergrund steht, kann die motorische Entwicklung positiv beeinflusst und einer Ausgrenzung entgegen gewirkt werden (vgl. DORDEL, 2003).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Einfluss von Behinderungen auf die Entwicklung (verändert nach DORDEL, 2003, S. 242)

3.1 Die motorische Entwicklung im Kindes- und Jugendalter ohne Beeinträchtigung

Die motorisc he Entwicklung gliedert sich nach dem Ontogenesemodell von MEINEL und SCHNABEL (2007) in 13 Phasen (Tabelle 8). Die Lebensabschnitte des frühen Säuglingsalters bis zum frühen Jugendalter stellen den Zeitraum der größten Veränderungen und Entwicklungen der Motorik dar. In dieser Zeit können nach und nach sportmotorische Fähigkeiten und sportartspezifische Bewegungsabläufe erlernt werden. Das späte Jugendalter bis zum 18. bzw. 19. Lebensjahr ist von einer geschlechtsspezifischen Differenzierung sowie Individualisierung geprägt. In dieser Zeit laufen die Entwicklungen auf einem beständig hohen Niveau ab. Bis zu einem Alter von 30 bis 35 Jahren können die erlernten Fähigkeiten, bei Fortbestehen der sportlichen Betätigung, erhalten werden. An dieses frühe Erwachsenenalter schließt sich das mittlere, späte und schließlich das spätere Erwachsenenalter an. In diesen Phasen nehmen die motorischen Leistungen, trotz Übens allmählich ab. Die Einteilungen bieten lediglich einen Überblick. Je nach individuellem Entwicklungsstand des Körpers und Ausmaß der sportlichen Förderung können sich die Phasen auch verschieben und bestimmte Fähigkeiten früher oder später erlernt werden (vgl. MEINEL & SCHNABEL, 2007 / RUSCH & WEINECK, 2007).

Tabelle 8: Entwicklungsphasen in der Ontogenese des Menschen und deren motorische Kennzeichnung (verändert nach MEINEL & SCHNABEL, 2007, S. 248 / RUSCH & WEINECK, 2007, S. 264 ff.)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Zeit vom frühen Säuglings- bis zum späten Jugendalter, welche in der Tabelle 8 farbig hinterlegt ist, bietet für die Entwicklung motorischer Fähigkeiten die effektivsten Voraussetzungen. Deshalb sollen diese Phasen im Folgenden detailliert betrachtet werden. Durch die körperlichen und kognitiven Veränderungen können Menschen in diesem Zeitraum am leichtesten und nachhaltigsten lernen. Die motorische Ausbildung ist wie oben angesprochen von großer Bedeutung, vor allem für die persönliche Entfaltung von Kindern mit Behinderung und stellt somit einen wichtigen Aspekt der Integration dar (vgl. DORDEL, 2003).

Den ersten bedeutenden Abschnitt stellen das frühe sowie späte Säuglingsalter und das Kleinkindalter, welches bis zum dritten Lebensjahr dauert, dar. In dieser Zeit, nach der pränatalen Phase, entwickeln sich aus Reflexbewegungen über ungerichtete Massenbewegungen erste koordinierte Bewegungen, wie z.B. Kopfbewegungen. Daraus entstehen anschließend vielfältige Bewegungsformen, wie z.B. Greifen, Stehen, Laufen, Einbeinstand und Hüpfen (Abbildung 4). Es werden Grundlagen für die fortführende motorische Entwicklung gelegt (vgl. MEINEL & SCHNABEL, 2007 / AOK, 2008).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 4: Motorische Entwicklung bis zum Kleinkindalter (nach AOK, 2008)

Die Phase des frühen Kindesalters dauert vom dritten bis zum sechsten bzw. auch siebten Lebensjahr (vgl. LUDWIG, 1994 / MEINEL & SCHNABEL, 2007). Während die Entwicklung des Kleinkindalters vor allem von der Aneignung vielfältiger Bewegungsformen gekennzeichnet ist, gilt das frühe Kindesalter als Zeit der Vervollkommnung der bereits erlernten Bewegungsformen. Außerdem werden erste Bewegungskombinationen erworben, wie z.B.

[...]

Ende der Leseprobe aus 125 Seiten

Details

Titel
Integrative Sportgruppen: Hintergründe, Konzepte und Strategien
Hochschule
Technische Universität München
Note
1,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
125
Katalognummer
V167811
ISBN (eBook)
9783640847518
ISBN (Buch)
9783640843428
Dateigröße
1496 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Integration, Sport für Menschen mit und ohne Behinderung
Arbeit zitieren
Johanna Daiminger (Autor:in), 2010, Integrative Sportgruppen: Hintergründe, Konzepte und Strategien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/167811

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