Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Entstehung des Gedichts und der Komposition
2. Der Eichendorff-Text
2.1 Textuelles Umfeld 1: Der Roman Ahnung und Gegenwart
2.2 Textuelles Umfeld 2: Der Eichendorff-Liederkreis op. 39
2.3 Das Gedicht Zwielicht, literarische Analyse
2.3.1 Form, Metrum und Rhythmus
2.3.2 Der Begriff Zwielicht
2.3.3 Onomatopoesie
2.3.4 Bildlichkeit und Wahn
2.3.5 Wirklichkeitsbezug und Fiktionalität
2.4 Bezüge zur Biographie Schumanns
3. Das Lied Zwielicht op. 39 Nr. 10
3.1 Einbettung im Liederzyklus op. 39
3.1.1 Anordnungen
3.1.2 Tonarten
3.2 Die musikalische Analyse
3.2.1 Die Gesamtstruktur
3.2.2 Die Einleitung
3.2.3 Die Gesangsstimme
3.2.4 Das »geliebte Reh«, eine »glatte« Strophe?
3.2.5 Der »falsche Freund« und »wer bin ich?«
3.2.6 Die Schlussstrophe: Hüte dich, kommst nimmermehr aus diesem Wald!
4. Anhang
4.1 Faksimile des Autographen Nr. 58 Zwielicht
4.2 Zwielicht, Phrasenstruktur
4.3 Droste-Hülshoff, Das Spiegelbild
5. Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1 Vergleich der Liedanfänge von Zwielicht und Mondnacht
Abb. 2 Zwielicht T. 28-31 Melodieverläufe
Abb. 3 Vergleich Zwielicht T.39-41 mit Waldesgespräch T.39-41
Abb. 4 Faksimile des Autographen Nr. 58 Zwielicht (1)
Abb. 5 Faksimile des Autographen Nr. 58 Zwielicht (2)
Abb. 6 Faksimile des Autographen Nr. 58 Zwielicht (3)
Abb. 7 Zwielicht, Phrasenstruktur (1)
Abb. 8 Zwielicht, Phrasenstruktur (2)
Abb. 9 Zwielicht, harmonische Funktionen (1)
Abb. 10 Zwielicht, harmonische Funktionen (2)
Genie ist die Berührung eines
Menschen mit der Sonne.
Verbrennung ist unvermeidlich.
Peter Bares, Komponist
1. Entstehung des Gedichts und der Komposition
Joseph von Eichendorff (*1788 - †1857), Zeitgenosse Schumanns (*1810 - †1856), ist auch heute noch dem Klischee des naiven Volksdichters unterlegen, der der Natur und der Volksseele unmittelbaren Ausdruck verleiht.[1] Dabei wurde der Kunstcharakter von Teilen seiner Lyrik und speziell der Verweigerungscharakter ihrer Bildsprache übersehen, ebenso Eichendorffs symbolische Bezüge auf eine Transzendenz, die hinter den Formeln von »Berg«, »Tal«, »Strom«, »Heimat« und vor allem »Wald« als archetypischen Bildern aufscheint.[2] Er sieht Natur und Mensch als nur partiell entzifferbare, prinzipiell aber rätselhafte Hieroglyphen.[3] Adorno rückt Eichendorff in die Nähe von Novalis: »Er war kein Dichter der Heimat sondern der des Heimwehs, im Sinne des Novalis, dem er nahe sich wusste.«[4]
Zur Rezeption der Eichendorff-Gedichte stellt Sautermeister fest: »Die Gedichte Eichendorffs wurden hauptsächlich durch ihre Melodien verbreitet. E. Busse zählt, unter Einbeziehung aller Vokalgattungen, allein aus den beiden letzten Drittel des 19. Jh.s ›weit über 5000 E.- Vertonungen‹.«[5]
Das Gedicht Dämmrung will die Flügel spreiten erscheint zunächst als eines von etlichen in Prosatext eingebetteten Liedern in Eichendorffs, von Friedrich de la Motte Fouqué herausgegebenen Erstlingsroman Ahnung und Gegenwart 1815 in Nürnberg[6] und wird dann später 1837 im ersten Gedichtband Eichendorffs erstmalig unter dem Titel Zwielicht als fünftes der Wandererlieder losgelöst vom Roman abgedruckt.
Das sogenannte »Liederjahr« 1840 mit ca. 140 Liedern, darunter: Liederkreis op. 24 (Heine), Myrten op. 25, Liederkreis op. 39 (Eichendorff) und Dichterliebe op. 48 (Heine) ist für Robert Schumann eines der produktivsten und in seinem Leben eines der glücklichsten mit der Promotion zum Dr. phil. an der Universität Jena, dem herbeigesehnten positives Gerichtsurteil gegen den Vater Wieck und der daraufhin am 12. September stattfindenden Hochzeit mit Clara.[7]
Das 10. von insgesamt 12 Eichendorff-Liedern im Liederkreis ist Zwielicht, versammelt im dreibändigen autographen Liederbuch als Nr. 58 im 2. Band. Dort ist am Beginn der Nr. 58 links oben das Kompositionsdatum und die Gedichtüberschrift vermerkt: »19ten Mai 40 'Zwielicht' von Eichendorff«.[8]
Fischer-Dieskau macht auf einen Umstand, der sich aus einem Brief Schumanns an Clara ergibt, aufmerksam.
Letzte Klarheit über die genaue Entstehungszeit der Lieder ist kaum zu erlangen. Am 15. Mai schreibt Schumann an Clara: »Eichendorffsche (Lieder) sind es zwölfe. Die hab' ich aber schon vergessen und etwas Neues angefangen.« Also hatte er sie bereits beendet, obwohl in den »Notenbüchern«, die die Manuskripte enthalten, die Datierungen für die Entstehung über den 15. Mai hinausgehen.[9]
Der Eichendorff-Text ist dem Buch Gedichtabschriften[10], die Robert und Clara u.a. aus dem oben erwähnten Gedichtband Eichendorffs abschrieben, entnommen, einem Vorrat von 169 Gedichten, von denen Schumann 101 vertonte.[11] Dort steht es in der 2. Abteilung unter II/12.
Gleichwohl muss er aber für die Komposition nochmals auf den Eichendorff'schen Gedichtband zurückgegriffen haben, denn er übernimmt offensichtliche Ungenauigkeiten der Abschrift Claras nicht in den Kompositionstext.[12]
Der Liederkreis erschien dann zuerst 1842 bei Tobias Hasslingers Verlag in Wien und ging später auf F. Whistling, Leipzig, über mit gleichzeitigen Änderungen von Schumanns Hand.[13]
2. Der Eichendorff-Text
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[14][15]
2.1 Textuelles Umfeld 1: Der Roman Ahnung und Gegenwart
»Eine große Zahl von Gedichten Eichendorffs ist in Romane, Erzählungen, Schauspiele und Versepen verflochten, doch anders als im Werke Brentanos entwickeln sich diese Lieder nicht aus dem umgebenden Prosatext.«[16]
Dies gilt jedoch nicht für das Gedicht Dämmerung will die Flügel spreiten, das im zweiten Buch des Romans Ahnung und Gegenwart im letzten Kapitel ziemlich am Ende als Lied im Prosatext erscheint.[17] Hier hat das Lied deutliche Bezüge zur Szene, in die es gesetzt ist. Die Hauptfigur des Romans, der junge Graf Friedrich, steht »in höchster Einsamkeit« im Wald. Der Abend rückt näher, die Abendsonne scheint. Da hört er das Lied in einiger Entfernung ohne die Stimme des Sängers zu kennen. Aber er fühlt sich unmittelbar angesprochen: »es wurde wieder still. Friedrich erschrak, denn es kam ihm nicht anders vor, als sei er selber mit dem Lied gemeint.«[18] Damit ist der inhaltliche Bezug hergestellt. Die Abendszene des Romans erst lässt die Dämmerung des Gedichtes als Abend- dämmerung erkennen. Im Gedicht selbst bleibt dies unklar.
Zweite und dritte Gedichtsstrophe haben ebenfalls Bezug zur umgebenden Romanszene, in der eine Jagdgesellschaft geschildert wird. Die blasenden Jäger, das »hin und wieder« akustischer Eindrücke, das Bild des »Krieges« und das des »erschreckenden Innewerdens« (= »bleib wach«) sind ebenfalls Szenenbestandteile:
Die Gesellschaft hatte sich unterdes nach allen Richtungen hin zerstreut, und die Jagd ging wie ein Krieg durch das Gebirge. [...] einzelne Schüsse fielen hin und her, das Hifthorn verkündigte von Zeit zu Zeit den Tod eines jeden Tieres.[19]
Und nachdem das Lied geendigt hat und Friedrich sich im Lied voll Schreck gemeint fühlt, erscheint plötzlich seine Geliebte
Rosa in ihrer Jägertracht vor ihm. [...] Hochrot im Gesicht, ängstlich und verwirrt, wandte sie sich schnell und sprang wie ein aufgescheuchtes Reh, ohne der Gefahr zu achten, von Klippe zu Klippe die Höhe hinab, bis sie sich unten im Walde verlor.[20]
Der Vergleich »Rosa« und »Reh« findet seine metaphore Entsprechung in Zeile 5 des Gedichtes.
Rosa flieht Friedrich deshalb, weil sie - verführt durch den Erbprinzen - Friedrich gegenüber ein schlechtes Gewissen hat. Die Jagdszene ist ihrerseits eingebettet in jene Szene, in der es um diesen Liebesbetrug geht. Das Kapitel endet:
Unermüdet durchstreifte er [Friedrich, Anm. d. Verf.] nun den Wald nach allen Richtungen, denn jede Minute schien ihm kostbar, um der Ausführung dieser Verräterei zuvorzukommen.[21]
Dies korrespondiert mit der warnenden 6. Zeile des Gedichts und die Gesamtsituation der Beziehung zwischen Friedrich und dem Erbprinzen, dem freundlichen Verführer, spiegelt sich in der Aussage der 3. Strophe.
Die etwas umfangreichere Darstellung will zeigen, dass das szenische Umfeld des Romans insbesondere die zweite und dritte Strophe in ihren Bildern erhellend wirkt, aber gleich auch diese in ihrer Bedeutungsweite einschränkt, die sie im Roman-losgelösten Kontext der späteren Gedichtsammlung, sowie in Schumanns Liederzyklus haben.
Eine erste Loslösung der Lyrik vom umgebenden Romantext und ihre neue Einordnung unter Wanderlieder, einer der sieben Rubriken der Gedichtsammlung, geschieht 1837 mit der erwähnten neuen Zusammenstellung durch Eichendorff selbst. Dies ist ein nicht unwichtiger Akt, nicht nur wegen der hinzugesetzten Überschrift, sondern vor allem wegen des damit einhergehenden Abstraktionsprozesses. Die Bilder des Gedichtes untermalen nicht mehr eine Romanhandlung; Geschehen und Empfindungen sind allgemein geworden und nicht mehr auf den Protagonisten des Romans bezogen. Damit wird auch der Anspruch der Aussagen weitergreifend. Das »du« in Strophe drei und vier ist nicht mehr die Romanfigur Friedrich, sondern nunmehr ein Ungenannter, der Rezipient oder das lyrische Ich, das sich selbst meint. Eichendorff malt nicht naiv. Seine lyrische Welt ist doppelbödig.
2.2 Textuelles Umfeld 2: Der Eichendorff-Liederkreis op. 39
Der Liederkreis stellt das Gedicht, nun mit seiner Überschrift Zwielicht versehen, in einen wiederum neuen, von Eichendorff nicht beabsichtigten Kontext. Dies bedeutet, dass von Schumann neue Textbezüge hergestellt werden, zum einen Bezüge der Gedichte zueinander, zum anderen Bezüge zum Ton-Dichter Schumann selbst und seinem Verständnis der Eichendorff-Texte, womöglich auch zu seiner Biografie. Der Tondichter ist damit zugleich Rezipient und Koautor auf der textlichen Ebene.[22] »Nahezu alle Liedkompositionen Schumanns sind über eigene kleinteiligere zyklenbildende Verfahren verbunden, über persönliche Bezüge mit der Biografie Schumanns oder bestimmte Themen.«[23]
Durch den so neu geschaffenen zyklischen Zusammenhang der Eichendorff-Gedichte, - 12 der 16 Vertonungen beinhaltet dieser Zyklus, - werden über eine reine Anthologie hinausgehend auch neue semantische Bildbezüge hergestellt. Auf den Zyklus bezogen erscheinen vor allem die Schlüsselworte Wald (12-malige Nennung), Stille (9x), rauschen (8x), Herz (7x), Nacht (6x) und die Fragen nach der eigenen Identität (»weiß nicht, wer ich bin«) bzw. nach dem Unverstanden-sein (»es weiß... doch keiner«) (7x) häufig, natürlich auch, weil sie typische Ausdrucksmittel romantischer Lyrik darstellen. Diese neuen Bezüge herzustellen ist ein erster Akt des kompositorischen Schaffens Schumanns.
Allerdings stellen die ausgewählten Texte keine fortlaufende Handlung oder eine Bilderlandschaft dar, wie etwa in Schuberts Winterreise. Die Texte sind geradezu handlungsarm, aber - und das ist auffällig - sie sind »ausschließlich solche Texte [...], die stark emotional geprägte Aussagen enthalten,« wie Busse treffend feststellt.[24]
Zwielicht nun hat vor allem zur Mondnacht, die von Schumann 10 Tage früher am 9.5.1840 fertig gestellt wurde, bildliche Bezüge, die auffallen. Die beiden Gedichte stehen sich gleichsam antithetische gegenüber: die sternklare Nacht besitzt noch soviel Grundhelligkeit, dass der Blütenschimmer, der weich gezeichnete Bereich des Horizonts, an dem sich Himmel und Erde berühren, und die wogenden Getreidefelder erkennbar bleiben. Solche Lichtverhältnisse sind von denen der Dämmerung kaum unterschieden. Doch der Kontrast der gewählten Bilder könnte nicht größer sein: ein stiller Kuss der Elemente Himmel und Erde dort, hie das schaurige Rühren der Bäume und die dräuenden Wolken, die dem Menschen ein Grauen einflößen. Das Verb rühren bezeichnet ja ein kaum merkliches Sich-von-der-Stelle-bewegen. Das wirkt hier wie ein schauriger Spuk.[25] Der Vergleich der Wolken mit schweren Träumen assoziiert albtraumartige Empfindungen. Die Dämmerung wird wie die Bäume und Wolken personifiziert, wird zum Vogel, der seine gegen den Himmel schwarz sich abhebenden Flügel »spreitet« ohne Kontur alles überschattend; Dämmerung ist allgegenwärtig. Die schweren Träumen kontrastieren zum Träumen der Erde im Blütenschimmer. Das indikative Präsens verleiht der Fiktionalität des Bildes der ersten Strophe in Zwielicht so etwas wie psychische Realität, während das konjunktive Imperfekt des stillen Kusses in Mondnacht eher eine Sehnsucht nach grenzenloser Harmonie zeichnet. Die Sehnsucht verleiht der Seele Flügel[26], die sie weit ausspannt. Auch dieses Bild kontrastiert zur Flügel ausbreitenden Dämmerung in Zwielicht vollständig, ein zwielichtiges Etwas, das alles mit seiner Düsternis überdeckt.
Schließlich endet die letzte Strophe in Mondnacht mit dem optativischen Bild der Heimkunft, in dem keine Fremde mehr und völlige Geborgenheit ist. In Zwielicht hingegen ist in der letzten Strophe von Untergang, Verlorensein und Angst (»Hüte dich, bleib wach und munter!«) die Rede. Was da untergeht und neu geboren wird, bleibt im semantischen Dunkeln; geheimnisvoll bleibt auch das Unwiederbringliche, das sich im Schatten der Nacht verliert. Dieses Bild korrespondiert mit dem der dritten Zeile »schwere Träume«. Beide Bilder sind Angst besetzt.
Zwielicht passt so gar nicht in das Klischee von naiver Naturbeschreibung und schwelgender Volksseele. Nicht eine Zeile »bedient« vordergründige Romantik. Zwielicht, Grauen, Stimmen, Tücke, Verlorenheit sind die dominierenden Bilder. Angst und Misstrauen, getrieben bis zur Paranoia in der letzten Zeile, verweigern sich jedem biederen Romantikgefühl. Die Paranoia formuliert Heidegger als allumfassende, allbeherrschende Befindlichkeit: »Wovor die Angst sich ängstet, ist das In-der-Welt-sein selbst.«[27]
Anknüpfend an den letzten Gedanken soll noch ein weiterer Bezug, der erst durch die zyklische Zusammenstellung der Eichendorff-Texte durch Schumann hergestellt wird, verdeutlicht werden. Es handelt sich um die jeweils letzte Zeile der Gedichte Zwielicht und Waldesgespräch: »Hüte dich, sei wach und munter!« und »Kommst nimmermehr aus diesem Wald«.
Ist es in Zwielicht vor allem in Strophe zwei und drei die Außenwelt (Geliebte und Freund), so setzen Zeile drei und vier sowie Zeile 16 dazu die Klammer der Innenwelt mit den psychischen Bildern Träume, Grau'n, wach und munter. Es liegt in der Doppeldeutigkeit von Zwielicht, dass das »Hüte dich« nicht einzig das Rezipienten-Du, sondern ebenso das lyrische Ich in der autoreflexiven Ansprache meint. So gelesen werden das auffallend anonymisierte »müde untergehen «, »neu-geboren-werden «, vor allem aber das merkwürdige »verloren bleiben« oder »-gehen« (Schumann) Metaphern der wirren Intrapsyche (vgl. auch Kapitel 2.3.4) und des Grauens, die sich auftun vor der Gefahr des Verlustes der eigenen Identität, der Gefahr, die Eichendorff wie Schumann vielfach thematisieren, unter anderem in Waldesgespräch: »du weißt nicht, wer ich bin.«Dass Schumann das statische, bereits geschehene »bleibt« in Zeile 15 ersetzt gegen das eine Möglichkeit aufzeigende »geht« - »Manches geht in Nacht verloren« -, verstärkt die Dynamik und macht das »Hüte dich (davor)« erst semantisch sinnvoll.[28]
Die Ambivalenz des lyrischen Ichs und der mögliche Identitätsverlust, dies erzeugt das eigentliche Grauen: »Hüte dich, kommst nimmer mehr aus diesem Wald!«. - Die Parallele in der Vertonung der beiden letzten Zeilen dieser Gedichte wird in Kap. 3.2.6 erläutert werden.
2.3 Das Gedicht Zwielicht, literarische Analyse
2.3.1 Form, Metrum und Rhythmus
Das Gedicht besteht aus vier vierzeiligen Strophen in fließendem Rhythmus, in dem die Hebungen nirgends stark aufgipfeln und keine Pausen im Fluss festzustellen sind. Der Fluss ist geprägt vom trochäischen Versfuß, der ohne Wechsel durchläuft mit vier Hebungen pro Zeile. Dieses Metrum verleiht dem Gedicht eine solide Festigkeit, die scheinbar in Opposition steht zu seinem Inhalt, scheinbar insofern die im Gedicht thematisierte Angst (s.u.) im starren Metrum ihre rhythmische Entsprechung findet.
Die Zeilenendungen sind ausnahmslos weiblich.
Die Reimstellung ist die des Blockreims, also der Form abba. Die Reime sind rein mit wenigen Ausnahmen: Zeile 1 mit 4; 9 mit 12 und 14 mit 15, wo die Reimwörter unterschiedliche Länge besitzen.
Formale Klammern bilden erste mit vierter und zweite mit dritter Strophe, wobei die Zeichensetzung von erster und vierter Strophe auffällig ist: 3. und 15. Zeile schließen mit Gedankenstrichen, 4. und 16. Zeile mit Frage- bzw. Ausrufezeichen ab. Diese Zeilen korrespondieren paarweise auch inhaltlich. »Beide Male verschiebt sich an dieser Stelle die Perspektive des Gedichts, ein ›anderes‹ bricht in die Ebene der Strophe ein, in der ersten die fragende Stimme, die das Naturbild verdrängt, in der letzten die anrufende Stimme, die sich aus abendlicher Vision und Reflektion herauslöst.«[29]
Die formalen Klammern finden ihre inhaltliche Entsprechung: die »Dämmrung« in der ersten Strophe wird in der vierten metaphorisch über »Untergang« und »Neubeginn« in die »Nacht« überführt. Der Mensch kommt in beiden nicht vor.
Als sei ein zweites Gedicht in diese äußere Klammer geschoben, handeln zweite und dritte Strophe ohne Übergang unvermittelt von menschlichem Trug.[30]
2.3.2 Der Begriff Zwielicht
Der Begriff Zwielicht wird etymologisch als Kompositum aus dem ahd. »zwi-« und dem hd. »licht« abgeleitet, wobei dem »zwi-« »nicht eigentlich die Bedeutung ›doppelt‹ zugrunde [liegt], sondern die Vorstellung ›halb, gespalten, geteilt‹ oder ›zweifelhaft, schwankend‹«.[31]
Im Großen Knaur findet sich der lexikalische Eintrag: »Zwielicht: Schwache Beleuchtung durch diffuse Lichtquellen, z.B. bei Dämmerung durch gedämpftes Tageslicht und künstliche Lampen. Z. wird als unangenehm empfunden, weil es die Farben verfälscht«.[32]
Bei Auerbach heißt es: »... wenn neben dem allgemeinen Tageslicht noch eine begrenzte künstliche Lichtquelle sich geltend macht. Im gewöhnlichen Leben nennt man das Zwielicht und empfindet es schon hier als etwas Unangenehmes.«[33]
Im philosophischen, metaphorisch geweiteten Sinne zerfällt das Wesen an sich, wenn es von zwei Seiten beleuchtet wird, in das eine und andere, in das Eigentliche und Uneigentliche: eine Wesensspaltung. Um derartige intrapsychische Befindlichkeiten geht es im Eichendorff-Roman, geht es in etlichen dortigen Liedern:[34]
[...]
[1] Man lese z.B. den Essay von Frühwald über Eichendorff in: Jens o.J., S. 69, der die Klischeevorstellungeneher befestigt, als sich um eine differenzierte Würdigung des Eichendorff'schen Schaffens bemüht.
[2] Kühn apostrophiert in seinem Lehrbuch Analyse lernen zu Recht: »Eichendorff malt nicht naiv. Seine lyrische Welt ist doppelbödig. Die poetischen Bilder enthalten dämonische Züge: Der Zauber der Natur hat auch sein Unheimliches, und an ihrem in sich ruhenden Schönen wird zugleich die eigene Gefährdung bewusst.« Kühn 1999, S. 199.
[3] Vgl. auch Killy 2005, S. 4.362ff.
[4] Adorno 1958, S. 78.
[5] Sautermeister und Frühwald o.J., S. 70.
[6] Vgl. ebda. S. 70f.
[7] Vgl. die biographischen Angaben zu Schumann in: http://www.schumannzwickau.de/biografie.asp, (eingesehen 10.05.2010).
[8] Faksimile des Autographs in: Knaus 1974, S. Anhang. Vgl. auch hiesiges Kap. 4.1.
[9] Fischer-Dieskau 1985, S. 107.
[10] Vgl. Schulte 2005, S. 70f.
[11] Die Schumann Forschungsstelle nennt stattdessen nur 94 Vertonungen. Vgl. hierzu die Angaben der Schumann-Forschungsstelle http://www.schumann-ga.de/home/stand-der-editiion/79-literarische-vorlagen-der-lieder.html (eingesehen 10.05.2010).
[12] Vgl. Schumann 2002, S. 91.
[13] Vgl. zu den Änderungen den Revisionsbericht in: Schumann o.J., S. 31ff, insbesondere S. 38.
[14] Die Schreibweise entspricht derjenigen der Gedichtfassung. v. Eichendorff 1984b, S. 11. Die Fassung als Lied im Roman Ahnung und Gegenwart weicht hiervon nur in einigen Apostrophen und Großschreibung der 2. Person sing. unwesentlich ab. v. Eichendorff 1984a, S. 221.
[15] Die Abweichungen in Schumanns Liedtext gegenüber der Schreibweise bei Eichendorff sind kursiv gesetzt mit Ausnahme der klein geschriebenen Zeilenanfänge. Vgl. Faksimile in: Knaus 1974, S. Anhang und hiesiges Kap. 4.1, sowie Schumann 2002, S. 91.
[16] Sautermeister und Frühwald o.J., S. 69.
[17] v. Eichendorff 1984a, S. 221.
[18] Ebda. S. 221.
[19] Ebda. S. 220.
[20] Ebda. S. 221.
[21] Ebda. S. 228.
[22] »Dichter und Componist in einer Person« bezeichnet sich Schumann selbst 1825 in den Tagebüchern (Schumann und Eismann 1956, S. 18) und differenziert 1828: »Jeder Tonkünstler ist ein Dichter, nur ein höherer« (Schumann 1971, S. 41). Damit sind die Überschriften für seine lebenslange »Suche nach der Synthese von Dichtung und Musik« (Gesse-Harm 2006, S. 157) gesetzt. Die 1834 erfolgte Gründung der Neuen Zeitschrift für Musik mit Schumann als Redakteur ist nur eine der Konsequenzen dieser Suche.
[23] Schumann 2002, S. XXIII.
[24] Busse 1975, S. 46.
[25] Von »schaurigen Bäumen« ist auch in Nr. 6 Schöne Fremde die Rede: »Es rauschen die Wipfel und schauern.«
[26] Dass der Seele Flügel eigen seien, ist eine bekannte Metapher, die unter anderem Platon im »Phaidros« verwendet, wenn er die Wirkung des Eros beschreibt. Vgl. Platon 1963, S. 44.
[27] Heidegger 1993, S. 187.
[28] Die weiteren Textveränderungen in der 4. Strophe sind mehrfach Gegenstand der Erörterung in der Literatur. Brinkmann misst diesen keine sinn-ändernde Bedeutung zu. Vgl. Brinkmann 1997, S. 69. Dem schließe ich mich vollinhaltlich an.
[29] Seidlin 1985, S. 243.
[30] Vgl. auch Ferris 2005, S. 140.
[31] Man bedenke auch die Wortverwandtschaft in ›Zweifel‹ und ›zwiefältig‹. Vgl. Grimm und Grimm 1961, Bd. 32, Sp. 1156 und Bd. 12, Sp. 861.
[32] Störing 1972, S. 696.
[33] Auerbach 1924, S. 108.
[34] Der Knabe Erwin, der eigentlich eine Erwine ist, - »Es weiß und rät doch keiner«, - ist eine solche Romanfigur.