Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
1. Einleitung
2. Theorie der modernen Autobiographie
2.1 Entwicklung zur modernen Autobiographien des 20. Jahrhunderts
2.2 Charakterisierungen moderner Autobiographien
2.3 Autobiographische Wahrheit
3. Analyse von Helga Königsdorfs Autobiographie „Landschaft in wechselndem Licht“
3.1 Autobiographischer Pakt
3.2 Erzählgestaltung und Zeitebene
3.3 Subjektive Erinnerungen
3.4 Themen und Motive
3.5 Kritische Selbstreflexionen
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis.
6. Anhang.
6.1 Biographie
6.2 Gedicht
6.3 Erklärung
1. Einleitung
„Kahn schreibt über psychische Krisen und wie er sie gemeistert hat. Kahn schreibt über seine Ausraster und warum sie richtig waren. Kahn schreibt, wie er Kahn wurde.“1 So präsentiert sich zurzeit eine der aktuellsten Autobiographien über den Fußballer Oliver Kahn in den deutschen Buchläden. Immer noch oder immer wieder erfreuen sich schriftliche Selbstoffenbarungen großer Beliebtheit bei dem lesenden Teil der Be- völkerung. Ob die Selbstdarstellung einer bekannten Persönlichkeit oder der Frau von Nebenan: Es ist äußerst reizvoll private Details aus dem Leben eines fremden Men- schen zu erfahren. Dabei spielt für den Leser eine untergeordnete Rolle, ob es sich um eine Biographie, Autobiographie oder um Memoiren handelt. Anders verhält sich die Angelegenheit für die Literaturwissenschaftler, die in zahlreichen Aufsätzen und Bü- chern über die Unterschiede zwischen den autobiographischen Genres referieren. Wäh- rend meiner Literaturrecherche musste ich jedoch feststellten, dass diese Ansicht scheinbar nicht überall verbreitet ist. In einer Rezension der Berliner Zeitung über Hel- ga Königsdorfs Autobiographie „Landschaft in wechselndem Licht“ betitelt der Ver- fasser ihr Werk fortlaufend als Memoirenbuch.2 Obwohl ich bereits der Überzeugung war, dass es sich bei diesem Werk um eine Autobiographie und nicht um ein Memoi- renbuch handeln musste, entschloss ich mich dennoch dazu, eine Differenzierung der autobiographischen Gattung vorzunehmen und als Themenpunkt mit in meine Ausar- beitung aufzunehmen.
Die Arbeit lässt sich in zwei Bereiche einteilen. Kapitel 2 umfasst die Darstellung des theoretischen Teils der Gattung Autobiographie. Drei Unterpunkte beschäftigen sich mit den Entwicklungen und den Charakteristiken moderner Autobiographien sowie mit der Definition der autobiographischen Wahrheit. Auf diese Weise soll der Leser für die autobiographische Gattung sensibilisiert werden, um in Kapitel 3 einen Transfer leisten zu können. In diesem Kapitel folgt auf der Grundlage theoretischen Wissens schließ- lich die Analyse des Primärtextes „Landschaften in wechselndem Licht“. In fünf Un- terkapiteln wird der Text auf typische Merkmale moderner Autobiographien unter- sucht, die am Ende meine These bestätigen sollen. Dabei werde ich nicht nur die Art der Umsetzung des autobiographischen Paktes überprüfen, sondern auch nach Ereig- nissen suchen, die von der Autobiographin subjektiv oder gar nicht erwähnt werden. Des Weiteren wird die Autobiographie auf zentrale Motive und Themen untersucht, die eine Identität von Autorin und Protagonistin zusätzlich belegen. Anschließend beschäftigt sich ein letztes Unterkapitel mit kritischen Selbstreflexionen der Autorin. Mit einer Zusammenfassung endet meine Arbeit.
2. Theorie der modernen Autobiographie
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den historischen und theoretischen Grundlagen der autobiographischen Gattung. Thematisiert werden Entstehung, Entwicklung und charakteristische Merkmale der modernen Autobiographie des 20. Jahrhunderts.
2.1 Entwicklung zur modernen Autobiographie des 20. Jahrhunderts
Bereits in der Antike gab es Schriften mit autobiographischem Charakter von Platon, Caesar und Cicero sowie die „Confessiones“ des Augustinus aus dem Jahre 400. Die Texte waren ausschließlich durch ihre Vorbildlichkeit und Zweckmäßigkeit gekenn- zeichnet, weshalb sie nur wenig Beachtung und Anerkennung fanden.3 Im 18. Jahrhundert kam es zu einer Transformation von der religiös motivierten Selbstdarstellung zu einer neuen psychologisch geprägten Selbsterforschung, die den Fokus auf die Geschichte der eigenen inneren Entwicklung setzte.4 Durch Jean-Jacques Rousseau erhielt die Suche nach dem persönlichen Wesen und der innersten Natur des Ichs Einzug in die Autobiographie, deren Gestalt durch Apologie und Schuldbekennt- nis geprägt war.5 Mit zunehmender Wertschätzung etablierten sich die Begriffe „Bio- graphie“ und „Autobiographie“, und in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ent- stand schließlich ein Gattungsbewusstsein.6
Im 19. Jahrhundert setzte sich der Begriff „Autobiographie“ als gültige und dominie- rende Bezeichnung für den gemeinten Gegenstand durch.7 Zunehmendes wissenschaft- liches Interesse führte in der Folge dazu, dass die Autobiographie als eigenständige li- terarische Gattung anerkannt und als psychologische und historische Quelle überaus wertvoll wurde.8 Als entscheidender Abschnitt für die Geschichte und Entwicklung der Autobiographie gilt die Phase von Rousseaus „Confessions“ (1782) bis zu Goethes „Dichtung und Wahrheit“ (1811 bis 1833). Goethe prägte das in Form und Gestalt kei- neswegs ideale Fundament, aus dem sich später zahlreiche Modifizierungen entwickel- ten.9 Sein Modell der autobiographischen Selbstdarstellung hatte noch bis ins 20. Jahr- hundert hinein maßgebliche Vorbildfunktion.10 Dies hatte unterschiedliche Gründe: Zum einen wurden Anfang des 20. Jahrhunderts alte ideologische Werte und traditio- nelle Muster restauriert und stabilisiert.11 Zum anderen führten die Erlebnisse aus den Weltkriegen zu der Rückkehr zu traditionellen Mustern.12
Im 20. Jahrhundert war das dominanteste Merkmal der Autobiographie die Gattungs- verschiebung und Zersplitterung in verschiedene Mischformen.13 Die Hinwendung zum autobiographischen Roman oder zur autobiographischen Erzählung in den 70er Jahren blieb aber die einzig durchgängige, innovative Gattungsvariation bis zur Ge- genwart.14 In dieser Zeit, in der es zu einer „Renaissance der Autobiographie- Forschung“15 kam, wurde verstärkt vom autobiographischen Schreiben statt von Auto- biographien gesprochen, um den traditionellen und festgeschriebenen Gattungsmerk- malen entgegenzuwirken.16 Es kam zu einer regelrechten Fragmentierung der lebens- weltlichen Erfahrung, zur Problematisierung bis hin zur Auflösung des Ichs als stabiler Fluchtpunkt von Erfahrung.17
Die starke Veränderung der ursprünglich festgelegten Gattung erfolgte unter anderem durch den Einfluss der seit Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten Psychoanalyse.18 Die Autobiographie rückte mit zunehmender Betrachtungsweise der Sozialgeschichte das Individuum gemäß des Freudschen Ich-Modells in den Mittelpunkt und wurde zum Medium psychoanalytischer Selbstreflexion und zur Identitätsbildung des Subjekts. Autobiographisches Schreiben diente vielfach therapeutischen Zwecken, durch das die Autoren häufig ihre eigene Kindheit verarbeiteten19, um in dieser Phase Auslöser für spätere Konflikte zu suchen. Der psychologische Roman wurde im 20. Jahrhundert wieder zu einem beliebten Ausdrucksmittel. Die Folge war eine Grenzvermischung sowie der vollständige Zusammenfall der beiden Gattungen.20
Die neusubjektive Literatur der 70er Jahre war stark motiviert durch oft lebensbedroh- liche Krankheiten und machte diese zum zentralen Thema.21 Weitere Motive waren Existenzkrisen, Erfahrungen mit dem Tod und der eigene Körper als Basis für Gesund- heit und Wohlbefinden.22 Reflexionen der historischen und politischen Verstrickung des einzelnen spielten in der Autobiographie eine zunehmend größere Rolle, ausgelöst durch die Erfahrungen aus zwei Weltkriegen.23 Parallel kam es zu einer Abwendung von der politischen Thematik hin zum Schicksal des Einzelnen, das seinen Ausdruck in der so genannten Proletarierautobiographie fand.24 Ende des 20. Jahrhunderts wurden verstärkt Aufzeichnungen in Tagebuchform sowie Autobiographien von ehemaligen KZ-Häftlingen veröffentlicht.25
2.2 Charakterisierungen moderner Autobiographien
Obwohl sich in der modernen Autobiographie des 20. Jahrhunderts weiterhin traditio- nelle Merkmale der Gattung wiederfinden,26 deuten zahlreiche methodische Neuerun- gen die Skepsis gegenüber den klassischen Formen an. Häufig kam es auch zu einer Trivialisierung und Parodierung der traditionellen Goetheschen Naturform.27 Fast alle B]ereiche waren von dieser Entwicklung betroffen. Die chronologische Erzäh- lung der eigenen Lebensgeschichte wurde häufig durch die assoziative Aneinanderrei- hung unterschiedlicher Themen und Motive ersetzt.28 Zusätzlich wurde von verschie- denen Zeitebenen mit zahlreichen Vorweg- oder Rückgriffen berichtet, zunehmend auch aus der Perspektive des Er-Erzählers.29 Ob die autobiographische Erzählung aber nun in der ersten oder in der dritten Person Singular erzählt wurde, änderte nichts an dem grundsätzlich subjektiven Charakter der Selbstdarstellung.30 Wenn auch die Prosa- Erzählung aus der Ich-Perspektive weiterhin dominierte, fanden sich doch Autobiogra- phien in Form von Briefen, Dialogen, Versen, Biographien, Tagebüchern, Memoiren und des bereits erwähnten autobiographischen Romans.31
Das sukzessive Verschieben und Verschwinden der gattungsspezifischen Grenzen be- zeichnet Michaela Holdenried als „vielleicht das Signum dieses und des kommenden Jahrhunderts“32. Dabei fällt die Abgrenzung zum Memoirenbuch oder zum autobiogra- phischen Roman wesentlich schwerer als die Differenzierung zur Biographie und zum Tagebuch. Jede Autobiographie hat memoirische Züge und jedes Memoirenbuch ist in gewisser Hinsicht eine Autobiographie.33 Jedoch betonen Memoiren den gesellschaftli- chen Aspekt stärker als den individuellen.34 Sie beschreiben in der Regel das Leben ei- ner bekannten Persönlichkeit, zum Beispiel aus dem politischen Leben und stellen die- sen Menschen als ein „kleines Rädchen, eingefügt in ein großes Ganzes“35 dar.
[...]
1 http://www.amazon.de/Ich-Erfolg-kommt-von-innen/dp/3936994994
2 FRIEDRICH, Detlef (2002): Es ging alles seinen Gang. Auch in Helga K ö nigsdorfs Erinnerungen. Berliner Zeitung 233: S. 15.
3 Vgl.: WAGNER-EGELHAF, Martina (2000): Autobiographie. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 18-19.
4 Vgl.: GLAGAU, Hans: „Das romanhafte Element der modernen Selbstbiographie im Urteil des Historikers“. In: Niggl, Günter (Hrsg.) (1989): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 55f.
5 Vgl.: PASCAL, Roy (1965): Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz: Kohlhammer, S. 55.
6 Vgl.: HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 19-22.
7 Vgl.: HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 19.
8 Vgl.: MISCH, Georg: „Begriff und Ursprung der Autobiographie“. In: Niggl, Günter (Hrsg.) (1989): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 35f.
9 Vgl.: PASCAL, Roy (1965): Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart etc.: Kohlhammer, S. 65.
10 Vgl.: WAGNER-EGELHAF, Martina (2000): Autobiographie. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 169.
11 Vgl.: HOFFMANN, Volker: „Tendenzen in der deutschen autobiographischen Literatur 1890-1923“. In: Niggl, Günter (Hrsg.) (1989): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 499.
12 Vgl.: HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 209.
13 Ebd. S. 205f.
14 Ebd. S. 258.
15 NIGGL, Günter (Hrsg.) (1989): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 7.
16 Vgl.: WAGNER-EGELHAF, Martina (2000): Autobiographie. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 190.
17 Vgl.: BURDORF, Dieter u.a. (2007): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 58.
18 Vgl.: HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 208.
19 Vgl.: WAGNER-EGELHAF, Martina (2000): Autobiographie. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 32-34.
20 Ebd. S. 28.
21 Vgl.: MISCH, Manfred (Hrsg.) (2001): Autobiographien als Zeitzeugen. Tübingen: Narr, S. 11.
22 Vgl.: HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 251f.
23 Vgl.: BURDORF, Dieter u.a. (2007): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 58.
24 Vgl.: HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 223-226.
25 Ebd. S. 247.
26 Vgl.: HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 205f.
27 Ebd. S. 209.
28 Ebd. S. 227.
29 Vgl.: PASCAL, Roy (1965): Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart etc.: Kohlhammer, S. 72.
30 Vgl.: STAROBINSKI, Jean: „Der Stil der Autobiographie“. In: Niggl, Günter (Hrsg.) (1989): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 201-208.
31 Vgl.: BURDORF, Dieter u.a. (2007): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 58.
32 HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 268.
33 Vgl.: PASCAL, Roy (1965): Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart etc.: Kohlhammer, S. 16.
34 Vgl.: HOLDENRIED, Michaela (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam, S. 21.
35 PASCAL, Roy (1965): Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt. Stuttgart etc.: Kohlhammer, S. 16.