Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. Die Rolle der Landwirtschaft im Wirtschaftssystem
II. Literaturbericht
III. Agrartheorie – Determinanten der Agrarwirtschaft im Zeitalter der Ideologien
IV. Landwirtschaft in der UdSSR
IV.1. Ideologische Grundlagen
IV.2. Praktische Umsetzung
V. Landwirtschaft im Kapitalismus – Family Farms und Agrobusiness in den USA
V.1. Ideologische Grundlagen
V.2. Praktische Umsetzung
VI. Landwirtschaft im spanischen Anarchismus (1936 – 39)
VI.1. Ideologische Grundlagen
VI.2. Praktische Umsetzung
VII. Systemvergleich
VII.1. Performance
VII.2. Integration
IIX. Top-down versus Bottom-up
IX. Ausblick
X. Literaturverzeichnis
Die Landwirtschaft im Kontext des Wirtschaftssystems – Sozialismus, Kapitalismus, Anarchismus
I. Die Rolle der Landwirtschaft im Wirtschaftssystem
Wieso sollte man die Landwirtschaft untersuchen, wenn man Erkenntnisse über das Wirtschaftssystem eines Landes gewinnen will? Diese Frage scheint zu Beginn einer vergleichenden Abhandlung über die Wirtschaftssysteme des Sozialismus, Kapitalismus und Anarchismus sicherlich nahe liegend. Zwar ist es unbestreitbar, dass die Bedeutung des primären Wirtschaftssektors in allen diesen Modellen aufgrund der tendenziell sinkenden Beschäftigtenzahlen an Bedeutung verloren hat bzw. weiter verliert. Doch andererseits wird in Zeiten, in denen weiterhin für viele Menschen die Knappheit von Nahrungsmitteln zum Alltag gehört, die Landwirtschaft selbst zum Politikum.[1] Eine Vielzahl von inner- und zwischenstaatlichen Konflikten lässt sich direkt aus der Unterversorgung mit Nahrung ableiten.
Darüber hinaus waren in kaum einem Wirtschaftssektor die Veränderungen im letzten Jahrhundert derart umfassend. Die Massenhafte Freisetzung von einstmals in diesem Bereich Beschäftigten ist zum Symptom einer Zeit geworden, in der eine umfangreiche Technisierung und Automatisierung von Produktionsprozessen quer über alle ideologischen Konzepte hinweg, das Antlitz beinahe jeder Nation grundlegend verändert haben. Als Basis für diese Entwicklung kann der Fall des lange Zeit vorherrschenden Modells von Feudalherrschaft und Lehnswesen gelten, welches durch mehrere Faktoren obsolet wurde.[2] Zum einen benötigten die neu entstehenden Fabriken Arbeiter, was viele der einst größtenteils verarmten Bauern Europas in die Städte zog, wo sie sich bessere Zukunftschancen ausmalten.[3] Zum zweiten bedeuteten der technische Fortschritt und das Aufkommen einer Automatisierung auch in der Landwirtschaft eine enorme Verbesserung der Effizienz und damit eine Steigerung der Erträge.[4]
Aufgrund der enormen Bedeutung der Landwirtschaft für die Stabilität eines Staates, stand diese von Anfang an unter einem besonderen Fokus der jeweiligen Chefideologen der großen Wirtschaftskonzeptionen des beginnenden 20. Jahrhunderts. In den vorgenommenen Veränderungen treten die Grundprinzipien der jeweiligen Modelle anschließend meist besonders deutlich zum Vorschein. Kaum ein anderer Wirtschaftssektor zeigt folglich die Stärken und Schwächen der jeweiligen Ideologien so unmittelbar auf, wie dies im Agrarbereich der Fall ist.
Auch wenn zwei der drei untersuchten Konzeptionen entweder durch innere oder durch äußere Einflüsse bereits abgewickelt worden sind, kann bei der Betrachtung der aktuell noch in weiter Ferne stehenden Milleniums-Entwicklungsziele kaum von einem Ende der Geschichte im Sinne Francis Fukuyamas die Rede sein.[5],[6]
In der Folge sollen nun die drei prominentesten Modelle landwirtschaftlicher Gütererzeugung, nämlich die Organisationsformen der Landwirtschaft in den USA, der UdSSR, sowie dem des anarchistischen Spanien der Jahre 1936-39 näher betrachtet werden. Anschließend erfolgt anhand von geeigneten Faktoren eine Bewertung, welche sich auf mehrere, vom Autor als zentral erachteten Faktoren stützt. Dabei sollen nicht nur die aus den Milleniums-Zielen ableitbaren Faktoren „Effizienz“ und „Nachhaltigkeit“, sondern auch die Dimensionen gesellschaftliche Integration Beachtung finden.
Zunächst soll jedoch im Literaturbericht auf die in der Arbeit verwendete Literatur eingegangen werden.
II. Literaturbericht
Die Literaturauswahl erfolgte in mehreren Schritten, wobei eine Einarbeitung in das Thema anhand mehrerer Zeitungsartikel erfolgte, welche sich mit der Problematik der globalen Nahrungsmittelknappheit auseinandersetzten. Anschließend informierte sich der Autor über die unterschiedlichen Modelle, die im Verlauf dieses und des vorherigen Jahrhunderts die größte Relevanz hatten. Der Ablauf der Etablierung des sozialistischen Konzepts der Sowjetunion konnte u.a. mit Hilfe der von Stephan Merl herausgegebenen Abhandlung „Sowjetmacht und Bauern“, sowie durch den Agrarpolitischen Bericht der OECD zur „Agrarproduktion und zum Außenhandel der UdSSR“ nachvollzogen werden. Zur Vertiefung dieses Themas wurde auch das von Peter Rochlin und Ernst Hagemann herausgegebene Sonderheft „Die Kollektivierung der Landwirtschaft in der Sowjetunion und der Volksrepublik China“ herangezogen, in dem insbesondere auf die NÖP, sowie die Sowchosen und Kolchosen detailliert eingegangen wird. Vergleichende Werke, welche sowohl die UdSSR, als auch die USA berücksichtigen, fand der Autor unter anderem in der von Adolf Heuer verfassten Arbeit „Landwirtschaft und Wirtschaftsordnung“. Was einen Vergleich der Wirtschaftsleistungen anbelangt, wurde vom Autor dieser Arbeit auf den Vergleich „Die landwirtschaftliche Produktion der USA, der UdSSR und der Bundesrepublik“ zurückgegriffen. Das anarchistische Konzept und dessen Umsetzung wurde abschließend u.a. mit dem von Hans Jürgen Degen und Jochen Knoblauch verfassten Werk „Anarchismus“, sowie: „Der kurze Sommer der Anarchie“, von Hans Magnus Enzensberger und „Das Rot- Schwarze Spanien“ von Robert Schmid.
III. Agrartheorie – Determinanten der Agrarwirtschaft im Zeitalter der Ideologien
Um die prägenden Agrarsysteme des beginnenden 20. Jahrhunderts verstehen und die im Praxisteil der Arbeit ausgeführten Zusammenhänge nachvollziehen zu können, bedarf es zunächst eines Überblicks über die für diesen Zeitraum dominierenden, theoretischen Ansätze, nach denen sich die entsprechenden Realtypen ausgebildet haben.
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sich die Art und Weise, nach der die Produktion von Nahrungsmitteln –sowohl pflanzlicher, als auch tierischer Herkunft- in den einzelnen Wirtschaftszonen organisiert war, überwiegend an den für das jeweilige Wirtschaftssystem charakteristischen Prinzipien orientierte. Da alle drei Modelle in denselben zeitlichen Kontext eingebunden waren, zeigen sich besonders auf organisatorischer Ebene deutliche Ähnlichkeiten. Wie in der Einleitung bereits ausgeführt, ist es parallel zur zunehmenden Automatisierung im industriellen Produktionsprozess besonders der wachsende Einsatz von Maschinen, der das Betreiben von Viehzucht und Ackerbau global entscheidend verändert. Außer dieser gemeinsamen Basis jedoch zeichnen sich die im weiteren Verlauf der Arbeit untersuchten Konzeptionen aber vor allem durch eine bewusste Betonung der Unterschiede aus. Dies verwundert nicht, wenn man sich vergegenwärtigt, dass etwa die sozialistische und anarchistische (Land)wirtschaft als Gegenentwürfe zum Kapitalismus konzipiert waren.
Möglich werden soll eine Vergleichbarkeit dieser ideengeschichtlich so unterschiedlichen Anätze durch das Herausarbeiten mehrerer Schlüsselmerkmale. Als Orientierungshilfe sollen zu diesem Zweck die Fragen dienen, inwieweit eine möglichst optimale Bedürfnisbefriedigung der zu versorgenden Bevölkerung gegeben, wie es um die Integration der Landwirtschaft in den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bestellt und inwieweit das jeweilige Modell nachhaltig war bzw. ist.
Als Schlüsselmerkmale, anhand derer anschließend eine Unterscheidung der einzelnen Modelle vollzogen werden soll, werden vom Autor als zentral erachtet:
- Legitimierung: Erfolgte die Übersetzung der jeweiligen Theorie in einen Realtypus auf dem Weg der Freiwilligkeit, oder wurde sie von Zwang begleitet?
- Strukturierung: Handelte es sich um eine zentralistische oder dezentral aufgebaute Organisation? Von wem wurden bzw. werden Entscheidungen gefällt?
- Eigentums- und Verantwortungsverhältnis: Wird von den Entscheidungsträgern ein individualistischer oder ein kollektivistischer Ansatz präferiert?
- Umsetzung: Liegt eine gewachsene oder eine geschaffene Struktur vor?
Nach einer Einordnung der drei in dieser Arbeit untersuchten Realtypen – UdSSR, USA, anarchistisches Spanien - entsprechend dieser Schlüsselmerkmale soll ein Vergleich mit abschließender Wertung vorgenommen werden. Diese soll anhand folgender Faktoren durchgeführt werden:
- Performance: Wie effizient erfolgt die Produktion der Lebensmittel und wie stellt sich
daraus abgeleitet die Versorgungssituation der Bevölkerung dar?
- Integration: Wie hoch ist die Akzeptanz der Bevölkerung, insbesondere der direkt
betroffenen Bauern?
Sowohl die Auswahl der Schlüsselmerkmale, als auch die anschließende Beurteilung des jeweiligen Systems erfolgte dabei unter der Prämisse, einer möglichst positiven „Kosten-Nutzen“-Betrachtung, d.h. jeder für den Produktionsprozess relevante Faktor sollte möglichst optimiert im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Betroffenen sein. Dabei kann auch die Nachhaltigkeit nicht außer Acht gelassen werden.
Zunächst sollen nun die einzelnen Realtypen näher vorgestellt werden. Zum besseren Verständnis der Betrachtung ist der praktischen Umsetzung eine kurze Abhandlung über die theoretischen Grundlagen des jeweiligen Modells vorangestellt.
IV. Landwirtschaft in der UdSSR
IV.1. Ideologische Grundlagen
Wie der Name UdSSR, also „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ zeigt, berief sich dieses 1991 zerfallene Staatensystem klar auf den Sozialismus.[7] Dessen ideologische Wurzeln reichen zwar weit zurück, jedoch kann von einem „modernen“ Sozialismus erst im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verschiebungen gesprochen werden, welche sich im Zuge der Industrialisierung ergeben haben.[8] Eine Abgrenzung zum ideologisch eng verwandten Kommunismus ist schwierig und häufig wurden beide Begriffe synonym verwendet. Lenin definierte in seinen Arbeiten den real existierenden Sozialismus als dasjenige Gesellschaftsmodell, das dem Kommunismus, also der klassenlosen Gesellschaft, den Weg bereiten solle.[9] Wegen einer teilweisen Diskreditierung des Kommunismusbegriffs wurde dieser von den ideologischen Gründervätern eines sowjetischen Modells des Sozialismus weitgehend gemieden.[10] Die Bolseviki, die sich selbst als Verfechter des Sozialismus im Russland des beginnenden 20. Jahrhunderts sahen, leiteten ihre politischen Handlungsmaximen aus den sozioökonomischen Grundlagen der Arbeiten von Karl Marx und Friedrich Engels ab.[11] Diese stuften die Kleinbauern aufgrund ihrer „Kleinbesitzerinstinkte“ als konservativ und reaktionär ein und sahen somit die Schaffung einer Kompatibilität zwischen dieser Bevölkerungsgruppe und dem sozialistischen Aufbau als grundsätzlich unmöglich an.[12] Auf Seiten der sozialistischen Meinungsführung im Land formulierte der Allrussische Kongress auf seiner zweiten Sitzung, welche unter dem Vorsitz Vladimir Uljanovs (Lenin) stattfand, entsprechend strikte Handlungsanweisungen:
„Das Recht auf Privateigentum an Grund und Boden wird für immer aufgehoben. Der Boden darf weder verkauft noch gekauft, verpachtet, verpfändet oder auf irgendeine andere Weise veräußert werden. Der gesamte Boden […] wird entschädigungslos enteignet, zum Gemeineigentum des Volkes erklärt […]“.[13]
Eine Einschränkung wurde zunächst jedoch im Hinblick auf die „einfachen Bauern und Kosaken“ vorgenommen, deren Besitz „nicht der Konfiskation“ unterlag.[14]
Detailliertere Pläne zur Umgestaltung der Landwirtschaft wurden erst im Laufe der weiteren Ereignisse ausgearbeitet, d.h. die ideologischen Grundlagen waren nicht konsistent, sondern einem wiederholten, teilweise tief greifenden Wandel unterworfen. In dem 1923 verfassten Aufsatz „Über die Kooperation“ erläuterte Lenin seine Vorstellungen zur weiteren Vorgehensweise. Unter der Bedingung der Freiwilligkeit sollten sich die Bauern zu Gemeinschaften zusammenschließen, die anschließend in sozialistische Großbetriebe überführt würden.[15] In der Periode des so genannten Kriegskommunismus, welche sich von 1917 bis 1921 erstreckte, wurden von Seiten der Bolseviki Handlungsanweisungen erlassen, welche sich stark an einer Unterordnung des Landwirtschaftssektors unter die Interessen der proletarischen Revolution im Sinne Marx’ und Engels’ orientierten.[16] Im Gegensatz dazu kam es im Zeitraum der Neuen Ökonomischen Politk (1921-1928) zu Liberalisierungstendenzen mit privatwirtschaftlichen Elementen, die Lenin im Zuge dieses Theoriendiskurses schließlich zur Forderung einer grundlegenden Korrektur der marxistischen Agrartheorie veranlasste.[17] Als ideologische Gegenbewegung zu verstehen ist die anschließende Abkehr von der NÖP. Insbesondere Trotzkis Warnungen vor einer „Verspießerung“ der Gesellschaft nach dem Ende der Phase der NÖP der Revolution führten zu einer Rückbesinnung auf die marxschen Kerngedanken von einer grundsätzlichen Inkompatibilität zwischen (Klein)bauerntum und der Verwirklichung des Sozialismus. Die Machtübername Stalins beendete den Ideologiediskurs in der UdSSR weitgehend und führen dazu, dass spätere Reformen sich stets innerhalb des vorgegebenen Paradigmas bewegen.[18]
[...]
[1] vgl.: Höhere Preise für Grundnahrungsmittel erwartet, in: Lebensmittelzeitung, 21.08.2009
[2] vgl.: Rochlin/ Hagemann, S. 10
[3] vgl.: Fulcher, S. 39
[4] vgl.: Fulcher, S. 38
[5] vgl.: Hunger wird nicht halbiert, in: die tageszeitung (taz), 15.10.2010
[6] vgl.: Milleniums-Ziele, in: Westfälische Rundschau, 21.09.2010
[7] vgl.: http://www.bpb.de/popup/popup_lemmata.html?guid=VKS7SQ, 04.11.2010, 14:25 Uhr
[8] vgl.: Leidinger/ Moritz, S. 2
[9] vgl.: Zeit Geschichte Nr. 3 2009, S. 88
[10] vgl.: Meyer, S. 50 ff.
[11] vgl.: Merl, S. 15
[12] vgl.: Merl, S. 16
[13] vgl.: Merl, S. 82
[14] Merl, S. 84
[15] vgl.: Rochlin/ Hagemann, S. 12
[16] vgl.: Merl, S. 23 ff.
[17] vgl.: Merl, S. 38
[18] vgl.: Rochlin/ Hagemann, S. 40