Staubfinger in der Tintentrilogie

Die Entwicklung einer Figur unter besonderer Berücksichtung der Figurenkonzeption und der Figurencharakteristik


Examensarbeit, 2010

78 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Was ist eine Figur?
2.2 Aktantenmodell
2.3 Figurenmodelle
2.4 Was versteht man unter ‚Figurenkonzeption‘?
2.5 Was versteht man unter ‚Figurencharakteristik‘?
2.6 Leitfaden zur Figurenanalyse nach Gansel

3. Staubfinger - von der Schwierigkeit, einen Freund zu analysieren

4. Staubfinger in der real-fiktiven Welt
4.1 Einführung der Figur Staubfinger
4.2 Figurencharakteristik - Real-fiktive Welt
4.3 Figurenkonzeption - Real-fiktive Welt

5. Staubfinger in der Tintenwelt
5.1 Figurencharakteristik - Tintenwelt I

6. Staubfinger - ein Leben nach dem Tod
6.1 Figurencharakteristik - Tintenwelt II
6.2 Figurenkonzeption - Tintenwelt

7. Fazit und Stellungnahme

8. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Mit Beginn des neuen Jahrtausends haben sich in der

deutschsprachigen Literatur unübersehbar Veränderungen

abgezeichnet, die ihren Kern in einer neuen Lust am Erzählen fanden. Schon kurz vor Ende des 20. Jahrhunderts war von einem ‚literarischen Fräuleinwunder‘ die Rede, und schließlich wurden die Leser auf eine neue Erzählgeneration aufmerksam gemacht. […] [Es] zeigt sich, dass in dem Maße, wie auch KJL der so genannten wirklichen Wirklichkeit von Kindern bzw. Jugendlichen mit all ihren Bedrängnissen auf die Spur kommen will, die Darstellung sich veränderten Figuren- und Handlungskonstellationen sowie neuen Räumen öffnen muss. Weil dies so ist, erscheint es notwendig, genauer auf Kategorien bzw. Ebenen[, das „Wie“ und das „Was“,] von Erzähltexten einzugehen (vgl. Gansel/Korte 2009)“ (Gansel 2010, S. 7 ff.)

Wie in dem vorstehenden Zitat von Carsten Gansel deutlich wird, hat die KJL in den vergangenen Jahren einen deutlichen Wandel erfahren, der es im Hinblick auf einen modernen Literaturunterricht notwendig macht, sich der erzähltheoretischen Eigenheiten der Texte differenziert anzunehmen.

Hierzu zählen u. a. der Blick auf die Ebenen discours und histoire, wie Genette sie bezeichnet, oder einfacher der Blick auf das ‚Wie‘ und das ‚Was‘ des Erzählens. Das ‚Wie‘ befasst sich mit allen Aspekten der Erzählinstanz, das ‚Was‘ u. a. mit Handlung, Räumen, Zeiten und nicht zuletzt mit den Figuren.

Dieser letzte Teilaspekt - der Aufbau und die Entwicklung einer Figur - soll, sowohl theoretisch als auch am praktischen Beispiel, Mittelpunkt meiner nachstehenden Ausführungen sein. Dabei gehe ich zunächst auf den erzähltheoretischen Hintergrund der Figurenanalyse ein, bevor ich die Entwicklung einer Figur unter besonderer Berücksichtigung der Figurenkonzeption und der Figurencharakteristik am konkreten Beispiel der Figur „Staubfinger“ aus Cornelia Funkes Tintentrilogie erläutere.

2. Theoretischer Hintergrund

Wer wie ich Liebhaber von erzählenden Texten ist, neigt oftmals zu einem beinahe voyeuristischen Vergnügen bei dem Bemühen, so tief wie möglich in die „Psyche“ einer Romanfigur einzudringen. Man schließt zwischen den Seiten Freundschaften, entwickelt Antipathien, leidet mit oder baut Aggressionen auf. In jedem Fall ist es das Ziel des rein rezeptiv vorgehenden Lesers, die Persönlichkeit bestimmter Figuren so detailliert wie möglich zu erfassen.

Aus diesem Grund ist es sinnvoll, einige Überlegungen dazu anzustellen, woraus eine Figur überhaupt besteht. Denn dass sie nicht aus Fleisch und Blut ist, kann man bei der empathischen Rezeption mancher Texte gerne einmal vergessen.

Hinsichtlich des Versuchs der Schematisierung von Figuren lohnt sich der Blick auf Greimas‘ Aktantenmodell und auf verschiedene Figurenmodelle, ihren Sinn sowie ihre Möglichkeiten und Grenzen.

Im weiteren Verlauf sind zum einen der Figurenaufbau oder auch die Figurenkonzeption und zum anderen die Figurencharakteristik zu betrachten. Bei ersterem handelt es sich um „eine historische Kategorie“ (Gansel 2010, S. 78), denn beim Aufbau einer Figur liegt fast immer das zu gegebener Zeit aktuelle Menschenbild zugrunde. Bei letzterem geht es ganz formal darum, wie eine Figur durch wen - implizit oder explizit - beschrieben wird.

2.1 Was ist eine Figur?

Zunächst einmal, was eine Figur nicht ist. Eine Figur ist keine Person! Denn eine Person ist ein Mensch aus Fleisch und Blut. Das kann man von einer Romanfigur keinesfalls behaupten. Selbst wenn ihr eine historische Persönlichkeit zugrunde liegt, kann die Figur allenfalls ein Abbild, eine Vorstellung ebenjener Persönlichkeit sein, niemals diese selber.

Demnach handelt es sich bei einer Figur um eine so genannte „anthropomorphe Vorstellung“ (Lahn/Meister 2008, S. 232). Diese Vorstellung wird jedoch durch den gezielten Einsatz von Sprache erzeugt. Somit ist eine Figur weiterhin ein „durch Sprache erzeugte[s] Textkonstrukt[…]“ (ebd.).

Der Begriff „Figur“ erklärt sich wie folgt:

„ Figur (lat. Figura: Form, Gestalt) wird abgeleitet von fingere, was ‚vortäuschen‘ oder auch ‚erdichten‘ bedeutet. Im Englischen verwendet man für ‚Figur‘ den Begriff character, was dem deutschen Wort Charakter entspricht. Charakter kommt von gr. kharakter (Kennzeichen), was sich von kharássein (einritzen, prägen) ableitet. In der Zusammenschau sehen wir, dass sowohl ‚Fiktion‘ (fingieren) als auch ‚schreiben‘ (einritzen) in dem Begriff der Figur anklingen.“ (ebd.)

Die Tatsache, dass uns bei der Rezeption vieler narratologischer Texte die Figuren auf einer sehr hohen Wirklichkeitsebene begegnen, lässt die zweite Tatsache, dass sie eben doch „nur“ Sprachkonstrukte sind, oftmals in den Hintergrund treten. Deshalb muss man sich bewusst machen, dass Figuren innerhalb des Textes eine bestimmte Funktion haben. Sie dienen der Bedeutungsvermittlung und sind Handlungsträger.

Dabei gab es jedoch bis ins späte 20. Jahrhundert hinein in der Literaturwissenschaft eine Tendenz zu strukturalistischen bzw. formalistischen Studienansätzen, die Figuren auf die vorgenannten Funktionen reduzierten. Sie wurden dabei im Vergleich zum vorrangigen Forschungsgegenstand des ganzen narratologischen Textes als untergeordnet betrachtet, um zu verhindern, dass die Figur als Textkonstrukt von einer allzu realen anthropomorphen Vorstellung überlagert wird. Denn dies führe dazu, dass man der Literatur als solcher nicht gerecht werde, so die Vertreter dieser Ansätze. Man ging davon aus, dass sich Figuren im selben Maße als ein abstraktes Konstrukt betrachten lassen wie z. B. der Erzähler. Die Menschenähnlichkeit und damit der

Spiegel des jeweils aktuellen Menschenbilds wurde dabei als Mittel der Analyse völlig ausgeklammert (vgl. Lahn/Meister 2008, S. 233).

Den Erzähler als abstraktes Konstrukt zu betrachten und ihn damit deutlich vom Autor abzugrenzen, ist zwar ein großer Gewinn, der durch die neuere Narratologie erzielt wurde. Das heißt jedoch nicht, dass man Figuren auf ähnliche Weise behandeln darf. Denn Figuren unterscheiden sich in einigen Aspekten ganz erheblich von der Institution des Erzählers. Zwar sind beide Sprachkonstrukte innerhalb einer bestimmten Erzählung, sie wurden sozusagen für diese Erzählung erschaffen und stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Erzählung. Dennoch ist es problemlos möglich, sich die Figuren auch außerhalb der Erzählung vorzustellen, beim Erzähler ist dies nicht der Fall.

Eben weil die Figur eine anthropomorphe Vorstellung ist - uns also beinahe als reale Person erscheint - haben wir als Leser keine Schwierigkeiten, uns beispielsweise vorzustellen, unsere Tür ginge auf und die Figur X träte herein. Gerade bei der Lektüre einer uns fesselnden Erzählung kann es häufig geschehen, dass man nach Beendigung derselben das Gefühl hat, plötzlich den Kontakt zu einem guten Freund oder einer guten Freundin zu verlieren. Man möchte wissen, wie es dieser „Person“ - denn die Figur ist für uns längst zur Persönlichkeit geworden - weiterhin ergeht. Es ist uns in unserer Vorstellung eine Selbstverständlichkeit, dass die Geschichte nicht mit der letzten Buchseite endet, sondern irgendwo weiterläuft, wo wir sie nicht weiter beobachten können.

Zwischen Leser und Figur ist eine Art Beziehung entstanden. Dabei werden manche Figuren für eine breite Leserschaft sogar zu einer Art Symbol für ein bestimmtes Verhalten. Das spiegelt sich in den Sprachgewohnheiten unserer Gesellschaft durchaus wieder. So wird der Frauenheld als ‚Don Juan‘ bezeichnet, die ewige Schwarzseherin als ‚Kassandra‘ oder der notorische Lügner als ‚Baron Münchhausen‘.

Dass die Figur in der Lektüre eine Sonderstellung hat, sieht man auch am Wunsch des Lesers, ihr im Rahmen einer neuen Handlung wiederzubegegnen. Der Durchschnittsleser möchte nicht das Buch, das ihm so gut gefallen hat, ein zweites oder drittes Mal lesen. Er möchte eine Fortsetzung, will sozusagen den Figuren wiederbegegnen, ohne dass sich die Handlung wiederholt. Hierfür gibt es nicht zuletzt in der KJL eine endlose Reihe an erfolgreichen Beispielen: Nesthäkchen, Pucki, Dolly, Tina und Tini, Die fünf Freunde, Michel, Harry Potter oder auch die Figuren aus der Tintentrilogie von Funke.

Die Figuren haben somit für den Leser einen wirkungsästhetischen Aspekt. Das heißt, sie bleiben viel länger im Gedächtnis als z. B. die Handlung. Selbst wenn man sich nicht mehr an den genauen Handlungsablauf erinnern kann, an die wichtigsten Figuren kann man es durchaus. Sie fordern beim Lesen Sym- oder Antipathien, genau wie reale Personen.

Diese psychologischen Aspekte von Figuren wurden von der klassischen Narratologie weitgehend ignoriert. Wie oben bereits kurz angesprochen, wurden die Figuren hier als reine Funktionsträger betrachtet.

Erst neuere Studien nehmen sich der wirkungsästhetischen Aspekte von Figuren an.

„So unterscheidet James Phelan (2005) [Hinweis im Literaturverzeichnis] drei funktionale Dimensionen der Figur:

- Mimetische Dimension: die Figur erscheint als Abbildung einer Person,
- Thematische Dimension: jede Figur repräsentiert zugleich eine oder mehrere Gruppen oder Handlungsfunktionen, die im Dienste des thematischen Anliegens der Erzählung stehen,
- Synthetische Dimension: die Figur spielt eine besondere Rolle bei der Konstruktion der Erzählung als Artefakt.“ (ebd., S. 234)

In diesen drei Dimensionen fließen die psychologischen und die funktionalen Aspekte von Figuren zusammen. In der Mimetischen Dimension finden sich die oben bereits genauer beschriebenen Aspekte der Figur als quasi-reale Person mit all ihren Wirkfaktoren - als Sym- bzw. Antipathieträger, als konkrete Erinnerung, als etwas, nach dem man Sehnsucht haben kann.

Die Thematische Dimension ist rein funktional. Hier wird die Figur zum Repräsentanten z. B. eines bestimmten Typs - der Gute, der Böse, der Held, der Verlierer - oder aber auch von Handlungselementen - derjenige, der das Problem verursacht, derjenige, der es löst etc.

Die Synthetische Dimension konkretisiert die Figur im Vergleich zur Thematischen Dimension. Geht es bei ihr noch um ein übergeordnetes Thema, z. B. im Sinne von Kriminalgeschichte, Liebesgeschichte o. ä., so wird bei der Synthetischen Dimension das ganz konkrete Geschehen und die konkrete Rolle der Figur darin betrachtet. Z. B. der Mörder, der das Opfer nicht mit der Pistole, nicht mit dem Messer, nicht mit der Axt tötet, sondern mit einem grüngemusterten Seidentuch, weil seine Mutter, die ihm während seiner Kindheit nie Beachtung schenkte, ein solches Tuch trug.

Bei allem bisher Erwähnten geht es um den Aufbau der Figur durch den Autor. Er verleiht ihr ihre Eigenschaften, ihre Besonderheiten, ihr Aussehen, ihre Handlungsstrukturen etc. Man könnte also meinen, eine Figur ist das, als was der Autor sie geschaffen hat - und zwar für jeden Leser, der mit ihr in Kontakt kommt.

Fotis Jannidis geht jedoch noch einen Schritt weiter. Für ihn ist die Figur u. a. ein so genanntes „mentales Modell“ (Jannidis 2004, S. 11), das zum einen im Kopf des Autors entstanden ist, zum anderen aber im Kopf eines jeden Lesers neu entsteht. Jannidis sagt, dass die Vorstellung des einen Lesers von einer Figur niemals die gleiche sein kann, wie die eines anderen. Sie können einander ähneln, doch hat jeder Leser eine ganz eigene Idee von der Figur. Somit ist sie für Jannidis nicht nur ein Textkonstrukt oder eine anthropomorphe Vorstellung, sondern zugleich auch ein Leserkonstrukt, das in den Köpfen der Rezipienten wie eine Art Puzzle aus abgerufenen Fragmenten von Welt- und Textwissen entsteht, die ja individuell sehr unterschiedlich sein können.

Alle Figuren lassen sich herunterbrechen auf einen so genannten

„[…] Basistypus […] als eine basale Struktur der Informationen in der mentalen Repräsentation einer Figur, die Erklärungen und Beschreibungen von Verhalten aufgrund der folk psychology [= Alltagspsychologie] ermöglichen. Der Basistypus verfügt über ein ‚Inneres‘ und ein ‚Äußeres‘. Dem Innenleben können mentale Zustände, Wünsche, Überzeugungen, Intentionen und Emotionen zugeschrieben werden.“ (Jannidis 2004, S. 192 f.)

Der Basistypus einer Figur verändert sich mit dem Menschenbild einer jeweiligen Gesellschaft. Kausalzusammenhänge zwischen Denken und Handeln spiegeln die jeweiligen gesellschaftlichen Normen und Werte.

„Der Basistypus ist nicht identisch mit der Figur, sondern beschreibt eine Informationsstruktur der Figuren. […] [Es ist] am plausibelsten, wenn man die Figur als textgeneriertes, prototypisch organisiertes Konzept beschreibt. Die Informationsstruktur muß also nicht bei allen Vertretern der Kategorie ‚Figur‘ aufzufinden sein, aber man kann in bezug darauf wohl unterscheiden, wie prototypisch eine Entität für die Kategorie ‚Figur‘ ist. “ (Jannidis 2004, S. 193 f.)

Zusammenfassend kann man sagen, dass eine Figur ein Teil der erzählten Welt und damit ein Ergebnis von Sprach-, Darstellungs- und Rezeptionsprozessen ist. Sie kann menschlich, übermenschlich oder übernatürlich sein und ist eingebunden in ein Beziehungsgeflecht mit anderen Figuren.

Die Funktionsfähigkeit dieses Beziehungsgeflechts ist abhängig von so genannter „ontologischer Homogenität“ (Lahn/Meister 2004, S. 235). Dieser Begriff meint, dass die erzählte Welt ihre eigenen Regeln hat, die sich zwar grundlegend von denen in der realen Welt unterscheiden können, an die sich jedoch alle in einer Erzählung auftauchenden Figuren halten müssen.

Charakterisiert wird eine Figur durch bestimmte ihr durch sich selbst, durch ihre Handlungen, durch andere Figuren oder den Erzähler zugewiesene Eigenschaften. Sie bleibt entweder über den gesamten Erzählverlauf gleich oder aber entwickelt sich.

Figuren lassen sich einteilen in Haupt- und Nebenfiguren, aber auch in Pro- und Antagonisten. Eine Hauptfigur beeinflusst im Gegensatz zur Nebenfigur den Handlungsverlauf und ist betroffen von zentralen Geschehnissen. Die Begriffe Pro- bzw. Antagonist hingegen drücken eine gewisse Polarität aus. Beide können Hauptfiguren sein, wobei der Antagonist - der Gegenspieler - eher einen Konflikt auslöst, während der Protagonist - der Held - bemüht ist, den Konflikt zu lösen. (vgl. Ehlers 2010, S. 26)

2.2 Aktantenmodell

Das nachfolgend zitierte Aktantenmodell geht auf den französischen Strukturalisten Algirdas Julien Greimas zurück, der es 1966 mit dem Werk Sémantique structurale, erschienen im Pariser Larousse-Verlag, in seiner unten stehenden Form vorlegte.

„In Sémantique structural setzt sich Greimas mit Propps Theorie des Volksmärchens auseinander. Von seiner kritischen Propp-Lektüre ausgehend, konstruiert er ein allgemeines Modell der Erzählung, das in wesentlicher Hinsicht von Propps Ansatz abweicht. […] [Es handelt sich] um das Aktantenmodell, das Greimas im Anschluß an Tesnière, Souriau und Propp entwickelt[...]“ (Kim 2002, S. 25) „[…] [und] das […] semantische und syntaktische Relationen zwischen den Aktanten zutage fördert.“ (ebd., S. 50)

„[…] [Greimas] verallgemeinert […] [die] typologischen Befunde aufgrund eines theoretischen Modells, das in Analogie zur Struktur des Satzes auch für literarische Texte eine Tiefengrammatik annimmt, aus der die textuellen Oberflächenphänomene generiert werden. Greimas nimmt an, daß es 6 Aktanten gibt:

1. Subjekt. Entspricht dem ‚Held‘ in Propps Modell.
2. Objekt. Das begehrte Objekt bzw. die gesuchte Person.
3. Adressant. Der Auftraggeber.
4. Adressat. Derjenige, der den Auftrag erhält. Greimas konstatiert, daß nach Propps Analyse […] Held und Adressat stets zusammenfallen.
5. Adjuvant. Der Helfer.
6. Opponent. Der Gegenspieler.“ (Jannidis 2004, S. 100)

Mit diesem Modell erhalten die Figuren im narrativen Text Handlungsfunktionen. Sie spielen in der Erzählung eine ganz bestimmte - von ihrer eigentlichen ‚Persönlichkeit‘ losgelöste - Rolle, die ausschließlich der Realisierung der Erzählung dient. Dabei tritt die anthropomorphe Vorstellung von der Figur in den Hintergrund zugunsten ihrer Funktion im Rahmen der Gesamthandlung.

„Greimas Aktantenmodell, das den Anspruch erhebt, für alle literarischen Texte zu gelten, läßt sich auch als Figurentypologie verwenden, da es als ein Set von Kriterien aufgefasst werden kann, die die Rolle einer Figur in Bezug auf die Handlung beschreiben.“ (ebd., S. 101)

Der soeben zitierte Anspruch des Modells auf Allgemeingültigkeit lässt sich jedoch insofern nicht halten, als dass es zunehmend narrative Texte gibt, deren ‚Helden‘ kein eigenes Ziel und keine Beweggründe besitzen, „die man im Sinne des Greimas’schen Aktantenmodells handlungslogisch erfassen könnte.“ (Lahn/Meister 2008, S. 245)

Denn das Aktantenmodell benötigt Figuren, deren Motivation für ihre Handlungen eindeutig ist und die sich dadurch in das Schema der verschiedenen Aktantenrollen einfügen.

Da moderne Literatur sich jedoch oftmals durch Subjekte auszeichnet, die „kein Anliegen“ (ebd., S. 245) haben, lassen sich folglich auch keine weiteren Aktanten ausmachen. Denn ohne ein Anliegen machen weder Helfer noch Gegner einen Sinn.

Ließ sich Greimas‘ Modell auf die typische Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts noch sehr gut anwenden, so gerät es heute zunehmend an seine Grenzen. Seine Funktionalität ist also genre- und epochenabhängig. Für die Figurenanalyse moderner Literatur empfehlen sich daher Modelle, die die Handlungslogik nicht zwingend zur Basis nehmen.

(Vgl. ebd., S. 244 ff. und Jannidis 2004, S. 100 ff.)

2.3 Figurenmodelle

In diesem Kapitel geht es darum, sich Modelle anzusehen, die versuchen, die Darstellung von Figuren innerhalb der Erzählung auf schematische Weise zu betrachten, ohne dabei - wie Greimas - die Handlungslogik zugrunde zu legen. Lahn und Meister (2004) nehmen hierbei zwei Modelle unter die Lupe: zum einen das Modell von Edward Morgan Forster, der von „flachen“ bzw. „runden“ (vgl. Forster 1949, S. 77) Charakteren spricht und zum anderen ein erweitertes Modell von Per Krogh-Hansen aus dem Jahr 2000.

Forster unterscheidet Figuren danach, wie viele Eigenschaften ihnen zugeschrieben werden. Eine Figur mit nur einer durch sie transportierten Eigenschaft bezeichnet er als flach. Jede weitere Eigenschaft, die durch die Figur repräsentiert wird, erhöht die Krümmung. Das heißt, je mehr Eigenschaften oder Werte, desto runder wird die Figur.

„Flache Charaktere bieten den großen Vorteil, daß sie, wann immer sie auftreten, leicht kenntlich sind - kenntlich für das innere Auge des Lesers, nicht für das äußere Sehorgan, das lediglich das Wiedervorkommen eines Eigennamens registriert. […] Ein zweiter Vorzug flacher Charaktere ist, daß der Leser sich später leicht ihrer erinnern kann.“ (Forster 1949, S. 78 f.)

„Was nun die runden Gestalten im besonderen angeht, so sind sie schon implicite definiert; es braucht nichts weiter über sie gesagt zu werden. Es genügt völlig, wenn ich einige Beispiele von literarischen Gestalten gebe, die für mich rund sind, so daß die Definition sich nachträglich erweist:

Alle Hauptpersonen in Krieg und Frieden, alle Gestallten bei Dostojewski und einige bei Proust […]“ (ebd., S. 87 f.)

Das Modell von Krogh-Hansen hat mich zunächst insofern vor ein Problem gestellt, als dass ich die in Lahn/Meister 2004 nur mit Autorname und Erscheinungsjahr, nicht aber mit Titel, zitierte Veröffentlichung von 2000 nirgends finden und damit auch nicht einsehen konnte. Ich habe mich daher an den Autor selbst gewandt, der mir folgende Informationen gab:

Das in Lahn/Meister 2004 zitierte Modell entstammt dem Werk Karakterens rolle. Aspekter af en litterær karakterolog und wurde 2000 im Dänischen Medusa Verlage veröffentlicht. Da es hierzu weder eine deutsche noch eine englische Übersetzung gibt, hat Per Krogh-Hansen die freundliche Erlaubnis erteilt, sein Modell nach den Ausführungen in Lahn/Meister 2004 zu zitieren.

Krogh-Hansens Modell versucht, sowohl die anthropomorphe Vorstellung einer Figur als auch ihre Präsenz als Sprach- bzw. Textkonstrukt im Auge zu behalten.

„Die Figur wird hier als die zwischen den verschiedenen Textaspekten und -ebenen vermittelnde Verbindung angesehen.“ (Lahn/Meister 2004,

S. 237)

Dabei nutzt das Modell zum einen die 1921 von Percy Lubbock eingeführte Trennung zwischen „direkter und indirekter Präsentation, zwischen Erzählen und Nachahmen […]. Er trennt zwischen einer Darstellung, bei der die Geschichte sich scheinbar selbst erzählt, dem showing, und einer Darstellung, bei der die Geschichte von einem [teilweise wertenden] Autor/Dichter erzählt wird, dem telling." (Ehlers 2010, S. 71)

Korrekter Weise würden wir heute die Termini ‚Autor/Dichter‘ durch den Begriff ‚Erzähler‘ ersetzen.

Zum anderen arbeitet Hansen in seinem Modell mit drei verschiedenen Strukturebenen: der Oberflächenstruktur, der Struktur der Mitte und der Tiefenstruktur.

Da die verschiedenen Kategorien und Strukturebenen auf komplexe Weise miteinander verwoben sind, ergänze ich an dieser Stelle die rein textliche Erläuterung durch die nachstehend mit Abbildung 1 zitierte grafische Darstellung aus Lahn/Meister 2004.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Erweitertes Figurenmodell von Per Krogh Hansen, aus Lahn/Meister 2004, nach Krogh-Hansen, Per: Karakterens rolle. Aspekter af en litterær karakterolog. Dänemark: Medusa, 2000.

Auf der Ebene der Oberflächenstruktur liegt die - unter anderem sprachliche ( telling) - Darstellung der aufeinander folgenden Ereignisse, in die die Figur involviert ist.

Die Oberflächenstruktur bildet die Grundlage für die Struktur der Mitte. Hier sind die Charaktereigenschaften der Figuren zu erkennen, die in Analogie zu den Handlungen, der Sprache etc. stehen. Die gebündelten Charaktereigenschaften lassen bestimmte Typen ( anthropomorphe Vorstellung) in den Köpfen der Leser entstehen.

Die Ebene der Tiefenstruktur legt nun wiederum den Rahmen fest, innerhalb dessen eine Figur ausgestaltet werden kann. Dieser Rahmen umfasst bestimmte gesellschaftliche Normen, Werte und Weltanschauungen, die thematische Struktur der Erzählung, das Erzählschema und -muster sowie intertextuelle Bezüge. (vgl. Lahn/Meister 2004, S. 237).

Telling und showing findet auf allen Strukturebenen statt, wobei das showing die bei Weitem elegantere Darstellungsweise ist.

Sowohl das Modell von Forster als auch jenes von Krogh-Hansen dient dazu, das Figureninventar einer Erzählung zu schematisieren und damit bei der Figurenanalyse behilflich zu sein. Dabei arbeitet das Forster’sche Modell auf relativ simple und dadurch plakative Weise. Es ermöglicht eine einfache und schnelle erste Einordnung. Krogh-Hansens Modell ist hingegen komplexer, bietet allerdings auch mehr Möglichkeiten. Hier wird die Darstellung einer Figur auf sehr differenzierte Art und Weise betrachtet, was bei einer detaillierten Figurenanalyse hilfreich ist.

Beide Modelle haben ihre Berechtigung. Auch wenn das Modell von Krogh- Hansen auf den ersten Blick die differenzierteren Ergebnisse liefert, scheint mir der Einsatz des Forster’schen Modells bei der Einführung der Figurenanalyse im Unterricht zunächst angebrachter. Es leitet auf anschauliche Weise den Gedankengang von Schülerinnen und Schülern in die richtige Richtung und legt den Grundstein für eine differenziertere Vorgehensweise.

2.4 Was versteht man unter ‚Figurenkonzeption‘?

„Wir verstehen unter Figurenkonzeption das anthropologische Modell, das der dramatischen Figur zugrunde liegt, und die Konventionen seiner Fiktionalisierung […]“ (Pfister 1977, S. 240)

Gansel (2010) bezieht sich in seinen Ausführungen zur Figurenkonzeption auf das oben zitierte Werk von Manfred Pfister, der zur ersten Orientierung mit „einer Reihe oppositiver Modelle“ (Pfister 1977, S. 241) arbeitet.

Wie der Name sagt, geht es bei der Figurenkonzeption darum zu betrachten, wie eine Figur vom Autor konzipiert wurde. Gansel - basierend auf Pfister 1977 - beschreibt hierzu folgende polare Konzeptionsebenen:

- statisch vs. offen

Hier wird betrachtet, ob eine Figur sich im Verlauf des Textes entwickelt, oder ob sie über die gesamte Erzählung hin gleich bleibt. Offene Figuren entwickeln sich, statische Figuren nicht. Die Entwicklung von Figuren kann gleichmäßig über den gesamten Text, oder auch nur punktuell, aufgrund von klar definierbaren Auslösern oder zu bestimmten Zeiten (z. B. Pubertät) erfolgen.

- eindimensional vs. mehrdimensional

An dieser Stelle lohnt sich ein Blick zurück auf das Kapitel Figurenmodelle, denn die eindimensionale Figur ist gleichzusetzen mit dem, was Forster einen flachen Charakter nennt. Sie repräsentiert nur eine oder aber sehr wenige Eigenschaften, wodurch sie vom Leser leicht zu durchschauen ist. Insbesondere in Literatur für sehr kleine Kinder wird sich dies häufig zunutze gemacht. Der kindliche Leser - oder auch Zuhörer, man denke ans Vorlesen bei Kleinkindern - kann schnell erkennen, ob eine Figur z.

B. gut oder böse ist. Mehrdimensionale Figuren repräsentieren im Gegenzug dazu unterschiedlichste Charakteristika. Sie beziehen sich

u. a. auf „Herkunft, Werdegang, psychologische Disposition, Verhalten[…][und] weltanschauliche Positionen“ (Gansel 2010, S. 79). Die verschiedenen Merkmale offenbaren sich nicht mit einem Mal, sondern werden für den Leser nach und nach im Verlauf der Handlung sichtbar.

- Personifikation vs. Typ vs. Individuum

Bei der Personifikation ist die Figur ein Symbol, etwas Konkretes, das für etwas Abstraktes steht. Die dieser Figur zugesprochenen

Merkmale sind konventionell und eindeutig dem symbolisierten Abstraktum zuzuweisen. Z. B. kommt die Personifikation von ‚Unschuld‘ meist als kindliche Figur von überirdischer Schönheit in rein weißen Gewändern daher. Diese Zuschreibungen werden in unserer Gesellschaft mit Unschuld assoziiert, so dass sie - in einer Figur vereint - zur Personifikation derselben werden.

Bei einem Typ geht es darum, eine Figur mit zwar vielen, aber sehr charakteristischen Eigenschaften zu konzipieren.

„Dies kann sich synchron auf die jeweils aktuelle Sozialtypologie beziehen […]“ (Gansel 2010, S. 79).

So könnten wir für die heutige Zeit Typen finden, wie die alleinerziehende Mutter, den gestressten Manager oder den kleinkriminellen Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Die jeweils zugewiesenen Eigenschaften sind vielfältig, beziehen sich jedoch alle auf die Ausformung des entsprechenden Typs. Das Individuum hingegen ist eine Figur, wie sie der anthropomorphen Vorstellung nicht näher kommen kann. Sie hat alle soziologischen und psychologischen Merkmale einer echten Person. Alles an ihr ist individuell - das Äußere wie das Innere. Sie hat positive und negative Eigenschaften, spezielle Eigenheiten, die nur sie allein betreffen - z. B ein besonderer Sprachfehler, eine verkrümmte Zehe oder Angst vor Schmetterlingen.

- transpsychologisch vs. psychologisch

Bei dieser Unterscheidung geht es lediglich darum, die psychologische Nachvollziehbarkeit einer Figur zu betrachten. Transpsychologische Figuren gehen häufig mit einer Personifikation einher. Sie dienen als Darstellung einer bestimmten Idee oder eines Werts, wobei sie psychologisch nicht einleuchtend sein müssen. Im Gegensatz zur psychologische Figur, die dies durchaus sein muss.

(vgl. Gansel 2010, S. 79)

Zum Vergleich zieht Gansel das dreistufige Modell von Shlomith RimmonKenan heran, das diese 1983 in Narrative fiction: Contemporary poetics aufstellte und das von Fotis Jannidis (2004) übernommen wurde.

Unter dem ersten Punkt, der Komplexität, wird die Anzahl der einer Figur zugeschriebenen Merkmale betrachtet. Wenige oder typische Merkmale - siehe eindimensionale Figuren, Personifikationen, Typen - zeichnen einfache Figuren aus; viele bzw. individuelle Merkmale - siehe mehrdimensionale Figuren, Individuen - kennzeichnen komplexe Figuren.

Mit dem zweiten Punkt, der Entwicklung, wird das erste polare Paar des Pfister’schen Modells - statisch vs. dynamisch (bei Gansel: offen) - betrachtet. Hier geht es darum, eine Figur auf ihre Veränderung im Verlauf der Erzählung hin zu untersuchen. Eine statische Figur entwickelt sich nicht, eine dynamische oder offene Figur sehr wohl.

Der letzte Punkt des dreistufigen Modells, das Innenleben, findet sich ebenfalls in der Pfister’schen Terminologie wieder, wenn auch etwas versteckt. Hier geht es um die psychologische Komplexität einer Figur. Es sind Figuren möglich, über deren Innenleben dem Leser nichts gesagt wird, aber auch Figuren, die über ein hochkomplexes Innenleben verfügen. Erstere Kategorie kann man unter den statischen und eindimensionalen Figuren, den Personifikationen, teilweise unter den Typen finden, letztere unter den dynamischen, mehrdimensionalen und individuellen Figuren. Das Modell nach Pfister geht nicht so konkret auf das ‚Seelenleben‘ einer Figur ein wie das von Gansel nach Rimmon-Kenan zitierte Modell, sondern verarbeitet diesen Aspekt kumulativ.

(vgl. Jannidis 2004, S. 90 f. und Gansel 2010, S. 80)

[...]

Ende der Leseprobe aus 78 Seiten

Details

Titel
Staubfinger in der Tintentrilogie
Untertitel
Die Entwicklung einer Figur unter besonderer Berücksichtung der Figurenkonzeption und der Figurencharakteristik
Hochschule
Universität Siegen
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
78
Katalognummer
V168204
ISBN (eBook)
9783640851508
ISBN (Buch)
9783640851492
Dateigröße
1374 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
staubfinger, tintentrilogie, entwicklung, figur, berücksichtung, figurenkonzeption, figurencharakteristik
Arbeit zitieren
Nicole Maria Krämer (Autor:in), 2010, Staubfinger in der Tintentrilogie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168204

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