Motive für den Familienkonflikt in Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruders"

Nationalsozialistische Vergangenheit im Familiengedächtnis


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

22 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe

Inhalt

1. Einleitung

2. Begriffsdefinitionen: Generationenkonflikt und Familiengedächtnis

3. „Am Beispiel meines Bruders“: Literarischer und inhaltlicher Kontext

4. Der Konflikt in der Familie Timm
4.1 Auseinandersetzung mit der Vaterfigur
4.2 Das Bild von Karl-Heinz im Familiengedächtnis
4.2.1 Die Idealisierung durch die Eltern
4.2.2 Versuch einer objektiven Betrachtung durch Uwe Timm

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
6.2.1 Aufsätze
6.2.2 Monographien
6.2.3 Internet

1. Einleitung

Die folgende Ausarbeitung entsteht im Rahmen des Seminars „Neue Blicke auf den Natio- nalsozialismus“ und beschäftigt sich mit den familiären Spannungen in Uwe Timms auto- biografischem Werk „Am Beispiel meines Bruders“, das 2005 erschienen ist. Im Kontext dieser Arbeit sollen die Gründe für den Konflikt erforscht werden, der im Fall von Timms Werk unweigerlich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus in Verbin- dung steht.

Das Faszinierende an Uwe Timms Werk ist für mich die auf jeder Seite spürbare und verzweifelte Suche nach der eigenen Identität, die Timm nur durch Aufarbeitung der familiären Verhältnisse zu finden glaubt. Sein Schreibstil ermöglichte mir als Leserin einen tiefen Einblick in sein Innenleben. Es ist beeindruckend zu lesen, in welcher Art und Weise sich prägende Ereignisse wie der Zweite Weltkrieg in der menschlichen Psyche nieder- schlagen und welche Auswirkungen das auf das gesamte Leben eines Menschen haben kann. „Am Beispiel meines Bruders“ zeigt eindringlich, welche Konsequenzen sich daraus für das Zusammenleben innerhalb der Familie ergeben und die vermeintlich unüberwind- bare Kluft zwischen verschiedenen Generationen. Es war folglich dieser psychologische Aspekt des Buches, der ausschlaggebend für die Wahl des Arbeitsthemas war. Aus diesem Grund wird die generationenspezifische Verarbeitung und Tradierung des nationalsozialis- tischen Faschismus und des Holocaust einen weiteren Aspekt der Arbeit bilden.

Der Inhalt meiner Arbeit lässt sich wie folgt gliedern: Das 2. Kapitel wird die für die Ar- beit notwendigen Begriffserklärungen von Generationenkonflikt und Familiengedächtnis vornehmen. In Kapitel 3 wird schließlich der literarische und inhaltliche Gegenstand des betreffenden Werks benannt, um die Verstehensbasis für die darauf folgenden Kapitel zu gewährleisten. Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt auf dem 4. Kapitel, in dem ich die Analyse zweier Faktoren vornehme, die für den Konflikt innerhalb der Familie Timm ver- antwortlich sind. Es wird sowohl das schwierige Verhältnis zwischen Uwe Timm und sei- nem Vater Betrachtung finden (4.1) als auch das Bild des verstorbenen Bruders Karl-Heinz im Familiengedächtnis (4.2). In zwei Unterkapiteln werde ich den Bruder in der subjekti- ven Wahrnehmung der Eltern (4.2.1) und aus der bemüht objektiven Betrachtungsweise des Bruders Uwe Timm (4.2.2) analysieren.

Die Analyse der Familie erfolgt unter ständiger Bezugnahme auf Timms Werk und ausge- wählte Literatur zu diesem Forschungsaspekt. Beides befindet sich im Literaturverzeichnis.

2. Begriffsdefinitionen: Generationenkonflikt und Familiengedächtnis

Der durch die nationalsozialistische Vergangenheit bedingte Konflikt innerhalb deutscher Familien ist auf das Spannungsverhältnis der verschiedenen Generationen untereinander zurückzuführen. In der Regel lassen sich die Familienmitglieder wie folgt kategorisieren:1

1. Die Zeitzeugen, die den Nationalsozialismus miterlebt haben, sei es an der Front, beim Bund deutscher Mädel oder aber als „normale“ Bürger unter dem deutschen Regime. Aufgrund ihrer damaligen Involvierung in die Geschehnisse sind sie in der Regel nicht in der Lage, eine objektive Beurteilung des Nationalsozialismus im Allgemeinen und ihres Verhaltens im Speziellen vorzunehmen.
2. und 3. Deren Kinder und Enkelkinder, die zumeist über fundiertes Wissen bezüglich des Nationalsozialismus und Holocaust verfügen und außerdem jeweils ein schwer zu modifizierendes Bild von ihren Eltern bzw. Großeltern besitzen.

Diese drei Gruppen teilen eine generationenspezifische Auffassung von der Welt und den Weltgeschehnissen. Sie begreifen sich als „ereignisnahe und erfahrungsoffene Vergemeinschaftungen“2 etwa eines Alters und grenzen sich dadurch von vorherigen oder nachfolgenden Generationen ab: „Deshalb dreht sich die Kommunikation zwischen den Generationen immer um eine Grenze des Verstehens, die mit der Zeitlichkeit des Erlebens zu tun hat. Das Alter trennt auf eine ganz existentielle Weise, weil man seiner Zeit nicht entgehen kann.“3 Das Zusammentreffen der unterschiedlichen Generationen in der familiä- ren Einheit kann zweierlei Konfliktsituationen bewirken: Zum einen kann es zu Abwehrre- aktionen häufiger seitens der Kinder, vereinzelt auch seitens der Enkelkinder gegenüber ihren Eltern bzw. Großeltern kommen. Das Zusammentreffen kann sich aber auch in einer starken Loyalitätsbeziehung der Familienmitglieder zueinander äußern, wodurch eine ob- jektive, im extremen Fall negative Bewertung des Verhaltens einzelner Mitglieder mitunter nicht möglich sein kann, auch wenn das Ausmaß des deutschen Vernichtungskriegs en detail bekannt ist.

Das Familiengedächtnis lässt sich als Teilbereich des kommunikativen Gedächtnisses4 bezeichnen. Das Spezifische daran ist, dass jegliche Themen und Geschichten nicht als Wissen vermittelt werden, sondern als Gewissheit.5 Für das individuelle Geschichtsbe- wusstsein eines Menschen hat das Familiengedächtnis eine bedeutende Funktion, da es „die generationenspezifisch differierende Wahrnehmung des Verhältnisses von Persön- lichkeit, Lebensgeschichte und historischer Zeit“6 bewirkt. Gleichzeitig wird angestrebt, „diese drei Aspekte in Harmonie zu bringen, die generationenspezifischen Perspektiven [...] auf denselben Punkt hin zu bündeln“7. Das Kennzeichnende des Familiengedächtnis- ses ist folglich, dass sich die Kriterien über Wahrheit nach der „Wir-Gruppenloyalität und -identität“8 richten. In Harald Welzers Mehrgenerationenstudie9 zum Thema „Tradierung von Geschichtsbewusstsein“ heißt es dazu weiterführend, dass das Familiengedächtnis eine „synthetisierende Funktionseinheit“10 ist, die fiktiv einen gemeinsamen Erinnerungsbestand herstellt und dadurch „die Kohärenz und Identität der intimen Erinnerungsgemeinschaft ‚Familie’ sicherstellt“11.

3. „Am Beispiel meines Bruders“: Literarischer und inhaltlicher Kontext

„Ausgebombt und kurz darauf der Junge gefallen. Das war der Schicksalsschlag der Familie, und das war der Krieg. Alles vernichtend.“12

Aus seiner persönlichen Perspektive berichtet der Ich-Erzähler Uwe Timm vom Schicksal seiner Familie - Vater, Mutter, Schwester Hanne Lore und Bruder Karl-Heinz -, zeichnet ihre Lebensläufe nach und versucht vergangene Verhaltensweisen aus gegenwärtiger Sicht kritisch zu bewerten. Im Mittelpunkt steht dabei die Verarbeitung der nationalsozialisti- schen Vergangenheit in der Nachkriegszeit, wobei der Bruder die zentrale Rolle im Leben der Familie Timm einnimmt. 1943 ist dieser als Sturmmann der Eliteeinheit SS- Totenkopfdivision nach schwerer Verwundung in der Ukraine gestorben. Zu diesem Zeit- punkt war Uwe Timm gerade einmal drei Jahre alt. Der große Altersunterschied von 16 Jahren stellt sich als das größte Problem heraus, denn Timm konnte sich keine eigene Mei- nung über seinen Bruder bilden: „Er selbst, sein Leben, spricht nur aus den wenigen erhal- tenen Briefen und aus dem Tagebuch.“13 Die persönliche Erinnerung an den Bruder ist ein verschwommenes Bild, auf das Timm zurückgreifen kann:

An sein Gesicht kann ich mich nicht mehr erinnern, auch nicht an das, was er trug, wahrscheinlich Uniform, aber ganz deutlich diese Situation: Wie mich alle ansehen, wie ich das blonde Haar hinter dem Schrank entdecke, und dann dieses Gefühl, ich werde hochgehoben - ich schwebe.14

Den inneren Konflikt, der bedingt ist durch verdrängte und nicht zugelassene Erinnerungen an den Bruder, verarbeitet Uwe Timm in seinen Träumen. Der Bruder nimmt hier häufig eine negativ besetzte Rolle ein, beispielsweise indem dieser in die Wohnung eindringen will und Timm dies zu verhindern versucht.15 Diese ständige Präsens des Verstorbenen und der quälende Gedanke, dass dieser an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt ge- wesen sein könnte, veranlassten Timm schließlich zur Auseinandersetzung mit dessen Vergangenheit in Form des Schreibens. Das heimlich geführte Tagebuch16 des Bruders, die wenigen Feldpostbriefe und die Erzählungen der Eltern dienten Timm als Hilfe bei der Rekonstruktion. Die ungeklärte Vergangenheit des Bruders scheint auch der Schlüssel zu Timms Verlangen nach Selbstfindung zu sein; herauszufinden, wie er zu dem Mensch wurde, der er heute ist. Dies wird deutlich, wenn er von dem oben erwähnten Bild als ein- zige Erinnerung an den Bruder spricht: „[…] mit ihm [dem Bild von dem Bruder, L.M.] beginnt für mich das Wissen von mir selbst, das Gedächtnis […].“17

[...]


1 Die folgenden Ausführungen über die drei Generationen beziehen sich auf folgende Studie: WELZER, Harald u.a. (2008): „Opa war kein Nazi“. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer Verlag.

2 ASSMANN, Aleida & FREVERT, Ute (1999): Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt GmbH. S.38.

3 Martin Walser, zitiert nach: ASSMANN, Aleida & FREVERT, Ute (1999): Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. S.38.

4 Das kommunikative Gedächtnis befasst sich mit der Vergegenwärtigung von vergangenen Erlebnissen und Ereignissen durch Individuen und Gruppen der Gesellschaft. (Vgl.: WELZER, Harald u.a. (2008): „Opa war kein Nazi“. S.12).

5 Vgl.: WELZER, Harald u.a. (2008): „Opa war kein Nazi“. S.2.

6 WELZER, Harald u.a. (2008): „Opa war kein Nazi“. S.74.

7 Ebd.

8 Ebd. S.13.

9 Das Projekt befasste sich mit der Frage, in welcher Art und Weise in deutschen Familien über die Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust gesprochen wurde und welche Vorstellungen über diese Zeit zwi- schen den Generationen weitergegeben wurden. Dabei wurden Familienangehörige aus drei Generationen in Familien- und Einzelgesprächen befragt. Die Ergebnisse zeigten eindeutig, dass im Familiengedächtnis ande- re Informationen vermittelt werden, als beispielsweise in wissenschaftlichen Abhandlungen oder öffentlichen Einrichtungen wie beispielsweise Schule oder Universität. Im Mittelpunkt steht nicht die Frage, ob Fami- lienmitglieder das nationalsozialistische Regime befürworteten oder gar daran beteiligt waren, sondern das Leid der eigenen Familie.

10 WELZER, Harald u.a. (2008): „Opa war kein Nazi“. S.20.

11 Ebd.

12 TIMM, Uwe (2005): Am Beispiel meines Bruders. München: dtv. S.34.

13 Ebd. S.33.

14 Ebd. S.7.

15 Vgl.: TIMM, Uwe (2005): Am Beispiel meines Bruders. S.10.

16 Die Eintragungen beginnen am 14. Februar 1943 und enden am 6. August 1943.

17 TIMM, Uwe (2005): Am Beispiel meines Bruders. S.7.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Motive für den Familienkonflikt in Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruders"
Untertitel
Nationalsozialistische Vergangenheit im Familiengedächtnis
Hochschule
Technische Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig  (Institut für Germanistik/Abteilung Deutsche Literatur)
Veranstaltung
Neue Blicke auf den Nationalsozialismus
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
22
Katalognummer
V168395
ISBN (eBook)
9783640854165
ISBN (Buch)
9783640854400
Dateigröße
468 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Uwe Timm, Nationalsozialismus, Generationenkoflikt, Familiengedächtnis
Arbeit zitieren
Lisa Sofie Mros (Autor:in), 2010, Motive für den Familienkonflikt in Uwe Timms "Am Beispiel meines Bruders", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/168395

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