Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Beziehung der Geschwister Gregor und Grete
2.1. Die jungen Samsas - Individuen und Geschwister
2.2. Die reziproke Verwandlung
2.3. Absolute Entfremdung
3. Fazit
4. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Sie wird mich also doch verkommen lassen.“[1] schreibt Franz Kafka im Frühling 1917 an seine Schwester Otilie, genannt Ottla, nachdem diese die gemeinsame Heimatstadt Prag verlassen hatte. „Verkommen“ wird auch Gregor Samsa in Franz Kafkas 1915 erschienener Erzählung „Die Verwandlung“ mit der sich diese Arbeit befasst. Die in „Die Weißen Blätter“ von René Schickele erstmals veröffentlichte Verwandlungsgeschichte bietet eine Fülle von Interpretationsmöglichkeiten an. Dabei lassen sich verschiedenste Vorgehensweisen, wie etwa die theologische Interpretation von Kurt Weinberg[2] oder die psychoanalytische von Hellmuth Kaiser[3], unterscheiden. Bereits der Titel „Die Verwandlung“ bildet den Rahmen für ein breites Spektrum von Interpretationen, welche von der metabolischen Verwandlung über den Rollentausch zwischen Mutter und Tochter bis zur Wandelung der Vater-Sohn-Beziehung Eingang in der Sekundärliteratur gefunden haben. Um diesen „klassischen“ Themen zu entrinnen, soll es im Folgenden um die Beziehungen der Geschwister Grete und Gregor Samsa zueinander gehen. Im Speziellen wird untersucht, ob und wenn ja, inwieweit sich die Verwandlung des Sohnes reziprok auf die Tochter übertragen lässt. Diesen Aspekt der Verwandlung innerhalb der Familienmitglieder beziehen nur wenige der unzähligen Interpretationen in ihre Darstellung ein. Wesentlich häufiger werden Vergleiche zwischen Vater und Sohn bzw. zwischen Mutter und Schwester literarisch umgesetzt.
Notwendigerweise setzt dieser spezielle Themenbereich eine Analyse der Familienzustände in der Zeit vor der Verwandlung voraus, um die Entwicklung über den Tod der Hauptfigur hinaus aufzeigen zu können. Weiterhin soll die Fragestellung durch genaue Analyse ausgewählter Passagen des Werkes validiert oder ggf. auch falsifiziert werden. Bisherige Forschungsmeinungen werden an entsprechenden Stellen ebenfalls dargstellt.
Eine vollständige Untersuchung des kompletten Textes bezüglich des Themas verbietet sich schon deshalb, da sie den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen würde. Auf Aussagen Kafkas zu seinem Werk, Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte sowie auf die Darstellung biografischer Auffälligkeiten muss daher verzichtet werden.
2. Die Beziehung der Geschwister Gregor und Grete
2.1 Die jungen Samsas - Individuen und Geschwister
Kafkas Erzählung beginnt schlagartig und verzichtet auf jegliche Exposition, was für den Leser eine ungewohnte Situation darstellt.
Gregor Samsa, ein Handlungsreisender, erwacht „[...] eines Morgens aus unruhigen Träumen [...]“[4]in ein „[...] ungeheuere[s] Ungeziefer verwandelt.“[5]Eine genaue Klassifikation seiner jetzigen Gestalt findet nicht statt. Allerdings lässt sich durch die Selbstbeschreibung seines neuen Körpers auf eine käferähnliche Gestalt schließen. Gregor zeigt sich schließlich nach einiger Überlegung seiner Familie, welche sehr bestürzt reagiert und bereits zu Beginn den einstigen Bruder überwiegend als Tier wahrnimmt und einsperrt. Anfänglich wird Gregor wohlwollend von der Schwester versorgt. Aufgrund der fehlenden Verständigungsmöglichkeit werden seine Integrationsversuche stets missgedeutet und enden jeweils gewaltsam zu Gregors Ungunsten. Letztlich glaubt niemand mehr an eine menschliche Existenz Gregors und das Ungeziefer fällt der Familie zunehmend zur Last. Es wird vernachlässigt und vertrocknet schließlich, worauf die Familie Samsa wieder hoffnungsvoll in die Zukunft blickt.
Der Kontrast, welcher sich durch die direkte Charakterisierung der Geschwister innerhalb der Rückblicke ergibt, könnte größer nicht sein. Gregors menschliche Eigenschaften lassen sich lediglich aus der Vorgeschichte entnehmen, da er zu Erzählbeginn bereits einen Teil davon verloren zu haben scheint („Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte [...]“[6]). Gregor Samsa genoss eine gute Ausbildung, die ihn die Volks- und Bürgerschule absolvieren ließ und hat den Stand eines Handelsakademikers erreicht. Seit das Geschäft des Vaters schließen musste, geht er seiner Beschäftigung nach, um die Schulden des Vaters bei der Firma zu begleichen und gleichzeitig die Familie zu erhalten. Durchaus verantwortungsbewusst arbeitet er hart und beansprucht nur einen kleinen Teil seines Verdienstes für sich selbst. Wohl fühlt sich Gregor in seinem Beruf allerdings nicht („Der Teufel soll das alles holen!“[7]) und spielt mit dem Gedanke, sofort zu kündigen nachdem alle Verbindlichkeiten beglichen sind. Den schlechten Arbeitsbedingungen gibt er zunächst auch die Schuld an seiner Verwandlung.
Gregor erscheint dem Leser als Einzelgänger, der abends meist zu Hause bleibt, still Zeitung liest, Fahrpläne studiert oder sich mit Laubsägearbeiten beschäftigt.[8]An seine Militärzeit erinnert er sich gern zurück, was ein Bild an der Wand, auf dem er als Leutnant in Uniform zu sehen ist, bezeugt.
Gretes Charakter ist gänzlich komplementär angelegt. Sie geht keiner Arbeit nach, hilft nur ab und an im Haushalt mit. Ihr Tagesablauf besteht darin, lange zu schlafen, sich nett zu kleiden und Violine zu spielen, weswegen sich die Eltern „[...] bisher häufig über die Schwester geärgert hatten, weil sie ihnen als ein etwas nutzloses Mädchen erschienen war.“[9]Gregor dagegen gönnt es seiner erst 17-jährigen Schwester, ihr Leben auf diese Weise zu gestalten. Obwohl Gregor der Weg zur Musik bislang versagt blieb, plant er, seine Schwester „[...] ohne Rücksicht auf die großen Kosten [...]“[10]auf das Konservatorium zu schicken. Am Weihnachtsabend will er seinen Plan feierlich verkünden. Trotzdem er gegenüber seinen Eltern hauptsächlich die Rolle des treuen Sohnes verkörpert, richtet er sich damit doch gegen deren Meinung, da sie offenbar nicht geneigt sind das Violinenspiel Gretes zu fördern und „[...] nicht einmal diese unschuldigen Erwähnungen gern [...]“[11] hören. Die Beziehung der Geschwister zueinander erscheint zunächst eine von beiden Seiten harmonisch angelegte zu sein, was sich auch um die ähnlich klingenden Namen ergänzen lässt. Pfeiffer bezeichnet es sogar als „[...] besonders enge[s] Verhältnis [,..]“[12].
Bereits zu Beginn der Erzählung grenzt sich das Verhalten der Schwester deutlich vom elterlichen ab. Während Vater und Mutter, von der Verwandlung noch nichts ahnend, Gregor lediglich zum Aufstehen nötigen wollen und sich nach kurzer Verständigung wieder zurückziehen, verweilt Grete an der Tür und beschwört ihren Bruder zu öffnen. Zudem stellt sie konkrete Fragen an Gregor („Ist dir nicht wohl? Brauchst du etwas?“[13]), was auf ein innigeres Verhältnis schließen lässt als das es zwischen den Eltern und Gregor der Fall zu sein scheint. Zieht man wiederum die Vorgeschichte hinzu, so lässt sich die Sorge der Schwester auch als rein materielle Angst um die finanzielle Absicherung ausmachen, da die Familie auf Gregors Gehalt angewiesen ist.
Ein marginal auftretender Sachverhalt besteht außerdem darin, dass die Geschwisterbeziehung auch durch räumliche Nähe geprägt ist. Die Schlafstätten der beiden Kinder befinden sich während der gesamten Geschichte unmittelbar nebeneinander. Gretes eigentliches Zimmer wird durch eine Tür mit Gregors verbunden und als sich die Schwester in Folge der Aufnahme der Zimmerherren im Wohnzimmer niederlassen muss, ist eine unmittelbare Nähe ebenfalls gegeben[14].
Grete tritt zunächst als engste Vertraute Gregors auf, die ihm einst mündlich und postalisch vom Tagesablauf der Familie berichtete, wenn er sich auf Reisen befand. Weiterhin ist dem Leser der Vorname der Schwester bekannt, während die Eltern lediglich als Vater und Mutter bezeichnet werden. Auch hierin ist ein Indiz für eine eher unterkühlte Beziehung zwischen Eltern und Kindern zu sehen, wogegen die Geschwister eine engere Bindung aneinander haben. Gestützt wird jene Aussage durch die Tatsache, dass sich „[...] eine besondere Wärme [...]“[15]zwischen Eltern und Sohn „[...] nicht mehr ergeben“[16]wollte, obgleich Gregor „[...] den Aufwand der ganzen Familie zu tragen imstande war und auch trug.“[17]
Im Verlauf der Handlung kommt es zu schwerwiegenden Missverständnissen zwischen den Geschwistern. So glaubt Gregor die Schwester ziehe sich „[...] aus Zartgefühl, da sie wußte, daß Gregor vor ihr nicht essen würde [...] “[18]eiligst zurück, was auf den Leser mehr wie eine Flucht vor dem Anblick des fressenden Tieres wirkt. Trotz seiner naiven Ansichten ist sich Gregor bewusst, „[…] daß sie sich wohl sehr überwinden musste[…]“[19], um sich täglich in Gregors Zimmer aufzuhalten. Diese verschiedenen Ansichten beruhen – neben Gregors allgemeiner Leichtgläubigkeit – freilich auch darauf, dass Gregor den menschlichen Sinn für Rationalität allmählich verliert. Das oben erwähnte Zartgefühl, welches er auf Grete projiziert, besitzt Gregor in dem Fall selbst.[20]
[...]
[1]Franz Kafka: Briefe. April 1914-1917. Hrsg. von Hans-Gerd Koch. Frankfurt am Main: Fischer 2005. S. 299 Z. 24f.
[2]Vgl. Kurt Weinberg: Kafkas Dichtungen. Die Travestie des Mythos. Bern u.a.: Francke 1963.
[3]Vgl. Hellmuth Kaiser: Franz Kafkas Inferno. Eine psychologische Deutung seiner Strafphantasie. In: Franz Kafka. Hrsg. von Heinz Politzer. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1973 (= Wege der Forschung Bd. 37).
[4]Franz Kafka: Die Verwandlung. In: Kafka, Franz. Drucke zu Lebzeiten. Hrsg. von Wolf Kittler u.a. Frankfurt am Main: Fischer 1994. (Im Folgenden gekürzt zu ,Kafka: Die Verwandlung.’) S. 115 Z. 1f.
[5]ebenda, S. 115 Z. 3.
[6]ebenda, S. 119 Z. 14f.
[7]Kafka: Die Verwandlung. S. 116 Z. 26f.
[8]Vgl. ebenda, S. 126 Z. 23-27.
[9]ebenda, S. 158 Z. 14-16.
[10]ebenda, S. 152 Z. 24f.
[11]ebenda, S. 153 Z. 5f.
[12]Vgl. Joachim Pfeiffer: Franz Kafka, Die Verwandlung, Brief an den Vater : Interpretation. München: Oldenbourg 1998 (= Oldenbourg-Interpretation, Bd. 91). (Im Folgenden gekürzt zu ,Pfeiffer:
Franz Kafka ... .’) S. 68 Z. 1.
[13]Kafka: Die Verwandlung. S. 120 Z.8f.
[14]Vgl. Zimmeraufteilung im ersten und dritten Kapitel. Pfeiffer: Franz Kafka ... . S. 51f.
[15]Kafka: Die Verwandlung. S. 152 Z. 20.
[16]ebenda, S. 152 Z. 20f.
[17]ebenda, S. 152 Z. 16f.
[18]ebenda, S. 147 Z. 18-20.
[19]Kafka: Die Verwandlung. S. 157 Z. 20f.
[20]Vgl. Pfeiffer: Franz Kafka … . S. 58 Z. 33f.