Leseprobe
Es gibt für viele Menschen besondere Orte. Plätze, an denen sie ihren stressbehafteten Alltag vergessen können. Orte, an denen sie an die schönen Dinge des Lebens denken können. Diese sind meist in der Natur gelegen, ruhig, versteckt und ohne menschliche Einwirkung. In seinem Gedicht „Auf dem See“ aus dem Jahr 1775 beschreibt Johann Wolfgang Goethe die Naturverbundenheit des lyrischen Ichs, das aus dieser neue Lebenskraft schafft, während einer Bootsfahrt.
In dem Gedicht unternimmt das lyrische Ich eine Bootsfahrt. Es lässt sich darauf schließen, dass es noch früh am Morgen ist. Durch die Natur, die immer wieder gelobt wird, schöpft es neue Kraft. Zwischenzeitlich verfällt das lyrische Ich in Träume, aus denen es jedoch schnell wieder entkommen kann. In der dritten Strophe geht das lyrische Ich wieder zur Beschreibung der Natur über, diesmal allerdings konkreter als in der ersten Strophe.
Das Gedicht ist in einer geschlossenen Form mit drei Strophen geschrieben. Diese Strophen unterscheiden sich allerdings, so sind sich nur die erste und die dritte Strophe vom Aufbau her ähnlich. Beide bestehen aus jeweils acht Versen und sind im Kreuzreimschema verfasst. Die zweite Strophe bildet dagegen eine Ausnahme. Sie besteht nur aus vier Versen und besitz zudem einen Paarreim. Das Gedicht wirkt dem ersten Leseverständnis nach sehr nachdenklich, aber doch zuversichtlich.
Am Anfang des Gedichtes heißt es: „Und frische Nahrung, neues Blut saug' ich aus freier Welt“ (Z.1f.) Dies macht deutlich, dass das lyrische Ich neue Energie schöpft, dabei sind die „frische Nahrung“(Z.1) und das „neue Blut“ (Z.1) Metaphern für diese. Gleichzeitig fällt auf, dass es sich bei diesem Satz um eine Inverrsion handelt, die gewöhnliche Satzgliedstellung wurde umgekehrt, womöglich, um die neue Kraft, die das lyrische Ich erhält in den Vordergrund zu stellen. Die Bedeutung dieses Akts der Energieaufnahme wird durch das Verb „saugen“ (Z.2) verdeutlicht, denn eigentlich steht dieses oftmals für eine gierige Absorption von etwas. Dies ruft im Leser das Gefühl hervor, dass das lyrische Ich schon lange auf neue Energie gewartet hat und lange Zeit kraftlos war. Auch, dass die Natur als „freie Welt“ (Z.2) bezeichnet wird, kann man so deuten, dass die andere Welt, aus der das lyrische Ich geflohen ist, die vergängliche Welt der Menschen alles andere als frei ist. Der Leser bekommt sie zu spüren, als eine Welt, die den Menschen jegliche Kraft und Energie raubt und aus der der Mensch ab und an fliehen muss. Weiterhin lobt das lyrische Ich die Natur, denn es sagt: „Wie ist Natur so hold und gut“ (Z.3) Dieses Lob übertrifft es noch, als mit einer Metapher deutlich wird, dass die Natur ein lebensnotwendiges Element für das lyrische Ich ist, denn es ist die Natur, die es „am Busen hält“ (Z.4) Der Busen ist der Sitz des Herzens und somit auch des Lebens. Im nächsten Vers fällt zum Einen die Alliteration „Die Welle wieget...“ (Z.5) auf, zum Anderen, dass das lyrische Ich von „unser[m] Kahn“ (Z.5) spricht. Womöglich ist er nicht der Einzige, der aus dem Alltag fliehen muss und sich in der Natur neue Energie holen muss. Dies lässt sich vielleicht als Gesellschaftskritik verstehen, das alltägliche Leben einfacher und psychologisch erträglicher zu gestalten. Für Goethe ist das Wasser ein Symbol für das Leben, somit ist die Welle hier eine Metapher und lässt sich so deuten, dass das Leben im Allgemeinen und alles, was dazu gehört, das eigene Leben bestimmt. Weiterhin wird gesagt: „Im Rudertakt hinauf.“ (Z.6) Ein Takt steht immer für etwas gleichmäßiges und in gewisser Weise auch für etwas abgestimmtes. Ein Takt allein ist jedoch nur ein Fragment, etwas unvollkommenes, also muss es weitergehen, genau wie das Leben. Auffällig ist auch das Wort „hinauf“, das natürlich sinngemäß für „flussaufwärts“ stehen könnte, aber es lässt sich auch etwas Göttliches oder Himmlisches vermuten. So könnte man den Eindruck gewinnen, es ist der Weg des Lebens gemeint, der auch immer weiter aufwärts führt, bis man schlussendlich den Himmel erreicht. Die Berge, von denen das lyrische Ich im Folgenden spricht, könnten sinnbildlich für Probleme eines jeden Menschen stehen, die jeder von ihnen zu bewältigen hat. Die Anmerkung „Wolkig himmelan“ (Z.9) könnte hierbei dafür stehen, dass diese den Menschen über einen längeren Zeitraum seines Lebens, womöglich bis zum Tod, begleiten können. Erst, wenn der Himmel erreicht ist, sind die irdischen Probleme vergessen.
In der zweiten Strophe kommt es dann allerdings zu einem abruptem Ende dieser Beschreibung des lyrischen Ichs. Offensichtlich verfällt dieses in Tagträume, die es jedoch so schnell wie möglich wieder los werden möchte. Im ersten Vers der zweiten Strophe sagt es: „Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?“ (Z.9), und benutzt so ein Repetitio, die Wiederholung des Wortes „Aug'“, dies deutet wahrscheinlich auf große Verwunderung und Überraschung über das „Selbstständigmachen“ des eigenen Auges. Eine negative Stimmung wird schon am Verb „sinken“ deutlich, denn dieses Wort hat einen negativen Gestus, der Leser verbindet es oftmals automatisch mit untergehenden Schiffen, verstärkt wird diese Empfindung noch durch die Verbindung mit dem Wort „nieder“. Insgesamt scheinen die Träume des lyrischen Ichs es an eine unangenehme Zeit erinnern auch, wenn es sie als „goldne Träume“ (Z.10) bezeichnet. Dieses Gold symbolisiert weniger für die Zufriedenheit des lyrischen Ichs in dieser Zeit, es könnte eher dafür stehen, dass außerhalb der Natur, die Gier nach materiellen Werten sehr stark ausgeprägt ist und, dass die Menschen die wichtigen Werte vergessen, denn Gold ist ein Sinnbild für Reichtum und Luxus. Andererseits bietet Gold auch eine Verlockung, somit könnte es sinnbildlich für eine persönliche Sache des lyrischen Ichs stehen, die ihm sehr viel bedeutete. Damit würde die Schwierigkeit des Vergessens dieser Sache betont. Auffällig ist auch, dass das lyrische Ich auch im zweiten Vers der zweiten Strophe wieder eine Frage stellt. Dies könnte ein weiterer Ausdruck der Verwunderung oder des Erschreckens sein darüber, dass die Wirklichkeit der Natur in den Hintergrund gerät und die Träume einer Vergangenheit in den Vordergrund rücken, obwohl das lyrische Ich sich weiter auf die Schönheit der Natur konzentrieren möchte. Dies wird deutlich, da das lyrische Ich den Imperativ benutzt und den Traum wegschickt:“Weg, du Traum, so gold du bist“ (Z.11) Das Adjektiv „gold“ könnte wieder für den materiellen Reichtum stehen, den das lyrische Ich im Traum besitzt, in der Natur dagegen aber nicht viel wert ist. Durch den letzten Vers der zweiten Strophe eröffnet sich aber eine weitere Option der Interpretation, dort heißt es: „Hier auch Lieb und Leben ist.“ (Z.12) Mit dieser Inversion, in der es von der Liebe spricht, ergibt sich die Möglichkeit eines tragischen Endes einer Liebe des lyrischen Ichs, an die es sich nun erinnert. Dabei würde „gold“ nur für „schön“ stehen. Insgesamt wird aber deutlich, dass das lyrische Ich diese Tagträume ablehnt und sich eher auf die Gegenwart als auf die Vergangenheit fokussiert. Außerdem fällt auf, dass die zweite Strophe sich nicht nur vom Aufbau von den beiden anderen Strophen unterscheidet, sondern auch inhaltlich. Dies stellt den besonderen Charakter dieser Strophe noch einmal heraus. Hier variierte Goethe also bewusst den Aufbau der Strophen, um sie schon äußerlich voneinander abzugrenzen.
In der dritten Strophe nimmt das lyrische Ich die Naur wieder in vollen Zügen wahr und die Stimmung hat sich seinerseits wieder gehoben. Den ersten Vers der dritten Strophe könnte man als gesamte Metapher empfinden, denn es sagt: „Auf der Welle blinkeb tausend schwebende Sterne“ (Z.13f.) Damit könnte gemeint sein, dass uns auf dem „Fluss des Lebens“ viele schöne Momente begegnen, wobei „viele“ dies nicht ganz trifft, denn auch im Gedicht wurde die Hyperbel „tausend Sterne“ (Z.14) benutzt, die die unzählbar große Menge verdeutlichen soll. Auffällig in der gesamten Strophe ist die große Anzahl von Enjambements. Diese Strophe ist im Hakenstil geschrieben, dies vermittelt den Eindruck einer ununterbrochenen Handlung und eine Fortsetzung des Rhythmus. Eine weitere Personifizierung wird im dritten Vers dieser Strophe benutzt, dort heißt es: „Weiche Nebel trinken“ (Z.15) Dies bringt die Natur im Allgemeinen dem Menschen näher. Auch, dass der Nebel „rings die türmende Ferne“ (Z. 16) aufnehmen muss, mag einen Grund haben. Möglicherweise möchte der Autor damit verdeutlichen, dass die Natur eine unüberschaubare Vielfalt bietet, die niemand innerhalb kürzester Zeit vollends entdecken kann. Innerhalb der letzten Strophe kann man eine inhaltliche Teilung vornehmen, denn während die ersten vier Verse sich um die Beschreibung der Nacht drehten, geht es im zweiten Teil mehr um den folgenden Morgen. Auch der Morgenwind bekommt eine Fähigkeit zugewiesen, die er sonst nicht ausführen kann, denn er „umflügelt die beschattete Bucht“ (Z.17f.) Dass die Bucht nun vom Schatten, also von der Dunkelheit, befreit wird, kann man auch sinnblidlich auf das lyrische Ich übertragen. Es kommt aus der Dunkelheit, aus einer schwierigen Vergangenheit und die Natur, die wie das Licht wirkt, gibt ihm neue Kraft und Energie, dadurch kann es nun gespannt in die Zuknft blicken. Insgesamt fällt in der dritten Strophe auf, dass das lyrische Ich nicht mehr von sich redet, sondern nur noch auf die Natur eingeht, somit könnte man diese Strophe als Steigerung zur ersten ansehen. Damit kommt es also zur Verschmelzung des lyrischen Ichs mit der Natur, es sieht sich als ein Teil dieser an. Einen Höhepunkt findet diese Annahme in den letzten Versen des Gedichtes, dort heißt es: „ Und im See bespiegelt sich die reifende Frucht“ (Z.19f.) „Die reifende Frucht“ ist hierbei eine Metapher für das lyrische Ich selbst, es sieht sich als ein Werk der Natur an, dass noch nicht ausreichende Lebenserfahrung gesammelt hat, um sich als vollkommen zu bezeichnen, deswegen „reifend“. Um den Gedanken aus der ersten Strophe noch einmal aufzugreifen, als man vermuten konnte, dass das lyrische Ich sich nicht alleine auf dem Weg in die Natur gemachnt hat, könnte man genauso behaupten, dass jeder seiner Begleiter sich im See spiegelt und man alle als „reifende Früchte“ bezeichnen könnte. Dadurch wird noch einmal deutlich, dass das lyrische Ich sehr naturverbunden ist und sich als Teil dieser ansieht.
Meines Erachtens nach verfolgt Goethe mit diesem Werk mehrere Intentionen. So möchte er die Menschen wohl auf die Kraft der Natur hinweisen, die dem lyrischen Ich in diesem Fall neue Energie für das Leben bereitgestellt hat. Er möchte, dass die Natur nicht vernachlässigt wird und, dass die Menschen sich weniger als eigener Teil dieser Welt verstehen, sondern mehr als Teil der Natur. Womöglich möchte Goethe den Menschen allerdings auch Hoffnungen machen. Er stellt die Natur als letzte Ausfluchtsmöglichkeit dar und als Retter. Möglicherweise möchte er den Menschen deutlich machen, dass es immer einen Ort geben wird, an dem Menschen geholfen wird. Es gibt einen Ort, an dem alles so einfach erscheint, dass es den Menschen in seinen Bann zieht – die Natur. Allerdings könnte man das Gedicht auch als eine Art Erziehung des Lesers verstehen, da Goethe versucht deutlich zu machen, dass der Mensch nur ein Teil der Natur ist. Außerdem kann man das Gedicht so verstehen, als dass man die Vergangenheit hinter sich lassen soll und sie nicht immer wieder in die Gegenwart projezieren sollte, denn die Vergangenheit war einmal, ist nun aber nicht mehr ausschlaggebend. In seinem Werk mindert Goethe den Wert der Vergangenheit und legt den Fokus mehr auf die Gegenwart und Zukunft. Desweiteren gibt das Gedicht den Auftrag auf, über das Leben im Allgemeinen nachzudenken. Mit der Beschreibung des Menschen als „reifende Frucht“ (Z.20) stellt er das menschliche Leben als Fragment der Zukunft dar, das Leben wird nie etwas ganzes oder vollkommenes sein. Allerdings macht er mithilfe der Träume des lyrischen Ichs auch deutlich, dass das Leben ein Fragment der Vergangenheit ist, eine Sammlung von Wünschen und Träumen, die der Mensch nur schwer vergessen kann. Außerdem kann man das Werk als Gesellschaftskritik deuten, da er das lyrische Ich als kraftlos darstellt, da es dem Alltag nicht ausreichend gewachsen ist und somit die Flucht aus diesem antreten muss. Damit fordert er die Menschen auf, das eigene Leben ertträglicher zu machen.
Johann Wolfgang Goethe war sowohl ein Vertreter der Weimarer Klassik als auch der Epoche des Sturm und Drangs. Sein Werk „Auf dem See“ gehört eindeutigb zu letzterer. Die Zeit des Sturm und Drang dauerte ungefähr von 1760 bis 1785. Im Sturm und Drang stehen die Gefühle im Vordergrund, wie bei diesem Gedicht von Goethe. In den Werken dieser Epoche kam dem lyrischen Ich eine sehr große Bedeutung zu, wie im vorliegenden Gedicht, das sich fast aussschließlich um das lyrische Ich dreht. Dieses Ich strebt oftmals nach Freiheit und Selbstverwirklichung und ist meist Verfechter der bestehenden Gesellschaftsnormen. Auch in diesem Fall wasr das lyrische Ich auf der Suche nach Freiheit, diese hatte es schlussendlich in der Natur gefunden, nachdem es der Welt der Gesellschaft entkommen musste, da diese ihm jegliche Kraft und Energie geraubt hatte. Insgesamt richtete sich im Sturm und Drang oftmals der Protest gegen die herrschende Moralordnung, Autorität und Tradition. Ebenfalls eine große Rolle im Sturm nd Drang spielte die Natur, der alles Gute, Schöne und Wahre zugesprochen wurde. Auch Goethes „Auf dem See“ ist im ersten Augenblick ein reines Naturgedicht, doch lassen sich nach der Analyse noch mehr versteckte Themen erkennen. Auffällig in der Epoche des Sturm und Drang ist allerdings auch, dass der Dichter seine Gefühle entfesseln soll und so zu einer eigenen dichterischen Form gelangen soll. Dies lässt sich auch an diesem Gedicht festmachen, denn die Variation der Strophenlänge und des Reimschemas sind in dieser Form wohl einzigartig.
Das Gedicht stammt aus einem Tagebuch, dass Goethe während seiner Reise in die Schweiz im Mai 1775 schrieb. Es ist davon auszugehen, dass reale Spannungen in der Lebenslage Goethes in diesem Gedicht Eingang gefunden haben. Diese sind vor allem im Zusammenhang mit seiner Geliebten Lili Schönemann zu finden, denn dieses Verhältnis scheint von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dadurch, dass sie als Tochter eines Bankiers zur Oberschicht gehört, ist sie Teil der von Goethe, der selbst aus dem Kleinbürgertum stammt, so abgelehnten geistigen Oberschicht. Da Goethe und die anderen Stürmer und Dränger aber gerade mit dieser einen Bruch vorhatten, war der Konflikt, der dieses Liebesverhältnis prägt, gezeichnet. Dadurch entsteht ein Gegensatz aus Liebe zur Person Lili, aber auch Abneigung ihrer Lebensform gegenüber. Nach dem endgültigen Ende der Liebschaft spricht Goethe selbst von „den zerstreutesten, verworrendsten, ganzesten, vollsten, kersten, kräftigsten und läppischten drey Vierteljahren, die ich in meinem Leben gehabt habe.“ Mit seiner ersten Reise in die Schweiz unternimmt Goethe einen Ausbruchsversuch aus der Gesellschaft um Lili, um in der Natur neue Kraft zu sammeln. Gleichzeitig sollte ihn diese Reise aber auch Aufschluss darüber geben, ob ihm wirklich so viel an Lili liegt, um diese Lasten der fremden Gesellschaft aufzunehmen. Somit läasst sich durch das Gedicht „Auf dem See“ ein Sinneswandel auf Seiten Goethes erkennen, der nun seine Selbstverwirklichung in derNatur, oder viel mehr in ihrer Schönheit sieht, anstatt seinen Platz neben Lili weiter zu beanspruchen.
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