Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Kritisches Denken und kritisches Verhalten in Horkheimers frühem Institutsprogramm
2.1. Traditionelle Theorie und Horkheimers Entwurf einer kritischen Theorie
2.2. Kritisches Denken und kritisches Verhalten
2.3 Der Intellektuelle und das Proletariat
2.4 Das soziale Defizit des frühen Institutsprogramms
3. Denken und Naturbeherrschung in der „Dialektik der Aufklärung“
3.1 Mythos und Aufklärung
3.2 Vernunft und Denken
3.3 Die soziale Praxis in der „Dialektik der Aufklärung“
4. Kritische Würdigung und Ausblick
Anhang
Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
Die Entwicklung des Zusammenhangs zwischen Denken und sozialer Praxis in der kritischen Theorie (kT) anhand des Aufsatzes „Traditionelle und kritische Theorie“ sowie der „Dialektik der Aufklärung“ ist Inhalt der vorzulegenden Hausarbeit. Mit der Arbeit sollen die Rolle und Bedeutung des „kritischen Denkens“ und die damit versuchte Erfassung sozialer Praxis im Institutsprogramm des frühen Horkheimer dargestellt werden. Zugleich soll anhand der „Dialektik der Aufklärung“, die gemeinsam mit Adorno unter dem Eindruck der Entwicklung des Faschismus geschrieben wurde, der eingesetzte Paradigmenwechsel im Verständnis des Problemzusammenhangs zwischen Denken und sozialer Praxis in der früher kT beschrieben werden.
Ausgangspunkt ist Horkheimers Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“, der das frühe Institutsprogramm des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (IfS) darstellt. In diesem Aufsatz grenzt Horkheimer die kT von der traditionellen Theorie (tT) ab und führt den politischen und theoretischen Anspruch einer kritischen Gesellschaftstheorie zusammen. Horkheimer bewegt sich in einem geschichtsphilosophischen Denkrahmen. Die Entwicklung der Menschheitsgeschichte wird alleinig auf den Entfaltungsprozess der Umarbeitung und Beherrschung der Natur zurückgeführt. Die kT weiß allerdings im Gegensatz zur tT um die Logik der gesellschaftlichen Entwicklung. Die kT ist damit eine „höherstufige Reflexion derselben handlungspraktischen Herkunft“ (Honneth: 1994: 19), sie kann aber nur ein technisches Wissen generieren, welches perspektivische Bedingungen der Anwendung der Produktivkräfte darstellen kann; eine Kritik an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Organisationsweise ist damit nicht möglich. Aus diesem Grunde führte Horkheimer das „kritische Verhalten“ als soziale Praxis ein - ein Verhalten, das die „Gesellschaft selbst zum Gegenstand hat “ (Horkheimer 2005: 223) und dessen Grundlage das „kritische Denken“ ist. Dieses „kritische Verhalten“ des Subjekts steht dabei in bewusster Opposition zur Gesellschaft mit ihrer gemeinschaftlichen Organisation der Produktivkräfte, aber auch der daraus resultierenden und darauf aufbauenden Kultur. Träger dieses Verhaltens ist dabei nicht die gesellschaftliche Klasse des Proletariats an sich, sondern der „oppositionelle Intellektuelle und Theoretiker“. Seine Aufgabe ist neben der Systematisierung der Bewusstseinsinhalte des Proletariats mit Hilfe des Begriffsapparats der tT weiterführend; ; in bestimmten historischen Lagen setzt sich der Theoretiker mit den „Apologeten des Bestehenden“, mit dem im Proletariat vorhandenen „[…] ablenkenden, konformistischen oder utopischen Tendenzen“ (ebd. 233) konflikthaft und aggressiv auseinander, um die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft ohne Unrecht zu beschleunigen.
Allerdings hat Horkheimer die spezifische Struktur des „kritischen Verhaltens“ und seine handlungspraktische Rolle in sozialen Auseinandersetzungen und Konflikten nicht weiter ausgeführt. Das „kritische Verhalten“ nimmt damit eine untergeordnete Rolle zur geschichtsphilosophischen Grundannahme Horkheimers ein.
In der gemeinsam mit Adorno 1947 veröffentlichten „Dialektik der Aufklärung“ (DA) wurde die kritischen Theorie als Kritik an der Moderne und vor dem Hintergrund der Schrecken des Faschismus und des Krieges weiterentwickelt. Dabei stehen das „Projekt der Aufklärung“, ihre bewirkte Zerstörung des Mythos und die „Pathologien der modernen Gesellschaften … [als Ergebnis] der Verfallsgeschichte der abendländischen Rationalität“ (Hetzel 2001: 150) im Mittelpunkt der Betrachtungen. Ausgehend von der Kant’schen Definition der Aufklärung , welche die „Befreiung des Menschen aus der Unmündigkeit“ (Kant 1977: 53) zum Ziel hat, wird in der sozialen Praxis abgesichertes Wissen über die Natur und den Menschen durch wissenschaftliche Methodiken, Empirie und Experimente, die, wie bereits im Aufsatz „Traditionelle und kritische Theorie“ angemerkt, die „Ordnung der Welt“ (vgl. Horkheimer 2005: 206) erschließen, generiert. Dabei entzaubert die Aufklärung die Welt durch Dekonstruktion religiöser Vorstellungen und Institutionen. Dieser Prozess setzte bereits mit den Mythen ein. Im Mythos, der berichtet und den Ursprung der Natur, des Menschen und der Gesellschaft nennt, aber auch manifestierte Herrschaft darstellt, vollzieht sich Aufklärung. Aufklärung ist dabei totalitär (vgl. Horkheimer/Adorno 2003: 12); sie ist die Alternative, „[…] deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft ist“ (Horkheimer/Adorno 2003: 38) und die selbst zum Mythos, zur „[…] radikal gewordene[n] mythischen Angst“ wird (Horkheimer/Adorno 2003: 22).
Auch die Funktion der Vernunft hat sich in diesem Zuge verändert. Stellte sie bei Kant die Idee einer Utopie dar, die das „transzendentale überindividuelle Ich“ und damit eine „wahre Allgemeinheit“ repräsentiert, so wird sie in der realen Praxis der Aufklärung die „Instanz des kalkulierenden Denkens“ (Horkheimer/Adorno 2003: 90). Sie schafft damit die Voraussetzung für den Prozess der Naturbeherrschung, dessen Übertragung auf die Organisation der menschlichen Gesellschaft und den Aufbau eines Herrschaftsapparates durch die „Präparierung des Gegenstandes aus bloßem Sinnmaterial zum Material der Unterjochung“ (Horkheimer/Adorno 2003: 90). Soziale Praxis wird hierbei durch Horkheimer/Adorno vor dem Hintergrund der damaligen geschichtlichen Erfahrungen negativ in Bezug auf die Vernunft, die eine instrumentelle Vernunft darstellt, interpretiert und daraus dementsprechend die Fähigkeit zur Entwicklung normativer Kriterien für die gesellschaftliche Entwicklung sowie positive Inhalte der Aufklärung abgesprochen. Sah Horkheimer in „Traditionelle und kritische Theorie“ noch das positive gesellschaftsverändernde Potenzial eines „kritischen Denkens“ und „kritischen Verhaltens“, so ist dies in der „Dialektik der Aufklärung“ einem völlig negativistischen Verständnis sozialer Praxis gewichen.
Diese Sichtweise hat in der Fortführung zahlreiche Kritiken erfahren und hat zu einer Weiterentwicklung der kT, u. a. durch Habermas geführt.
2. Kritisches Denken und kritisches Verhalten in Horkheimers frühem Institutsprogramm
2.1 Traditionelle Theorie und Horkheimers Entwurf einer kritischen Theorie
Im Aufsatz „Traditionelle und Kritische Theorie“, welcher 1937 im 6. Jahrgang der Zeitschrift für Sozialforschung erschienen ist, begründet Horkheimer den Anspruch einer kritischen Gesellschaftstheorie. Zugleich skizziert er das Selbstverständnis des Frankfurter Instituts für Sozialforschung der 1930er Jahre (vgl. Honneth 1994: 12), welches im selben Jahr durch Veröffentlichungen Marcuses in derselben Zeitschrift vervollständigt wird (Marcuse 1937/1980). Beide Arbeiten stützen sich auf die Vorarbeiten des Instituts, das mit Beginn des Faschismus nach mehreren Zwischenetappen in die USA emigrierte.
Horkheimer beschreibt im Aufsatz sowohl die theoretische Basis als auch den gesellschaftspolitischen Stellenwert der kritischen Theorie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist „Die Frage, was Theorie sei“ (Horkheimer 2005: 205). Diese Frage sieht Horkheimer als beantwortet an: „Theorie ist das aufgestapelte Wissen in einer Form, die es zur möglichst eingehenden Kennzeichnung von Tatsachen brauchbar macht“ (ebd.: 205) und beschreibt im Folgenden das neuzeitliche – cartesianische - Wissenschaftsmodell. Als dessen Ziel, auf dem die traditionelle Theorie (tT) aufbaut, „ […] erscheint überhaupt das universale System der Wissenschaften […welches] umfasst alle möglichen Gegenstände“ (ebd.: 205f). Die wissenschaftliche Theorie sammelt dazu deduktiv gewonne Aussagen, die in Form von Hypothesen auf die empirisch beschreibbare Wirklichkeit appliziert wird (vgl. Honneth 1994: 12, Horkheimer 2005: 207f). Die einzelnen wissenschaftlichen Schulen und ihre unterschiedlichen Theoriegebäude sind dabei bedeutungslos („Aber das bedeutet keinen Unterschied im Denken“ (Horkheimer 2005: 208)); Horkheimer konzentriert sich weniger auf ihre Unterschiede, als auf ihr gedachtes Verhältnis zwischen „[…] wissenschaftlicher Theorie und Realität“ (Honneth 1994: 13).
Horkheimer stellt dazu den Konstitutionszusammenhang der tT dar. Empirische Sachverhalte, die auf historischen Ereignissen oder natürlichen Vorgängen beruhen, sind Teil von Aussagen, die in einem Ordnungsgefüge von Hypothesen eingeordnet sind: „Sowohl die Handhabung der physischen Natur wie auch diejenige bestimmter und sozialer Mechanismen erfordert eine Formung des Wissensmaterials, wie sie in einem Ordnungsgefüge von Hypothesen gegeben ist.“ (Horkheimer 2005: 211). Die tT wird dabei durch Horkheimer als Bestandteil des gesellschaftlichen - kapitalistischen – Produktionsprozesses begriffen, welcher praktische Reproduktionsprozesse der menschlichen Gesellschaft mit ihrem sozialen Lebenszusammenhang kontrolliert, die Menschheit von der Natur befreit und sich von dieser emanzipiert, um sie schließlich zu beherrschen. Hier zeigt sich der geschichtsphilosophische Denkrahmen Horkheimers, der die Entwicklung der Menschheitsgeschichte allein auf den Entfaltungsprozess der Umarbeitung und Beherrschung der Natur zurückführt (vgl. Honneth 1994: 13f). Allerdings ist sich die tT und mit ihr der Wissenschaftler nicht dieses Konstitutionenzusammenhangs der „geschichtsbildenden Produktionsleistung“ (ebd.: 15) bewusst - sie wird verselbständigt. Dadurch verliert die Theorie als tT ihren historischen Bezug und wird zu einer „[…] verdinglichte[n], ideologische[n] Kategorie“ (Horkheimer 2005: 211). Der Wissenschaftler ist damit der (sozialen) Welt entfremdet, da die wahrnehmbare Welt für ihn durch „ in Wechselwirkung stehenden traditionellen Weltauffassungen interpretiert wird [… und ihm als] Inbegriff von Faktizitäten gilt, sie ist da und muß hingenommen werden“ (ebd.: 216).
Demgegenüber begründet Horkheimer Wesen und Inhalt einer kritischen Theorie (kT). Diese kann nur in „Zusammenhang mit realen gesellschaftlichen Prozessen“ (ebd.: 211) verstanden werden. Ziel einer kT ist dabei nicht die Anhäufung von Wissen zur unmittelbaren Naturbeherrschung des Menschen, sondern die Entwicklung hin zur Überwindung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen bis hin zu einem gesellschaftlichen Zustand ohne Ausbeutung und Unterdrückung, in dem der Mensch als Subjekt emanzipiert und die Menschheit als Gemeinschaft selbstbewusst determiniert wird. Dabei relativiert die kT die „Trennung von Individuum und Gesellschaft“ (ebd.: 224), überwindet die gesellschaftlich vorgezeichneten Handlungsgrenzen des Subjekts und damit seine Entfremdung und wird zu einem „[…] als ganze[s …] entfaltetes Existenzialurteil“ (ebd.: 244). Das Paradigma der gesellschaftlichen Entwicklung, welchem Horkheimer hiermit folgt, erweist sich vor dem Hintergrund der historischen Situation des Frankfurter Instituts und seiner Vertreter in den 1930-Jahren als klassisch-marxistisch (vgl. Winter 2007: 32). Die Entwicklung der Gesellschaft wird anhand des Widerparts von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen in der historischen – hier kapitalistischen – Warenwirtschaft mit seinen inneren und äußeren Gegensätzen, den daraus resultierenden sozialen Kämpfen aufgrund des Konflikts zwischen dem sich emanzipierenden Individuum mit seiner naturumarbeitenden und –beherrschenden Tätigkeit und den hemmenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abgeleitet (vgl. Horkheimer 2005: 244, Honneth 1994: 21).
Der Beitrag der kT ist, ebenso wie sie selbst, in der Beförderung dieses Prozesses kein starres Theoriegebilde, sondern sie ist, da sie auf das durch die Entwicklung der Produktivkräfte geschichtlich wachsende Vernunftspotenzial, auf die Erkenntnis der grundlegenden ökonomischen Struktur und den daraus resultierenden Klassenverhältnissen reflektiert, zeitlich. Die kT weiß dabei um den gesellschaftlich-historischen Charakter der sozialen Praxis, welche zum einen die kT hervorbringt; sie wirkt zum anderen aber in einem Rückkopplungsprozess permanent handlungsorientierend auf die soziale Praxis ein. Dabei verändert sich ihre Struktur entsprechend der gesellschaftlichen Determinationen, „Allgemeine Kriterien für die kritische Theorie als Ganzes gibt es nicht“ (Horkheimer 2005: 258). Horkheimer formuliert daraus weiterdenkend, dass die kT im Gegensatz zum klassischen Marxismus nicht als Allgemeingut allein einer Klasse verortet wird, welche Träger der geschichtlichen Kämpfe und des gesellschaftlichen Fortschritts ist und die kT somit „[…] weder ‚verwurzelt’ wie die totalitäre Propaganda noch ‚freischwebend’ wie die liberalistische Intelligenz“ (ebd.: 240) dargestellt werden kann.
[...]