In Lessings 1772 uraufgeführtem bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti wird auf eindrucksvolle Weise das Scheitern einer auf pervertierten Tugendidealen gegründete Erziehung dargestellt. Für Emilia, einer Tochter aus bürgerlichem Hause, sind die extrem hohen Tugendansprüche ihres Vaters Odoardo nicht mit der Wirklichkeit vereinbar. Nur durch ihren Tod kann sie diesen gerecht werden.
Es ist zum einem das Drama um ein Mädchen, das von einem fatalen Erziehungskonzept zu Grunde gerichtet wird, s ie selbst ist dabei aber nur das unschuldige Opfer. Gleichzeitig ist das Drama auch die Geschichte ihres Vaters, der für einen speziellen Bürgertypus im 18. Jahrhundert steht, der sich durch ein Leben in der Abgeschiedenheit jeglicher Kritik oder Reflexion um seine Ideale und Handlungen entzieht. Es ist ein Bürgertypus, der die gängigen Ideale der Aufklärung so gar nicht zu leben oder verstanden zu haben scheint. Um dies zu klären, möchte ich im Folgenden erst einmal den geschichtlichen Kontext des Dramas untersuchen. Herauszufinden gilt es dabei, welche Erziehungsansichten vorherrschend waren und welche Aufgabe der Literatur, besonders dem Drama zu dieser Zeit zuzurechnen war.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zum zeitgenössischen Menschenbild
2.1. Lessing und die emotionale Seite der Aufklärung
2.2. Lessings Emilia und Rousseaus Emile
2.3. Wirkungsästhetische Aspekte der Emilia Galotti
3. Odoardos Scheitern in „Emilia Galotti“ als Symbol für einen unreflektierten Idealismus
3.1. Das gesellschaftliche Umfeld der Figuren im Drama
3.2. Disharmonie von Gefühl und Vernunft in der Figur des Odoardos
3.3. Die Problematik der Erziehung Emilias
3.4. Odoardos Unfähigkeit der Konfliktbewältigung
4. Resümee: Lessings Emilia als Kritik an einem blinden Tugendrigorismus
Bibliographie
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist die Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen! Ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“
Imanuel Kant
1. Einleitung:
In Lessings 1772 uraufgeführtem bürgerlichen Trauerspiel Emilia Galotti wird auf eindrucksvolle Weise das Scheitern einer auf pervertierten Tugendidealen gegründete Erziehung dargestellt. Für Emilia, einer Tochter aus bürgerlichem Hause, sind die extrem hohen Tugendansprüche ihres Vaters Odoardo nicht mit der Wirklichkeit vereinbar. Nur durch ihren Tod kann sie diesen gerecht werden.
Es ist zum einem das Drama um ein Mädchen, das von einem fatalen Erziehungskonzept zu Grunde gerichtet wird, sie selbst ist dabei aber nur das unschuldige Opfer. Gleichzeitig ist das Drama auch die Geschichte ihres Vaters, der für einen speziellen Bürgertypus im 18. Jahrhundert steht, der sich durch ein Leben in der Abgeschiedenheit jeglicher Kritik oder Reflexion um seine Ideale und Handlungen entzieht. Es ist ein Bürgertypus, der die gängigen Ideale der Aufklärung so gar nicht zu leben oder verstanden zu haben scheint. Um dies zu klären, möchte ich im Folgenden erst einmal den geschichtlichen Kontext des Dramas untersuchen. Herauszufinden gilt es dabei, welche Erziehungsansichten vorherrschend waren und welche Aufgabe der Literatur, besonders dem Drama zu dieser Zeit zuzurechnen war.
Die größte Aufmerksamkeit innerhalb dieser Hausarbeit gilt aber selbstverständlich dem Werk selbst. Der Schwerpunkt bei meiner Untersuchung wird bei einer Figurenanalyse Odoardos liegen. Für ein Verständnis der Rahmenbedingungen der Konfliktsituation die später zur Katastrophe im Drama führt, stelle ich zunächst den gesellschaftlichen Hintergrund vor, in welchem das Figurenensemble situiert ist. Als nächstes nähere ich mich Odoardo in seinen grundsätzlichen Charaktereigenschaften, um dann deren Auswirkung auf die Erziehung Emilias zu untersuchen. Da alle Entscheidungen und Handlungen, die schließlich zur Katastrophe, dem Freitod Emilias, führen, stellvertretend für alle Charaktereigenschaften der Figuren im Drama sind, unterziehe ich dieser einer genausten Betrachtung. In einem Resümee möchte ich dann die hier meiner Meinung nach von Lessing geübte Kritik an einem falsch verstandenen Idealismus der Ideen der Aufklärung zusammenfassen.
Die bei der Beschäftigung mit Odoardo verwendete psychologisierende Vorgehensweise bietet sich an, da ein immer stärker werdendes Interesse an der affektiven Disposition des Menschen auch Lessing seine Figuren in Emilia Galotti als individuell problematische Charaktere konstruieren lässt. Die komplexen Figuren, auf die wir in Lessings Familienschauspiel[1], treffen, verleiten dazu, sie wie reale Menschen zu behandeln, bei denen nach Denkmustern, Handlungsmotivation und Vergangenheit gefragt werden kann. Dabei geht es nicht darum ihren Status als literarisch imaginierte Figuren zu ignorieren oder zu leugnen. Vielmehr fordern uns die als widersprüchlich dargestellten Charaktere dazu auf die Hintergründe ihrer „Seelen“ zu durchleuchten, um sie in der Gesamtheit ihrer literarischen Funktion erfassen zu können.
2. Zum zeitgenössischen Menschenbild
2.1. Lessing und die emotionale Seite der Aufklärung
Die Aufklärung wird gemeinhin als Zeitalter der Vernunft bezeichnet. Aussagekräftig ist die berühmte Definition Kants, nach der Aufklärung der Versuch ist, den Menschen theoretisch über die Möglichkeiten seiner Freiheit in Kenntnis zu setzen, um ihn, praktisch, zu deren Vollendung zu führen.[2] Ich werde nun zunächst kurz die vorherrschende zeitgenössische Idee der Aufklärung skizzieren um dann auf eine Unterströmung zu sprechen zu kommen, die diese Theorie im Wesentlichen übernimmt, sich aber in bestimmten Punkten auch von ihr unterscheidet.
Der Aufklärungsbegriff, wie wir ihn heute verwenden, stimmt nicht mit dem Verständnis im 18. Jahrhundert überein. Als Epochenbezeichnung setzt er sich erst im 19 Jahrhundert durch. Vertreter der Aufklärung, wie der oben zitierte Kant, sehen diese vielmehr als einen nicht abgeschlossenen Prozess an, in dem sie selbst inbegriffen sind. Sie begreifen sich also nicht als aufgeklärtes Zeitalter, sondern sehen sich selbst in eine Entwicklung dorthin eingeschlossen. Diese Entwicklung findet hauptsächlich im „öffentlichen Gebrauch“[3]. der Vernunft statt, also jenseits der reinen Privatsphäre des Menschen und außerhalb seines ausschließlich individuellen Interessenbereichs[4]. Aufklärung in diesem Sinne findet demnach in einem öffentlichen Diskurs statt. Der Aufklärer selbst sieht sich dabei als Erzieher der Menschen an.
Dem gegenüber steht die „empfindsame Unterströmung“, wie Peter André Alt[5] sie bezeichnet. Sie kennzeichnet sich durch ein vermehrtes Interesse an der affektiven Disposition des Menschen und durch die Vorstellung einer Synthese von Empfindungen und Moralität. In diesem Zusammenhang ist auch Lessing zu sehen. Mit seinem Ausspruch „der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch“[6], werden starke Emotionen mit ausgeprägten Tugendqualitäten gleichgesetzt, wie er es auch in seinem rührseligen Trauerspiel Miss Sarah Sampson (1755) in literarischer Form zum Ausdruck bringt. Später, in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767), entwickelt er seine Theorien weiter und es geht ihm nun um eine Mittelung der Gefühle in Form eines ausgeglichenen Verhältnisses von Gefühl und Vernunft, wie es in Emilia Galotti realisiert wird. Trotzdem geht es ihm immer noch um ein Einbeziehen der affektiven Seite des Zuschauers im Gegensatz zu einer rein auf Vernunft angelegten Erziehung des Menschen.
Die größere Gewichtung von Gefühl und psychologisierenden Elementen, stellt sicherlich eine Distanzierung von diesem Menschenbild dar. Trotzdem schließt sie sich der wesentlichen Idee der Aufklärung an, bei der es um die freie Entfaltung des Einzelnen und sein persönliches Gluck im Diesseits geht. Verbunden mit dem Wunsch der emotionalen Seite beim Aufklärungsprozess des menschlichen Charakters einen größeren Stellenwert einzuräumen, ist oft ein Rückzug ins Private zu sehen. Es kommt vermehrt der Wunsch auf, das persönliche Glück und die freie Entfaltung der Moralität im geschützten Raum der Familie zu realisieren.
2.2. Lessings Emilia und Rousseaus Emile
Neben dem Anspruch auf Erziehung der Menschheit überhaupt beschäftigen sich die Theoretiker der Aufklärung im 18. Jahrhundert auch zum ersten Mal spezifisch mit der Erziehung des Kindes. Die besondere Stellung, die man damit Kindern zum ersten Mal zuspricht gründet sich darauf, dass das Kind als Symbol für eine bessere Welt angesehen wird. Im Unterschied zum vorherigen, eher mittelalterlich geprägten Weltbild, in dem man die Kinder als kleinere und unvollkommenere Ausgabe des Erwachsenen betrachtete, ist man nun bestrebt, dem Kind durch einen speziellen Schonraum einen gesonderten Status zuzusprechen. Man spricht bei dieser Entwicklung auch von der Erfindung der Kindheit, was eng mit dem Namen Rousseau verbunden ist[7].
In diesem Schonraum, sollen die freie Entfaltung des Kindes und dessen Heranwachsen zu einem mündigen Bürger gesichert werden. Genau dafür plädiert Rousseau, wenn er in seinem Erziehungsroman Émile (1762) Prinzipien für eine naturgemäße Erziehun g entwirft In diesem Sinne stimmt er mit anderen Aufklären, wie z.B. Kant überein Das Heranwachsen zum mündigen Bürger, davon ist man überzeugt, setzt eine Erziehung voraus, die die Eigengesetzlichkeit des Kindes beachtet, um nicht zur Dressur zu geraten[8]. Neben dem Garantieren einer freien Entwicklung der natürlichen Anlagen, will man jedoch sicherstellen, dass diese in den richtigen Bahnen verläuft. Daraufhin werden methodische Kriterien für das Pädagogische Handeln entwickelt, bei denen als das oberste Prinzip jedoch immer die Entwicklung der ganzen Person steht.
Erziehung, und das ist hier wichtig zu betonen, ist bei Rousseau sowie dem vorherrschenden Verständnis um die Jahrhundertwende, immer geschlechtsspezifisch. Die Mädchenerziehung soll dabei auf die Vorbereitung der Rolle als Hausfrau und Mutter ausgerichtet sein. In Bezug auf die Frau wird betont, dass sich bei ihr eine engere Bindung zum Wesen der Natur herleiten lässt als beim Mann. So werden, nicht nur in Rousseaus Emile, sondern auch bei Fichte und Humboldt immer wieder Natürlichkeit und Ehrlichkeit mit „Geduld und Zärtlichkeit, Eifer und Liebe[9]“ als Kennzeichen weiblichen Verhaltens gepriesen. Allen gemein ist dabei die hohe Wertschätzung weiblicher Tugend, verbunden mit Begriffen wie Sittlichkeit und Reinheit. Dies zeige sich bei der Frau durch Zurückhaltung und Scham.[10] Wo der Mann dem Naturtrieb unterliegen dürfe, solle bei der Frau Liebe dominieren. Der Geschlechtstrieb der Frau wird als das „widrigste und ekelhafteste, was es in der Natur giebt“ und als „Grundlage allen Lastern“[11] angesehen. Im zeitgenössischen Familiendrama werden mit Vorliebe Protagonistinnen vorgestellt, die als natürlich, kindlich und ehrlich charakterisiert sind, um als Leitbilder zur Nachahmung aufzurufen. Dadurch bieten sie auch Eltern eine pädagogische Orientierungshilfe. Mütter werden in diesem Kontext meist komplett ausgeklammert oder in ihrer Vorbildfunktion als unzulänglich dargestellt.
Diese geschlechtspezifische Polarisation in dem Erziehungsbild der Aufklärung ist wichtig, wenn ich in meiner Arbeit von Rousseaus Idee einer individuellen, auf die natürlichen Bedürfnisse des Kindes ausgerichteten, Erziehung spreche. Schon dort sehe ich einen unüberbrückbaren Widerspruch zwischen dem Anspruch die natürlichen Anlagen eines Kindes zu fördern und dem Negieren der weiblichen Sinnlichkeit bzw. Triebhaftigkeit.
Nicht zu ignorieren ist die Ähnlichkeit der Namen Emilia aus Lessings Emilia Galotti und Émile aus Rousseaus Erziehungsroman Émile ou de l'éducation. Dieses legt nahe, Lessing verweise durch die Wahl des Namens seiner weiblichen Protagonistin auf die Erziehungsprinzipien der freien Entfaltung des kindlichen Individuums nach Rousseau.
[...]
[1] Günther Sasse definiert das Familienschauspiel als: „die Gattung, auf die hin sich der breite Strom von bürgerlichen Trauerspielen, die in der Regel immer auch Familiendramen sind, bewegt.“ (Günter Saße. Die aufgeklärte Familie. Untersuchungen zur Genese, Funktion und Realitätsbezogenheit des familialen Wertesystems im Drama der Aufklärung. Tübingen 1988, S.174-175 im Folgenden: GS)
[2] Vgl. Peter-André Alt. Tragödie der Aufklärung. Eine Einführung. Tübingen, Basel: 1994, S.7 (im Folgenden: ATdA)
[3] Imanuel Kant. „Werkausgabe“. 12 Bde., hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M., S.55, zit. in: Peter-André Alt Aufklärung. 2. Auflage. Stuttgart, Weimar: 2001, S.2 (im Folgenden: PAA)
[4] Vgl. PAA
[5] Die folgenden Ausführungen beruhen auf PAA
[6] Lessing in einem Brief an Mendelsohn, November 1756. zit. in: PAA
[7] Vgl. Edgar Beckers: „Kinder Hochleistungssport.“ In: Die Grünen im Bundestag (Hg.): Kinderhochleistungssport & Sportpolitische Konsequenzen. Positionen und Dokumentation. Bonn 1990, S. 57 (im folgenden EB)
[8] Vgl. EB, S.57
[9] Jean-Jacques Rousseau: Emil oder über die Erziehung, Paderborn u.a. 1991, S.389 (Im folgenden JJR)
[10] Vgl. JJR 886
[11] Johann Gottlieb Fichte: „Das System der Sittenlehre.“ In: J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. v. Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, Stuttgart 1962 ff., Bd. I,5, S.289
- Arbeit zitieren
- Lena Puppel (Autor:in), 2003, Das Scheitern einer bürgerlichen Erziehung in Lessings Emilia Galotti, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/16929
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