Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Schwarze Pädagogik
3. ADHS
4. Ritalin
5. Interpretation
6. Fazit
7. Literaturverzeichnis
8. Anhang
1. Einleitung
In dieser Arbeit möchte ich untersuchen, inwiefern die Therapie des ADHS mit dem Medikament »Ritalin®« als moderne Schwarze Pädagogik verstanden werden kann.
Hierbei werde ich in einem ersten Schritt den Begriff der »Schwarzen Pädagogik« erläutern und versuchen seine Hauptmerkmale herausar- beiten. Anschließend will ich den Begriff »ADHS« kurz vorstellen, um dann näher darauf eingehen zu können, welche Wirkung »Ritalin®« auf Kinder hat und unter welchen Umständen es erhältlich ist. Im Kapitel »Interpretation« werde ich schließlich die Therapierung des ADHS mittels Ritalin® und die Schwarze Pädagogik vergleichen, um dann in meinem »Fazit« das Ergebnis dieses Vergleichs zu präsen- tieren und ggf. auf weitere offene Fragen hinzuweisen. Bei alldem werde ich mich auf den aktuellen Stand in Deutschland beschränken.
2. Schwarze Pädagogik
Oder: Durch Heteronomie zur Autonomie
Der Begriff » Schwarze Pädagogik « wurde von Katharina Rutschky eingeführt. Sie veröffentlichte 1977 eine gleichnamige, kommentierte Sammlung pädagogischer Quellentexte aus dem 18. und 19. Jahrhun- dert.
Ohne Frage soll der Begriff, als Titel der Sammlung, ihren Inhalt beschreiben. In der Beschreibung des Buches, das dem eigentlichen Buch vorrausgeschickt ist, steht über den Inhalt:
»In historisch-kritischer Absicht zusammengestellt, dokumentiert diese Text- sammlung zur Pädagogik vom 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Erzie- hungseuphorie, bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ein Kapitel der Dialektik der Aufklärung: In der pädagogischen Obsession, die aus diesen Texten spricht, der Zwanghaftigkeit, mit der alle spontanen kindlichen Regungen reglementiert, kontrolliert und bestraft werden, wiederholt sich die Grausam- keit der Zivilisationsvernunft gegenüber allem, was sich ihr nicht beugt.«1.
In der Rezeption des Buches, wurden unterschiedliche Aspekte der Quellentexte als Wesensmerkmal der Schwarzen Pädagogik herausge- arbeitet.
Alice Miller bezeichnet als »Schwarze Pädagogik« eine komplexe Haltung,- die Tendenz, das Kindliche, d.h. das schwache, hilflose, abhängige Wesen mittels verschiedener Sanktionen so schnell wie möglich in sich loszuwerden, um endlich das große, selbstständige, tüchtige Wesen zu werden, das Achtung verdient2.
An anderer Stelle schreibt sie: »Unter der ›Schwarzen Pädagogik‹ ver- stehe ich eine Erziehung, die darauf ausgerichtet ist, den Willen des Kindes zu brechen, es mit Hilfe der offenen oder verborgenen Macht- ausübung, Manipulation und Erpressung zum gehorsamen Untertan zu machen.«3.
Als zugelassene Sanktionen aus dieser Haltung heraus, nennt sie »Fal- len stellen, Lügen, Listanwendung, Verschleierung, Manipulation, Ängstigung, Liebesentzug, Isolierung, Mißtrauen, Demütigung, Ver- achtung, Spott, Beschämung, Gewaltanwendung bis zur Folter.«4. Eine spezielle Interpretation von Alice Miller, welche für sie sehr zentral ist, ist, dass das Kind bei den schweren Sanktionen der Schwarzen Pädagogik nicht merken darf, was die Erwachsenen mit ihm machen5.
Werner Sesink setzt sich unter Anderem in seiner Vorlesung »Das Pä- dagogische Jahrhundert« mit der Schwarzen Pädagogik auseinander. Nach ihm geht es in den Texten der Schwarzen Pädagogik in erster Linie »um eine Disziplinierung, die zwar anfangs vom Erzieher aus- zugehen hatte, später aber in Selbstdisziplin münden sollte. Die Bre- chung des Eigenwillens galt sozusagen als das Fundament: Nunmehr konnte der Erzieherwillen sich die nötige Geltung verschaffen. [… M.P.] eine möglichst vollständige (Rutschky: ›totale‹) Kontrolle des Kindes war anzustreben.«6.
Nach Sesink galt der Schwarzen Pädagogik die Unterdrückung des Kindes jedoch nicht als Selbstzweck. Er schreibt:
»Eine Seite im Kind sollte bekämpft werden zugunsten der anderen Seite. Das ›Fleisch‹ wurde bekämpft zugunsten des Geistes. Natur wurde bekämpft im Namen der Vernunft. […; M.P.] Die Vernunft aber sollte allmählich Fuß fassen im Kinde, so dass irgendwann sie als eigene die fremde Vernunft des Erziehers würde ablösen können.
Damit wurden sie [die Kinder; M.P.] von Objekten zu Partnern bei der Erzie- hung. Objekt der Erziehung blieb allerdings die Natur im Kinde. So dass das Erziehungsgeschäft letztlich gar nicht so sehr eine Polarisierung von Erwach- senen und Kindern intendierte als vielmehr eine Polarisierung von Vernunft und Natur, die durch das Kind selbst hindurch ging und die durch Erziehung herausgeholt und verstärkt wurde.«7.
Demnach war nach Sesink das Kind nicht der intendierte Rezipient der Grausamkeit in den Erziehungsmethoden der Schwarzen Pädagogik; es erlitt sozusagen »Kollateralschäden«, weil sich die Triebnatur nur über das Kind bekämpfen ließ.
Auch die Schwarze Pädagogik legitimierte ihre Methoden nach Sesink aus der Liebe zum Kind: Der Erzieher »musste affektlos tun, was nötig erschien. Und eben darin sollte sein Engagement zum Ausdruck kommen: In der Affektlosigkeit der pädagogische Eros, wie man später sagte, die ›Liebe‹, wie es in dem Text heißt.«8.
Ziel war » Abhärtung und Triebkontrolle bzw. -unterdrückung […; M.P.] Die Angst vor der Bestrafung durch den Erzieher sollte immer mehr der Gewissensangst weichen.«9. Sesink beschreibt als weiteres Charakteristikum eine außerordentliche » K ü nstlichkeit «. »Spontanität der Lebensäußerung und Unmittelbarkeit des Lebens, wie es halt wirklich war, unterlagen einer Geringschätzung«10.
Nicht zuletzt wurde versucht das Ziel mit technischen Mitteln zu er- reichen. Der Körper wurde als » kontrollier- und steuerbaren Maschi nerie « betrachtet, der Akt der Erziehung als » harte Arbeit « ohne Aus sicht auf sicheren Erfolg11.
Gemeinsam ist all diesen Interpretationen der Quellentexte und damit auch des Begriffs der »Schwarzen Pädagogik« die Unterdrückung ei- nes irgendwie gearteten Teils des Kindes (meist das Triebhafte, Spon- tane, Unangepasste), zugunsten eines anderen Teils (meist der Ver- nunft, dem »Zivilisierten«, Angepassten), welche(s) durch den Päda- gogen repräsentiert und damit auch festgelegt wird; außerdem charak- teristisch ist die Legitimität nahezu aller möglichen Mittel um diese Unterdrückung durchzuführen.
3. ADHS
Das Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), oft auch Hyperkinetische Störung (HKS) genannt, bezeichnet ein Krank- heitsbild, dass von den Symptomen Unaufmerksamkeit, motorische Unruhe und Impulsivität gekennzeichnet ist. Fehlt das Merkmal der Hyperaktivität, so spricht man von einem Aufmerksamkeitsdefizit- Syndrom (ADS).12
Wenn in der Medizin vom ADHS die Rede ist, dann ist damit gewöhnlich ein Störungsbild gemeint, das den diagnostischen Kriterien der »Hyperkinetischen Störung« gemäß den Diagnoserichtlinien der World Health Organization ICD-10 F90.0, F90.1 bzw. der »Aufmerksamkeitsdefizit- / Hyperaktivitätsstörung« der American Psychiatric Association DSM IV entspricht (Siehe Anhang)13.
Sprechen Laien von diesem Syndrom, wird es, so schreibt zumindest Hartmut Amft, oft »als ein Etikett für ein Spektrum von unerwünschten Verhaltensweisen‹ verwendet, »wobei ein Mangel an ›Aufmerksamkeit‹ das Leitsymptom ist«14.
ADHS ist eines der am häufigsten chronisch verlaufenden Krank- heitsbilder bei Kindern und Jugendlichen. Circa zwei bis sechs Pro zent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind hiervon be troffen15.
Soll diagnostiziert werden, ob ein Kind an dem ADHS leidet oder nicht, muss auf deskriptive Mittel zurück gegriffen werden, da es physiologisch bisher nicht möglich ist, ADHS nachzuweisen16. Ich zitiere nun einige Passagen von Gawlik, in denen er das Diagnoseverfahren von ADHS beschreibt:
»Als Hilfestellung dienen die Anamnese mitsamt ihrer organischen Befunde, standardisierte psychologische Leistungstests und Verhaltensbeobachtungen. Dabei stützt man sich bei der Diagnose auf die Diagnosekriterien der Klassi- fikationssysteme ICD-10 oder DSM-IV [Siehe Anhang; M.P.]. […; M.P.] Deskriptive Daten über die Familie, wie z.B. Anzahl und Alter der Fami- lienmitglieder, Verwandtschaftsverhältnisse (z.B. Stiefsohn, leiblicher Vater etc.), Beruf der Eltern, finanzielle Situation usw., helfen dem Diagnostiker sich ein erstes Bild über das Umfeld des Kindes zu verschaffen. Auch die bisherigen Therapieerfahrungen, Problemlöseansätze und Therapieerwartun- gen sollten bei den Eltern erfragt werden. Die gesammelten Daten und Ein- schätzungen werden zusammengetragen und durch deren Aufaddierung wird versucht eine Diagnose zu erstellen.«17.
»Unabhängig für welches der beiden Klassifikationssysteme man sich entscheidet, müssen für die Diagnose AD(H)S immer mehrere der aufgelisteten Merkmale auf das Kind zutreffen. Die Merkmale müssen bei beiden Systemen bis zum 6. Lebensjahr beobachtet werden, seit mehr als 6 Monaten bestehen und im Vergleich zu anderen Kindern der gleichen Altersstufe und Begabung wesentlich prägnanter ausgeprägt sein.«18.
»Bei psychologischen Testuntersuchungen sollen die Intelligenz, Leistungsfähigkeit, mögliche Lese-Rechtschreibschwächen oder Rechenschwächen, sowie die allgemeine Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit der betreffenden Personen untersucht werden.«19.
»Verhaltensbeobachtungen dienen der Unterstützung zur Einschätzung des Kindes bzw. Jugendlichen. Die einfachste und ökonomischste Form der Ver- haltensbeobachtung findet in der Therapiesitzung statt, auch wenn in Einzel- gesprächssituationen das beklagte Verhalten meist nicht auftritt.
[...]
1 Rutschky, 1988. Buchinnenseite, keine Seitenangabe.
2 Vgl. Miller, 1983. S. 77.
3 Miller, 2004. Ohne Seitenangabe zitiert nach: Müller, 2010. S. 2.
4 Miller, 1983. S. 77.
5 Vgl. Miller, 1983. 79.
6 Sesink, 2007. S. 123.
7 Sesink, 2007. S. 126.
8 Sesink, 2007. S. 126; Der Text, auf den sich in dem Zitat bezogen wird, ist einer der Texte aus Rutschkys Schwarzer Pädagogik. Rutschky, 1988. S. 25f..
9 Sesink, 2007. S. 123.
10 Sesink, 2007. S. 124.
11 Vgl. Sesink 2007. S. 124.
12 Vgl. Vorstand der Bundesärztekammer, 2005. S. 5,6.
13 Vgl. Gawlik, 2008. S. 18 und Vorstand der Bundesärztekammer, 2005. S. 5,6.
14 Amft, 2004. S. 62 zitiert nach: Gawlik, 2008. S. 18.
15 Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2009. S. 42.
16 Vgl. Gawlik, 2008. S. 76,77.
17 Gawlik, 2008. S. 76,77.
18 Gawlik, 2008. S. 83.
19 Gawlik, 2008. S. 78.