Foucaults Liberalismus = eine Kritik?!
Ein Essay
Am Anfang einer Lektüre steht meist Nichtwissen, am Ende sollte die Erleuchtung folgen. Oder zumindest ein kleines Mehr an Wissen stehen. Voraussetzung dafür, dass der Prozess des Erkenntniszuwachses nicht ausartet in selbstzerfleischende Hingabe an die Textarbeit, ist, dass man Vorahnung mitbringt. Eine Vorahnung - im besten Fall auch thematisches Vorwissen, worüber der Autor des Textes sprechen wird, auf welche Quellen er sich bezieht, in welchen Kontext der Text einzuordnen ist, aus welchem Jahr er stammt. Gleichzeitig ist eine realistische Einschätzung, in wie weit die eben genannten Kriterien auf einen zutreffen, von großem Vorteil für die Zeitplanung. Von vielen werden diese Fragen jedoch mit der knappen Antwort abgetan: Den Autor kenne ich, der ist bekannt, habe schon mal was von ihm gelesen, den Text werde ich schon verstehen. Ein gewisser Michel Foucault war da jedoch anderer Meinung. Seine Antwort auf die Frage, wie an einen Text heranzugehen sei, lautet: „Wen kümmert´s, wer spricht? Könnte man nicht [...] den Vorrang des Stoffes [...] überprüfen?“
Der universitäre Altag widerspricht Michel Foucault. Hier herrscht ein wahrer Autorenkult. Theorien werden nicht im Diskurs - in einem logischen Zusammenhang - betrachtet, sondern fast immer in Verbindung zu ihrem Autor hinsichtlich ihrer Schlüssigkeit und Verwertbarkeit, sowie ihrer Glaubwürdigkeit gelehrt und gelernt. Man muss SCHULZ VON THUN oder das Eisbergmodell von MOORE benutzen, um die Kommunikationsebenen zu erläutern. Man liest SMITH, VON HAYEK oder RÖPKE, vermengt ihre Aussagen jedoch selten in einer Diskussion über den Liberalismus. Es ist fast unmöglich geworden über Theorien, Ansätze und Erklärungsmodelle zu diskutieren, ohne „große“ Namen fast schon paradigmatisch nennen zu müssen.
Jener Michel Foucault hat noch viele Texte um diverse Themen geschrieben und vorgetragen. Wenden wir also seine Forderung auf einen seiner eigenen Texte an und untersuchen dessen Aussage lösgelöst von seinem Autor. Ich wähle unwillkürlich seine „Geschichte der Gouvernementalität“, Bd. 2, Vorlesung vom 24.01.1979. Die Schwerpunkte dieser Sitzung sind nach Michel Foucaults eigenen Angaben, die spezifischen Merkmale des Liberalismus und seine Entstehungsbedingungen. Bei der Lektüre der Vorlesung wird jedoch klar, dass der Inhalt den Titel Lügen straft. Die Geschichte der Gouvernementalität ist keine historische Abhandlung darüber - zumindest nicht in großen Teilen - wie sich das Verständnis von Regieren im Laufe der letzten 400 Jahre verändert hat. Auch wird kein schlüssiges Erklärungsmodel für das Entstehen des Liberalismus geliefert. Womit sich die Frage stellt: Wozu diesen Text lesen, wenn er doch nicht beinhaltet, was er verspricht? Weil man ja zunächst nicht weiß, dass er nicht beinhaltet, was er verspricht. Und im Laufe der Lektüre wird klar, dass bei dem hier vorliegenden Text der Gewinn auch weniger darin liegt, die Frage zu klären, was der Liberalismus ist, als vielmehr: Was könnte er denn noch sein außer einem die Freiheit betonenden Denkmodell gesellschaftlicher Ordnung? Ist er überhaupt das, als was er von vielen Vertretern beschrieben wird?
Für mich zeichnet dieser Text eine Kritik - eine Kritik an dem unerschütterlichen Ideal Liberalismus, in der Form, dass die Theorie, misst man sie an der Praxis, nicht stimmig ist. Nicht stimmig, weil unter dem Deckmantel liberaler Ideen ein Mehr an Kontrolle eingeführt und gerechtfertigt wird zur politischen Kontrolle der Bevölkerung? Oder nicht stimmig, weil die Theorie und die im Grunde guten liberalen Grundsätze in der politischen Praxis falsch umgesetzt wurden - wobei sich hier die Frage nach der Ursache stellt, womit wir wieder bei der ersten Überlegung wären.
Die Einleitung endet jetzt
Ich vermute, bei oberflächlicher Betrachtung wäre der uns vorliegende Text durchgefallen und hätte sowohl an der Universität als auch in wissenschaftlichen Diskussionen nur schwerlich Beachtung gefunden. Er beinhaltet starke Gedankensprünge und die verwendeten Begrifflichkeiten entsprechen oft nicht dem allgemeinen Verständnis, was den Text schwer verständlich macht. Lange Sätze zwingen einen öfter, von neuem zu beginnen. Man verliert den Argumentationsfaden, weil Michel Foucault sich selbst in mancher Beispielschilderung verliert. Die erwartete Beweisführung, d.h. die Quellenangaben, die seine Interpretationen untermauern würden, erspart er sich und arbeitet häufig mit der Kraft seiner eigenen Personalpronomen. Er hält für grundlegend, glaubt, macht aus. Manches scheint ihm, manches versucht er zu zeigen. Er bezieht uns mit ein wie wir so wollen, so dass wir alle finden, betrachten und bemerken was „die Geschichte [...] natürlich an allen Ecken und Enden“ beweist. Es wird nicht geschildert, was in der Politikwissenschaft Liberalismus bedeutet. Stattdessen scheint der Text eine Zustandsbeschreibung mit den daraus entstehenden Schlussfolgerungen zu beinhalten. Michel Foucault suggeriert durch eine Zusammenfassung dessen, was er zu zeigen versuchte, dass er tatsächlich gezeigt habe, was Liberalismus ist. Aber nein. Er hat nicht gezeigt, was Liberalismus ist, sondern was für IHN Liberalismus bedeutet. Er zeigt keine Scheu, Phänomene zu benennen, wie er sie versteht, anerkannte wissenschaftliche Definitionen einfach zu ignorieren und selbst zu denken. Versuchen wir also mit ihm zu denken.
- Arbeit zitieren
- Ulrike Klöss (Autor:in), 2007, Foucaults Liberalismus = eine Kritik?!, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169485