Leseprobe
Die Bedeutung einer biblischen Geschichte in der Welt von heute am Beispiel Esther
Die biblische Frauengestalt Esther war eine mutige und selbstlose Frau. Das Buch Esther erzählt von der Gefährdung und Errettung des jüdischen Volkes, wobei die junge Frau als Protagonistin eine wichtige Stellung einnimmt. Als biblische Gestalt nahm sie Jahrhunderte lang die Rolle eines Vorbildes ein. Die Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Schichten setzten sich mit der Frau Esther auseinander und nahmen sie als Heldin für sich in Anspruch. Wie ist es heutzutage? Setzen sich die Menschen heute noch mit dieser jungen Frau oder ihrer Geschichte auseinander? Und wenn ja, welche Bedeutung nimmt sie für sie ein?
Die Geschichte „Das Buch Esther“ beginnt mit einem großen Gastmahl, welches der König Ahasveros (Xerxes I.), von Persien und Medien, hält. Seine Frau Vasthi fordert er auf, sich den Gästen zu präsentieren, doch sie weigert sich. Daraufhin stößt der König seine Gemahlin vom Thron. Um eine Nachfolgerin für Vasthi zu finden, lässt der König „Jungfrauen von jugendlicher und schöner Gestalt“ herrufen und wählt Esther. Sie hat keine Eltern mehr und lebte mit ihrem Onkel Mardochai zusammen. Mit ihm beschließt sie ihre Abstammung zu verschweigen. So weiß der König nicht, dass sie eine Jüdin ist. Gleichzeitig lebt ein Mann namens Haman auf dem Hof. Er wurde vom König über alle seine Minister gesetzt. Er fordert auf, dass alle Untergebenen ihm gehorchen sollen. Nur Esthers Onkel weigert sich, vor Haman in die Knie zu gehen. Daraufhin wird Haman zornig und beschließt, am gesamten jüdischen Volk Rache zu nehmen. Mit der Vollmacht des Königs ruft er ein Pogrom gegen alle Juden aus. Mardochai erfährt von diesem Gesetz und ermutigt daraufhin Esther, den Juden zu helfen und sich unangemeldet beim König vorzuladen. Dies war eine lebensgefährliche Tat fürs jüdische Volk. Als Esther beim König vortreten darf, bittet sie um ein Festmahl, welchem er zustimmt. Beim Fest klärt Esther den König über ihre Identität auf und verrät die Absichten Hamans. Der König lässt Haman an einem Galgen, den dieser bereits für den Onkel vorhergesehen hatte, erhängen. Das Gesetz, die Juden zu töten, war jedoch schon erlassen und dieses konnte er nicht zurückziehen. Deshalb verabschiedet er ein neues Gesetz, in dem steht, dass jeder Jude sich mit Gewalt wehren darf. Mardochai wird zum Nachfolger Hamans ernannt und der König bestimmt, dass alle Juden das Purimfest am 14. und 15. Adar jedes Jahr feiern sollen.
Dieses Buch hat in vielerlei Hinsicht eine große Bedeutung. Zum einen ermutigt es die Juden, für ihren Glauben und ihr Volk zu kämpfen, da in diesem Buch deutlich wird, dass Gott ihr Volk nicht im Stich lässt. Zwar ist in dem Buch keine Rede von Gott, trotzdem ist die gläubige Jüdin Esther so mutig, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzt, um das Leben des jüdischen Volkes zu retten. So wird Gott in dieser Geschichte als derjenige interpretiert, der die Fäden in der Hand hat. Und demnach ist Esther nicht nur mutig, sonder gegenüber Gott auch treu. Das Schicksal der Juden an diesem Feiertag, wiederholte sich im Laufe der Geschichte mehrfach: im Exil, im Mittelalter, während der Inquisition in Spanien, bei den Pogromen in Russland und in allen Situationen, in denen Juden ausgeraubt, geplündert, verfolgt und unterdrückt wurden. Vor allem aber in der NS-Zeit unter Hitler wurden viele Juden verfolgt und ermordet. Insgesamt mussten sechs Millionen Juden ihr Leben lassen. In solchen Zeiten erinnern die Mörder an Haman, welcher auch schon die Juden vernichten wollte: „Alle Juden, jung und alt, kleine Kinder und Frauen, zu vernichten, zu erschlagen und in den Untergang zu treiben und ihren Besitz als Beute zu ergreifen“ (Esther III, 13).
Insgesamt könnte man viele Beispiele für Unterdrückungen der Juden aufzählen, jedoch wird deutlich, dass das Buch Esther niemals ohne Bedeutung sein wird. Es kann immer, auf irgendeine Art und Weise, einen Haman geben. Und somit wird die Geschichte nie ihre Bedeutung im Judentum verlieren.
Fürs Judentum ist aber noch ein anderer Aspekt wichtig: die Bedeutung des Purimfestes und dessen Ursprung in der Geschichte des Buches Esthers. Als Haman das Pogrom vom König besiegeln ließ, loste er den Tag und Monat, um zu bestimmen, wann die Juden vernichtet werden sollen. Er loste den 14. Adar. Der Name Purim bedeutet auf Hebräisch übersetzt „Los“ und stammt von der Losziehung, die Haman durchführte. An diesem Tage sollte das jüdische Volk vernichtet werden, doch die Königin Esther setzt ihr Leben aufs Spiel, indem sie ihre Identität als Jüdin Preis gibt und den Plan von Haman verrät. Dieser wird daraufhin vom König erhängt. Seit diesem Tag feiern die Juden das Purimfest jedes Jahr und denken an die Befreiung von der Königin Esther. Auch heute ist das Purimfest eins der wichtigsten Feste. Während des Festes wird die Ester-Rolle in den Synagogen verlesen. Der Talmud lehrt: „Trinkt Wein, bis ihr nicht mehr zwischen „Gesegnet sei Mardochai“ und „Verflucht sei Haman“ unterscheiden könnt.“ Das Fest nimmt vor allem in der Zeit unter Hitler eine besondere Rolle ein, so dass die Juden in den Konzentrationslagern versucht haben, diese Tradition beizubehalten. Das Fest steht für die Befreiung und für die Hoffung darauf.
Aber gibt das Buch Esther nur dem jüdischen Volk Hoffung? Oder können auch nichtjüdische Menschen aus der Geschichte für sich ein persönliches Fazit ziehen, woraus sie vermutlich Hoffnung schöpfen können?
Antwort gibt darauf die Protagonistin Esther. Sie bewies mit ihrem Mut, dem König gegenüber zutreten, viel Hingabe und Selbstlosigkeit. Ihr eigenes Leben ließ sie außen vor und begab sich in Lebensgefahr. Außerdem übernahm sie in diesem Moment die Verantwortung für das Leben des jüdischen Volkes. Viele Frauen können in ihr ein Vorbild sehen, da sie ihre Stärke und ihren Mut gelebt hat. Dies wird vor allem durch ihre persönliche Entwicklung und der Kontrahentin Vasthi deutlich. Vasthis Enthaltung beim Fest hat fatale Folgen für sie, aber auch für die Frauen im Volk. Der König kann dieses Verhalten nicht dulden und verstößt sie vom Thron. Die Königin Vasthi wollte ihre Würde verteidigen und sich nicht in der Öffentlichkeit als Objekt des Königs zeigen, dem sie gehorchen musste. Jedoch wird die anschließende Machtdemonstration des Königs automatisch das nachahmenswerte Vorzeigeverhalten im ganzen Reich. Alle Männer sahen den König als Vorbild und wollten ebenso die Machtstellung im eigenen Haus nicht riskieren. Die Frauen galten als Objekte der Männer. Das Verhältnis zwischen den Männern und den Frauen verschlechterte sich zunehmend. Dadurch nimmt die anschließende König Esther eine besonders bedeutende Rolle ein. Esther ist eine angepasste und gefügige Frau, die sich den Rollenerwartungen der Männer freiwillig beugt: „Esther aber sagte niemand etwas davon, welches Volk und welcher Herkunft sie sei; denn Mardochai hatte ihr anbefohlen, es nicht zu sagen.“ (Esther II, 10). Sie ist sogar bereit, mit dem König eine Nacht zu verbringen, ohne ihn zu lieben. Als Mardochai erfährt, dass Haman das jüdische Volk vernichten will, bittet er Esther um Hilfe und überredet sie. Esther durchläuft nun eine Entwicklung: am Anfang war sie ein gefügiges Objekt der Männer, als sie aber ungeladen zum König geht und ihre Identität preisgibt, wird sie frei, handlungsfähig und steht für das gesamte Volk der Juden. Durch ihre mutigen Taten kann sie das Volk befreien. Hierbei wird aber vor allem der Kontrast zwischen den beiden Frauen deutlich. Vasthi wurde zum König vorgeladen, lehnt dies aber ab. Esther hingegen erscheint beim König, ohne vorgeladen worden zu sein. Gegenüber steht sich der Wunsch nach einem Selbstbestimmtem Leben in der Gestalt der Vasthi und die selbstbewusste Übernahme von Verantwortung gegenüber anderen Menschen ohne Rücksicht auf das eigene Leben in Gestalt von Esther. Heutzutage können sich vermutlich die meisten jungen Frauen eher mit Vasthi identifizieren, da sie emanzipiert denkt. Sie möchte sich nicht unterdrücken lassen und verteidigt ihre Würde. Spätestens seit der Frauenbewegung 1990 in Amerika, ist das denken der meisten Frauen feministisch vernetzt. Viele werden vermutlich Esther als angepasste Frau nicht verstehen können. Die Verantwortung, welche sie später freiwillig übernimmt, regt zum Nachdenken an. Würde man selber solch eine Verantwortung begehen und sich in Lebensgefahr stürzen? Jedoch gibt sie als Rolle der Befreierin Hoffnung für alle Frauen auf dieser Welt, die unterdrückt werden. Jeder, selbst die angepassteste Frau, kann Mut zeigen. Esther hat so viel Mut gezeigt, obwohl sie wusste, dass der König vorher Vasthi deswegen vom Thron gestoßen hat.
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