Leseprobe
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
1.1 Vorgehen und Ziele der Arbeit
1.2 Präzisierung der Fragestellung
2. Geschichte des MR im westlichen Kulturkreis
2.1 Entstehung des MR aus dem System des NR
2.2 Grundlagen und erste Dokumente
2.3 Die Positivierung des MR im 20. Jahrhundert
2.3.1 Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte
2.3.2 Die europäische Menschenrechtskonvention
2.3.3 Die amerikanische Menschenrechtskonvention
3. MR-Dokumente außerhalb der westlichen Kultur
3.1 Banjul-Charta
3.2 MR in der islamischen Welt
3.3 Bangkok-Deklaration (1993)
4. Anknüpfungen in asiatischer Philosophie und Religion
4.1 Vorbemerkungen
4.2 Hinduismus
4.3 Buddhismus
4.4 Daoismus
4.5 Konfuzianismus
4.6 Islam
5. Fazit – regionale Menschenrechte!
6. Literaturverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
1.1. Vorgehen und Ziele der Arbeit
Philosophische Konzepte erheben oft den Anspruch auf Universalität, so auch das MR (Mahler/ Toivanen, 2006, Seite 13). Allerdings wird es vor allem von asiatischer und muslimischer Seite als westliches Konstrukt abgelehnt. In der vorliegenden Arbeit soll diese Behauptung widerlegt werden, indem dargestellt wird, dass sich „ideengeschichtliche Wurzeln des Menschenrechts in verschiedenen Kulturen freilegen lassen.“ (Mao, 1998, Seite 177).
Einleitend wird die westlich-philosophische Tradition des MR, die sich im Kontext der NR-Vorstellungen und der Aufklärung entwickelt hat, vorgestellt (Schwinger, 2001, Seite 7). Besonders durch die Aufklärung wurde eine individuell bezogene Auffassung der MR im Westen entwickelt. Dieser Punkt stellt die größte Schwierigkeit für andere Kulturkreise dar, die sich eher an gemeinschaftlichen Werten orientieren (Menke/ Pollmann, 2007, Seite 10). Es soll herausgestellt werden, dass diese Auffassungen zu vereinbaren sind und sich nicht prinzipiell widersprechen.
Zunächst werden aber im zweiten und dritten Kapitel UN-Dokumente und regionale Rechtssysteme des MR betrachtet, um erste Gemeinsamkeiten zu finden. Die im dritten Kapitel festgestellten Eigenheiten nicht-westlicher MR-Erklärungen werden dann im Kapitel 4 auf ihre Ursachen hin untersucht. Hauptanliegen dieses Kapitels wird jedoch der Versuch sein, Ansätze des MR in den großen asiatischen Religionen und Philosophien, worunter auch der Islam fällt, zu finden.
Der früh festzustellende Unterschied zwischen dem universellen Anspruch und dem pluralen, kulturell bedingten Verständnis des MR erklärt die Kernfrage der Arbeit: Sind MR universell oder kulturspezifisch und somit relativ? Das Hauptziel ist, eine Synthese aus den unterschiedlichen globalen Formulierungen des MR und dem Anspruch auf Universalität herzustellen. Die Pluralität wird dafür als Ausdruck der Universalität verstanden, wobei kulturelle Eigenheiten als Ergänzungen erwogen werden sollen.
Im Fazit wird der Gedankenprozess noch einmal nachvollzogen und das Ergebnis der Arbeit vorgestellt.
1.2. Präzisierung der Fragestellung
In einer Arbeit über globale Wertsysteme und Vorstellungen des MR ist es vonnöten, auf die Vielfalt der vorzustellenden Konzepte hinzuweisen. Auch wenn herausgestellt werden soll, dass im Islam oder im Konfuzianismus dem MR ähnliche Denkweisen vorhanden sind, sprechen diese Systeme nicht von MR. Weiterhin ist festzustellen, dass es „eine reine konfuzianische Ethik (...) ebenso wenig (gibt), wie irgendeine andere namentlich definierte Philosophie.“ (Bauer, 2001, Seite 118). Die vorzustellenden Wertsysteme unterteilen sich aufgrund ihres Umfangs, ihres Alters und ständiger subjektiver Interpretationen in verschiedene Schulen und Traditionen. Die Aussagen der Arbeit, die sich auf Religionen, philosophische Traditionen und auch MR-Systeme beziehen, müssen daher als Verallgemeinerungen angesehen werden. Daher sei auch die Kategorisierung des MR in 3 Generationen und zivile, politische, kollektive und ähnliche Formen hiermit nur erwähnt (Baderin, 2003, Seite 21).
Nicht nur aufgrund der Vielfalt muss auf die grundsätzliche Vorsicht hingewiesen werden, einen Zusammenhang zwischen MR und bspw. dem Koran herzustellen. Auch eine kulturalistische Vereinnahmung oder Geschichtsverklittung soll vermieden werden (Bielefeldt, 2008, Seite 133). Die Interpretationen stellen also nur eine Lesart dar.
2. Geschichte des MR im westlichen Kulturkreis
2.1. Entstehung des MR aus dem System des NR
Die folgende Untersuchung zum Zusammenhang von MR und NR ist Teil der westlichen Tradition, die die Idee der MR aus der Tradition des NR-Denkens entspringend ansieht (Schwinger, 2001, Seite 1). Dennoch werden sich die Grundgedanken, insbesondere das Konzept der Menschenwürde, als universal herausstellen.
Das NR wird als den Menschen als biologische Gattung betrachtend und ihm objektive Menschenpflichten auferlegend aufgefasst (Neschke-Hentschke, 2009, Seite 19). Als ein Grundgedanke ist dabei die Forderung anzusehen, dass der Staat den elementaren Bedürfnissen seiner Bürger entgegenkommen muss. In diesem politischen Anspruch, der noch tiefer geht, liegt ein elementarer Unterschied zum MR. Schon das klassische NR entsprach der Lehre vom besten Regime (Strauss, 1956, Seite 148). Die erste Forderungen dieser Zeit waren Freiheit und Gleichheit, auch wenn sich diese auf griechische Bürger, ein eng zu definierender Bereich, begrenzte.
In seinem Buch „Naturrecht und Geschichte“ spricht Leo Strauss von der Entdeckung des NR durch die ersten Philosophen (Strauss, 1956, Seite 83). Das NR entspricht demnach einem Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchung. Die wichtigste Voraussetzung dieser Untersuchung ist die Unterscheidung zwischen Konvention i.S.v. staatlich-Künstlichem, und Natur i.S.v. Vorstaatlichem (Strauss, 1956, Seite 95). Das NR darf dem positiven Recht nicht gleich gestellt werden. Es ist diesem vielmehr übergeordnet (Haratsch, 2002, Seite 9). Die somit konsequente Ablehnung der Positivierung des NR und des MR, als ein Bestandteil des NR, ist im Rechtsstaat jedoch unmöglich, da sie nur so durchsetzbar werden. Das daraus resultierende Paradoxon besteht darin, dass der Staat MR gewährt, gleichzeitig aber diejenige Institution ist, vor der MR schützen sollen. Offensichtlich wurde dieses Dilemma spätestens durch den NS-Terror. Hannah Arendt konstatierte daher nach 1945, dass sich der Staat als größte Bedrohung des MR herausgestellt hat (Menke/ Pollmann, 2007, Seite 19).
Es war aber gerade die Zeit nach 1945, in der die MR eben durch ihre Positivierung an Bedeutung gewonnen. Sie sind somit anfällig für Veränderungen geworden, was aber als notwendig erachtet werden muss. Bereits Aristoteles charakterisierte das NR als politisch und damit veränderlich (Strauss, 1956, Seite 161). Somit könnte der Konflikt um die Positivierung als irrelevant herausgestellt werden. Er bedeutet aber, die Legitimation des NR und im Westen somit des MR zu klären.
Die Legitimation des NR liegt in ihrer Vorstaatlichkeit, wo elementare Bedürfnisse des Menschen erkennbar sind. So definiert auch Brieskorn das MR als vorstaatliche, einem jeden Menschen als Mensch zustehende Rechte (Brieskorn, 2007, Seite 17). Dass sich der Naturzustand als Grundlage späterer Gesellschafts- und Herrschaftsverträge aus dem NR-Konzept entwickelte, ist offensichtlich. Diese zwei Theorieformen gehen von der natürlichen Gleichheit und Freiheit des Menschen aus, dessen Rechte durch die Staatsgründung ganz oder teilweise einem Herrscher oder der Gesellschaft übertragen werden (bpb, 2007, Seite 8f). Sie wurden jedoch erst in der Neuzeit bedeutsam. Hier wurden die ursprünglichen Postulate der Freiheit und Gleichheit durch den Holländer Hugo Grotius, dem Begründer des Völkerrechts, durch das Recht auf Besitz ergänzt (Neschke-Hentschke, 2009, Seite 26). Bei John Locke ist die Erhaltung des Eigentums sogar das hauptsächliche Ziel der Staatsgründung, da die Interessen des Menschen die ursprüngliche vernünftige Ordnung untergraben (Locke, 2004, Seite 145).
In Anbetracht der theoretischen Breite von römischer Stoa und Christentum hin zu Hobbes Leviathan ist ersichtlich, dass unter dem NR nicht immer dasselbe gemeint ist. Es kann sowohl individuelles, als auch gemeinschaftliches, vorstaatliches, ebenso wie überstaatliches Recht sein. Entscheidend für das Konzept des MR sind drei Punkte: die Überstaatlichkeit und –zeitlichkeit, sowie die gleiche Geltung für alle Menschen. Das MR ist als individualisierte Form des NR zu verstehen, da es dem Menschen individuell wie kollektiv unveräußerliche Rechte qua seines Menschseins zuspricht (Ganz, 2009, Seite 7). Die Fokussierung auf ganze Völker bzw. Gesellschaften als Rechtsträger wird sich später u. a. in asiatischen Auffassungen wiederfinden lassen, womit eine Verbindung von Orient und Okzident möglich wird.
Vor allem in der Stoa lassen sich solche Übereinstimmungen finden. Hier wurde das bedeutsame Konzept der Menschenwürde entwickelt. Der römische Philosoph Cicero definierte Menschenwürde als „someones virtuos authority which makes him worthy to be honoured with regard and respect“ (Cancik, 2002, Seite 23). Herausragend für die Stoa im Allgemeinen ist der soziale Kontext. Das Geehrtwerden ist ein Akt sozialer Anerkennung, also nur zwischenmenschlich möglich. Nun kann angenommen werden, dass sich jede Person diesen Wert erwerben muss, da Cicero davon spricht, dass die Person es wert ist, geehrt zu werden. Die Menschenwürde ist jedoch als in der menschlichen Natur liegend anzusehen. Sie basiert auf Vernunft, Selbstkontrolle und der Herrschaft über die Tiere und die Welt (Cancik, 2002, Seite 21ff). Das Konzept der Menschenwürde wird sich im Verlauf der Arbeit als global herausstellen und sich für das Auffinden des MR in verschiedenen Kulturen als zentral erweisen.
2.2. Grundlagen und erste Dokumente
Im vorigen Kapitel wurde dargestellt, dass die Theorie des NR die theoretische Grundlage des MR darstellt. Ihre volle Bedeutung erlangten die MR jedoch erst im praktischen Konflikt einzelner und mehrerer Personen mit der absoluten Macht des modernen Staates (Huber/ Tödt, 1988, Seite 77).
In diesem Zusammenhang stehen die ersten Gesetzestexte, die als Vorläufer der MR-Erklärungen gesehen werden. Dazu zählen die Magna Charta Libertata (1215), die Petition of Rights (1629), der Habeas Corpus Act (1679) und die Bill of Rights (1689), die alle Ausdruck einer langsamen Entwicklung von Standesrechten hin zu allgemeinen Rechten sind (Koenig, 2005, Seite 27f). So schafft die Magna Charta eine Rechtsgrundlage für Gerichtsverfahren für freie Männer, was in erster Linie auf den Adel zutrifft. Daher sind die ersten Dokumente durch eine gewisse Exklusivität gekennzeichnet. Im Habeas Corpus Act und später in der Bill of Rights gelten bereits alle Untertanen des Königs als Träger von Rechten und Freiheiten (Heidelmayer, 1997, Seite 52f). Was diese Erlasse kennzeichnet ist die Tatsache, dass sie Freiheitsrechte vom Staat darstellen, die durch den Staat verliehen werden, was das Paradoxon des vorigen Kapitels repräsentiert.
Der fehlende Bezug zum NR stellt jedoch den größten Unterschied zu den ersten Dokumenten, die als Erklärungen des MR gelten, dar. Diese entstanden im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bzw. in der französischen Revolution. In diesen beiden Umstürzen wurden die Merkmale des MR, wie die Unveräußerlichkeit, die Ungebundenheit und die Vorstaatlichkeit deutlich proklamiert. Auch Kernforderungen wie das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum, sowie Glück und Wohlstand im Diesseits wurden genannt (bpb, 2007, Seite 9).
Die ideengeschichtlich bedeutsame Verbindung von NR und MR lässt sich in der Virginia Bill of Rights von 1776 finden:
„Dass alle Menschen von Natur aus gleich frei und unabhängig sind, und gewisse, ihnen innewohnende Rechte haben, welche sie, wenn sie in einen Gesellschaftszustand eintreten, durch keine Abmachung ihren Nachkommen entziehen können. Namentlich handelt es sich darum, sich des Lebens und der Freiheit zu erfreuen zu dürfen und dazu Eigentum erwerben und besitzen zu können und nach Glück und Sicherheit zu streben…“ (Brieskorn, 2007, Seite 85).
In diesem Dokument, das bereits wesentliche Elemente der späteren Unabhängigkeitserklärung enthält, lassen sich sowohl hauptsächlich von Locke abgeleitete Gedanken des NR, als auch erste Formulierungen der MR finden. Die Herleitung „von Natur aus“ stellt die Brücke zwischen beiden Konzepten dar. Diese Parallelen sind typisch für das 18. Jahrhundert, auch wenn kritisiert wird, dass die Verbindung von MR und NR vage und kaum theoretisch fundiert ist (Griffin, 2008, Seite 281).
Eine deutlichere Verbindung beider Ideen lässt sich in der Präambel der französischen Erklärung über die Rechte der Menschen und Bürger finden:
„Die Unkenntnis, das Versagen oder die Verachtung der MR (sind; Anm. d. Verf.) die einzigen Ursachen des öffentlichen unglücklichen Zustandes und der Verderbtheit der Regierung. (Wir; Anm. d. Verf.) haben entschlossen… die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte des Menschen der Öffentlichkeit vorzustellen.“ (Brieskorn, 2007, Seite 12).
Die Begründung des öffentlichen Unglücks mit der Unkenntnis des MR weist auf einen Gedanken Rousseaus hin, die Ablösung der natürlichen Freiheit durch die bürgerliche Freiheit im Gesellschaftsvertrag. Die Einhaltung des MR, hier der Freiheit, als Teil des NR ist demnach eine Aufgabe des Staates. Ebenso auf Rousseau hinweisend ist das Vorhaben, die Öffentlichkeit über ihre Rechte aufzuklären. Im näheren Vergleich stellt sich heraus, dass die Amerikaner einen Schwerpunkt auf die Freiheitsverbürgung legen, wohingegen die Franzosen das MR präziser, logischer und dennoch allgemeingültiger als angeborenes Recht darstellen (Haratsch, 2002, Seite 33).
Zusammenfassend lässt sich die Geschichte der MR in Europa wie folgt darstellen: Der Ursprung liegt in der Antike, erstmals wörtlich erwähnt werden sie in der Magna Charta. In der Neuzeit werden sie tiefer mit dem NR verbunden, was am Ende des 18. Jhd. zu den ersten rechtlichen Erklärungen führte (Mahler/ Toivanen, 2006, Seite 15f).
Gekennzeichnet sind diese Erklärungen durch ihren eingeschränkten Wirkungsbereich. Selbst in den Staaten, die das MR verkündeten, kamen längst nicht alle Menschen in den Genuss dieser Rechte. Daher erklärt sich die Forderung Hannah Arendts, dass MR unabhängig vom Status der Staatsbürgerschaft für die gesamte Menschheit verkündet werden sollen. Das MR besteht in ihrer Minimaldefinition darin Rechte zu haben (Koenig, 2005, Seite 46). In den modernen Dokumenten des MR, allen voran der AEMR, konnte die Forderung Arendts erfüllt werden.
2.3. Die Positivierung des MR im 20. Jahrhundert
2.3.1. Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Der Bereich der MR erfuhr spätestens am 10.12.1948 mit der Verkündung der AEMR eine Loslösung vom NR. Die Freiheit und die Gleichheit an Recht und Würde (Art. 1 AEMR) sind hier die entscheidenden Grundlagen. Obwohl Art. 1 somit Ähnliches fordert wie das NR, stellt die AEMR keine bloße Übernahme einer geschichtlich philosophischen Tradition dar (Menke/ Pollmann, 2007, Seite 18). Sie verzichtet bspw. auf die Herleitung der Rechte und betont die Notwendigkeit der Rechtsstaatlichkeit. Die AEMR hat eine enorme Bedeutung für die weitere Entwicklung der MR, obwohl sie kein verbindliches Vertragswerk, sondern vielmehr eine Empfehlung darstellt.
In den 30 Artikeln legt die AEMR in sehr allgemeiner Weise MR und auch Pflichten fest. Letztere werden in Art. 29 umschrieben. „Jeder Mensch hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die volle und freie Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist.“ (BMV, 2004, Seite 86). Die Verbindung des Einzelnen mit der Gemeinschaft, die auch in den Art. 17 und 27 genannt wird, ist ein zentraler Punkt asiatischer Moralvorstellungen, weshalb Art. 29 von herausragender Bedeutung ist. Er kann auch als Kennzeichen dafür gesehen werden, dass die AEMR, wie alle weiteren Kataloge des MR, einen politischen Kompromiss darstellt (Nooke, 2008, Seite 31).
Der Kompromisscharakter, der hier internationale Ausmaße angenommen hat, ist allerdings positiv zu werten, da er eine gewisse Breite und Allgemeingültigkeit der zugestandenen Rechte bedingt. In dieser Breite liegt die eigentliche Stärke der AEMR, da sie somit mehr Anknüpfungspunkte in den verschiedenen Regionen der Welt findet. Ebenso wird der Nachteil, dass die AEMR nicht rechtlich bindend ist, zum Vorteil, da so die enorme moralische Bedeutung zu Tage tritt (Heidelmayer, 1997, Seite 33). Als bindendes Recht wäre sie angreifbar und Änderungen unterworfen; als Empfehlung ist sie vielmehr ein Ideal und eine moralische Ermahnung. Freilich entsteht so das Dilemma, dass die proklamierten MR nicht bzw. mangelhaft umgesetzt werden. Dazu trug die MR-Kommission der UN ihren Teil bei, die für viele „zur Börse verkam, wo Prinzipien heute hochgehalten und morgen gegen Handelskonzessionen eingetauscht werden.“ (Roetz, 1998, Seite 190). Durch die Gründung des MR-Rates am 19.6.2006, der direkt der Generalversammlung untersteht, sollte dieser Tatsache entgegengewirkt werden.
Trotz der Verkündung der AEMR durch die Generalversammlung der UN, wird das allgemeine Konzept der MR vor allem von Entwicklungsländern zurückgewiesen. Dies lässt sich auf zwei Ursachen zurückführen: Erstens wird das MR als Produkt westlicher Gedanken und Traditionen angesehen. Zweitens betont es zu sehr zivil-politische Rechte auf Kosten von ökonomischen, sozialen und kulturellen Rechten (Diokno, 2000, Seite 75). Diese Kritik wird vor allem in der BD laut. Als für alle Staaten nachteilig aufzufassen ist die Tatsache, dass die AEMR kein verbindliches Vertragsrecht darstellt, obwohl sie gerade die Notwendigkeit betont, MR durch die Herrschaft des Rechts zu schützen (BMV, 2004, Seite 80f). Daher muss die große Differenz zwischen der Anerkennung und der Umsetzung der AEMR beachtet werden (Chan, 2000, Seite 65). Diese Differenz lässt sich vor allem auf den unverbindlichen Rechtscharakter zurückführen. Dieses Problem wurde jedoch durch die ergänzenden Pakte von 1966 gemindert.
Das Dilemma der mangelnden Umsetzung umgehen die Nachfolgedokumente der AEMR, die Pakte über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) bzw. über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (Sozialpakt) vom 19.12.1966. Sie sind verbindliche Rechtsdokumente, die viel detaillierter als die AEMR sind. Obwohl sie einige Rechte der AEMR wiederholen, so die Gewissens-, Religions- und Gedankenfreiheit (Art. 18 Zivilpakt und AEMR), der besondere Schutz der Familie (Art. 23 Zivilpakt bzw. Art. 16,3 AEMR) oder das Recht auf einen angemessenen Lebensstandart (Art. 11 Sozialpakt bzw. Art. 25,1 AEMR), stellen sie weiterführende Dokumente dar (C.H. Beck, 1998, Seite 32ff). Von besonderer Bedeutung sind dabei der Gleichstellungsparagraph (Art. 3 Zivilpakt) und das Anspruchsrecht der Völker, ihre Ressourcen voll und frei zu nutzen (Art. 47 Zivilpakt). Auch das in beiden Pakten genannte Souveränitätsrecht aller Völker (Art. 1) bezeichnet ein ganzes Volk als Träger des MR, was den Vorstellungen der südlichen Länder entgegen kommt (Huber/ Tödt, 1988, Seite 19). Von der gleichen Bedeutung ist die in der Präambel, die in beiden Dokumenten annähernd wortgleich ist, festgehaltene Pflicht des Einzelnen gegenüber den Mitmenschen und der Gemeinschaft (C.H. Beck, 1998, Seite 25, 26).
Beide UN-Pakte gehen somit auf Traditionen und Werte aus Nord und Süd ein, weshalb sie als sinnvolle Ergänzung zur AEMR anzusehen sind. Hervorzuheben ist die kulturelle Rücksichtsnahme in der Präambel: Das „Ideal von freien Menschen (wird; Anm. d. Verf.) nur verwirklicht, wenn jeder seine wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ebenso wie seine bürgerlichen und politischen Rechte genießen kann.“ (C.H. Beck, 1998, Seite 66). Trotz dieser ausgewogenen Formulierung blieb die Skepsis der Entwicklungsländer bestehen und konnte erst 1993 formal in der MR-Konferenz von Wien beigelegt werden. Dort bestätigten die teilnehmenden Staaten die Gültigkeit der AEMR und betonten, dass es keine Hierarchisierung der MR gibt (von Senger, 1998, Seite 268). Einige der in Kapitel 3 vorzustellenden Dokumente, insbesondere die BD, trugen dazu bei.
Die UN hat somit ein MR-System geschaffen, dass der globalen Uneinigkeit über die kulturelle Rücksichtsnahme entgegen kommt. Die hohe Anerkennung der AEMR beweist dabei, dass es eher Minimalstandards sind, die universell annehmbar sein können (Chan, 2000, Seite 61). Die Idee, MR minimal zu definieren ist auch in Hinblick auf das Ziel der vorliegenden Arbeit von Bedeutung.
Die Vorbildfunktion der AEMR führte u. a. zu einer Reihe regionaler Erklärungen, die in den folgenden Punkten vorgesellt werden.
2.3.2. Die europäische Menschenrechtskonvention
Die am 4.11.1950 in Rom unterzeichnete und am 3.9.1953 in Kraft getretene EMRK, wörtlich die Konvention zum Schutze der MR und Grundfreiheiten, ist das älteste und detaillierteste regionale Vertragswerk zum Schutz der MR (Grabenwarter, 2009, Seite 1f). Ihre enge Verbindung mit dem Europarat erklärt die hohe Anzahl von 45 Mitgliedern. Auch die EU als supranationale Organisation kann ihr beigetreten.
Die EMRK wurde immer wieder durch weitere Zusatzprotokolle, insgesamt 14, ergänzt, was zwei Dinge verdeutlicht: Erstens die Genauigkeit, die als Ausdruck der Verrechtlichung des MR zum beachtenswerten Umfang der gesamten Konvention führte. Zweitens die Wandlungsfähigkeit, was ambivalent zu werten ist. So wurde ursprünglich die Todesstrafe für legitim erklärt, wo sie noch bestand (Art.2; alle Zitate zu Artikeln der EMRK aus: EMRK, staatsvertraege.de). Durch das Zusatzprotokoll vom 28.4.1983 wurde die Todesstrafe im Art. 1 abgeschafft, um durch Art. 2 im Kriegsfall wiederum zugelassen zu werden (Fastenrath/ Simma, 1985, Seite 211, 234). Die Änderungen finden sich nun in Art. 18 (Begrenzung der Rechtseinschränkung) unter den Zusatzartikeln 8 und 9. Dass Art. 18 über drei Seiten geht, verdeutlicht die Gründlichkeit mit der die MR in Europa behandelt werden. Es beweist aber auch, dass dort die Juristen die Deutungshoheit über die MR übernommen haben.
Der Konfuzianismus nimmt eine kritische Haltung gegenüber Juristen ein, da diese den Verlust an Moral und Sitte kompensieren sollen (Roetz, 1997, Seite 204). Da dies im Umkehrschluss bedeutet, dass viele Juristen ein Kennzeichen einer amoralischen Gesellschaft sind, wäre es schlecht um Europa bestellt. Zumindest machen die dem Zeitgeist entsprechenden Anpassungen deutlich was passiert, wenn MR nur noch juristisch betrachtet werden. Anstatt konsequent und überzeitlich humane Forderungen zu erheben, wird so Trends nachgegangen, wodurch die Rechte ihre Stärke, die Allgemeingültigkeit und die moralische Qualität verlieren. Dies verdeutlicht den eingangs erwähnten Positivierungskonflikt. Auch die Möglichkeit der Aussetzung der Rechte in Kriegs- oder Notfall (Art. 15) widerspricht der Stärke der MR, die in der Allgemeingültigkeit besteht. Daher stimmt der Autor mit der konfuzianischen Aussage überein.
Zwei weitere Merkmale der überfrachteten juristischen Ausformulierung sind Art. 17, der das Missbrauchsverbot der bestehenden Rechte beinhaltet, eine übliche aber überflüssige Klausel, und vor allem die Tatsache, dass ab Art. 19 fast ausschließlich Verfahrensgrundlagen, Rechtsprozeduren, Organisation und Zuständigkeiten des Gerichtshofes für MR, Grundlagen der Gutachtenerstellung etc. geregelt werden. Somit enthält die EMRK effektiv nur 18 MR, was jedoch auch in anderen Dokumenten ähnlich ist. Dies illustriert die Frage, ob ein breiter inhaltlicher Katalog von MR nötig oder hilfreich ist und ob nicht mehr Wert auf die Implementierung gelegt werden muss (Nooke, 2008, Seite 17). Die EMRK legt ihren Schwerpunkt auf letzteres. Im Fazit werden diese Punkte, darunter die Forderung nach einem Minimalkatalog der MR, aufgegriffen.
Als positive Punkte der EMRK hervorzuheben sind einzelne Rechte wie die Informationspflicht des Staates gegenüber seinen Bürgern (Art. 10,1) und die Pflicht des Staates, seinen Bürgern die Teilnahme an staatlichen Leistungen und Einrichtungen zu gewähren (Grabenwarter, 2009, 126f). Vor allem ersteres zeugt von Weitblick, da 1953 noch nicht von der heutigen Menge an Informationen gekennzeichnet war. Sie stellen besonders für Demokratien wichtige Artikel dar, da so der mündige Bürger ermöglicht wird. Auch die Artikel 8-11 nehmen einen klaren Bezug zur Demokratie. Darin lässt sich die geschichtlich gewachsene Verbindung von Demokratie und MR und somit der allgemeine geschichtliche Prozess Europas nachvollziehen. Im nächsten Kapitel wird sich ähnliches für Amerika herausstellen. Besonders hervorzuheben ist Art. 16, der auch Ausländern ermöglicht sich uneingeschränkt politisch zu betätigen.
Ebenso hervorhebenswert ist die Tatsache, dass dieses System von Grundfreiheiten von der unabhängigen Gerichtsbarkeit in Straßburg überwacht wird (Koenig, 2005, Seite 81). Jeder Bürger der Unterzeichnerstaaten kann hier Klagen einreichen (Art. 34). Noch wichtiger ist jedoch, dass die Vertragsparteien das Urteil des Gerichts zu befolgen haben (Art. 46,1). Ausgebaut wird dieses System durch weitere Vereinbarungen Europas wie der europäischen Sozialcharta vom 18.10.1961, oder der Schlussakte der Kommission für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1.8.1975 in Helsinki (C.H. Beck, 1998, Seite 314f, 383f). Letztere rückt inhaltlich vom Individualrecht mehr zum Völkerrecht ab.
Die hohe Dichte und Detailliertheit der Vertragswerke mag zwar auch zur Unkenntnis über die Rechte beitragen, dennoch gewähren sie den Europäern einen umfassenden Schutz ihrer MR. Die konzeptionelle Schwäche der EMRK wird darin deutlich, dass das Folterverbot (Art. 3) der einzige Artikel ist, der keinen Ausnahmen oder Einschränkungen unterworfen ist (Grabenwarter, 2009, Seite 145). Selbst das Privat- und Familienleben wird nur als zu achten bezeichnet (Art. 8). Somit sichern sich die Staaten in den meisten Artikeln eine Art Zugangsmöglichkeit. Hier lässt sich der uralte Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit feststellen, was der ehemalige malaysische Außenminister Badawi wie folgt formulierte: „Zuviel Freiheit kann die Demokratie zerstören.“ (Mahler/ Toivanen, 2006, Seite 38).
Es ist zu betonen, dass MR nicht gefordert werden, um Ausnahmen von ihnen machen zu können. Diese grundsätzliche Möglichkeit besteht jedoch in der EMRK, deren Rechtsgeschichte durch den dauerhaften Änderungs- und Ergänzungsprozess gekennzeichnet ist. Letztendlich überwiegen die Vorteile dieses umfassenden Rechtswerkes aber seine Nachteile.
2.3.3. Die amerikanische Menschenrechtskonvention
Die in ihrer Zusammenstellung ungewöhnliche AMRK, die am 22.11.1969 proklamiert wurde, regelt den regionalen MR-Schutz für Amerika. Sie trat erst 9 Jahre später am 18.7.1978 in Kraft, was den problematischen Ratifikationsprozess verdeutlicht. (Koenig, 2005, Seite 81). Da sowohl individuell-liberalistische als auch soziale Gedanken in ihr verfasst sind, ist sie als Dokument des besonderen Selbstverständnisses des gesamten amerikanischen Kontinents zu betrachten. Ebenso kann sie als Ergebnis einer langen Tradition der Rechtsgeschichte auf dem Doppelkontinent gesehen werden. Diese Tradition begann schon vor der bereits beschriebenen Unabhängigkeitserklärung der USA bei den Werken und Taten von Bartolomé de las Casas und führte Anfang des 19. Jhd. zu den südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfen unter Simón Bolivar.
Daher enthält die AMRK neben klassischen Rechten wie Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 12), dem Recht auf Leben (Art. 4), dem Besitzrecht (Art. 21) oder dem Recht auf Freizügigkeit (Art. 22) auch besonders individualistische Rechte. Darunter fallen das Recht auf Privatsphäre bzw. das Recht, seine Ehre und Würde respektiert zu finden (Art. 11) oder dem Recht auf Freiheit und Sicherheit (Art. 7) (alle Zitate zu den Artikeln aus: AMRK, cidh.oas.org). Diese Betonung der Freiheitsrechte, die sich auf demokratische Institutionen ausweitet, was im Folgenden erläutert wird, entspricht der Satzung der OAS vom 30.4.1948. Diese Organisation, die die AMRK verfasst hat, sieht die historische Mission Amerikas darin, für Freiheit zu sorgen (Fastenrath/ Simma, 1985, Seite 361).
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