Ein deutscher Großstadtroman: Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

25 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Einleitung

2. Tauben im Gras: ein deutscher Großstadtroman
2.1. Literarische Vorbilder
2.1.1 Berlin Alexanderplatz – München Hofbräuhaus
2.2. Die Stadt als Kollektiv
2.3. Ein mythologischer Dschungel

3. Resümee

4. Literaturverzeichnis
4.1. Primärliteratur
4.2. Sekundärliteratur

Die Zukunft von morgen war schon gestern und von Anbeginn.[1]

Wolfgang Koeppen.

1. Einleitung

Als „die bedeutendste literarische Gestaltung der Nachkriegszeit“, „ein Ereignis“, als einen „völlig aktuelle[n] Gegenwartsroman“[2] kündigt der Verlag Scherz & Goverts im Jahr 1951 den Roman Tauben im Gras an, den ersten Teil von Wolfgang Koeppens so genannter Trilogie des Scheiterns.[3] Sowohl Verleger als auch erste Rezensenten preisen das Werk als Zeit- und Schlüsselroman und haben die Rezeption so für lange Zeit „beeinflusst, wenn nicht gar gesteuert.“[4] Durchaus hat Koeppens Werk die unmittelbare Gegenwart zum Thema, „kurz nach der Währungsreform […], als das deutsche Wirtschaftswunder im Westen aufging, […] zur hohen Zeit der Besatzungsmächte, als Korea und Persien die Welt ängstigten und die Wirtschaftswundersonne vielleicht gleich wieder im Osten blutig untergehen würde“[5] ; dennoch bietet Tauben im Gras auch eine urbane Dimension, die das Werk als modernen Großstadtroman in der Tradition Joyces, Dos Passos’ und Döblins erscheinen lassen. In einer seiner wenigen theoretischen Äußerungen beschreibt Koeppen seine „Vorstellung von einem idealen Roman“[6] und bekennt sich mit einem Konzept der Simultanität, das auch in Tauben im Gras zur Anwendung kommt, zu seinen literarischen Vorbildern: „Versuch einer Aufhebung der Zeit zu einer Gleichzeitigkeit alles Geschehens. Jeder Vorgang gegenwärtig, jetzt und hier, in diesem Augenblick. Kein Vorher und kein Nachher. Weder Vergangenheit noch Zukunft.“[7]

Die vorliegende Arbeit soll detailliert die Bedeutung der Stadt in Koeppens Roman schildern, und aufdecken, inwiefern es sich bei Tauben im Gras um einen modernen Großstadtroman handelt. Auf einen ausführlichen Vergleich mit Koeppens englischsprachigen Vorbildern soll weitgehend verzichtet werden; detailliert soll nur Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz als ein Vertreter des deutschen Großstadtromans herangezogen und auf die Gemeinsamkeiten und vor allem Unterschiede zu Tauben im Gras hingewiesen werden. Ferner soll auf den Verzicht nur eines Romanhelden aufmerksam gemacht und die Rolle der Stadtbewohner als Stadtkollektiv aufgedeckt werden. Weiterhin soll der Vielzahl mythischer Anspielungen, die ein zentrales Merkmal von Koeppens Erzählweise darstellen, ein eigenes Kapitel gewidmet und auf den Zusammenhang von Stadt und Mythos im Roman hingedeutet werden.

Eine zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse folgt in einem abschließenden Resümee.

2. Tauben im Gras : ein deutscher Großstadtroman

„Aus heutiger literaturhistorischer Perspektive ist es unstrittig, dass Wolfgang Koeppens Romantrilogie […] eine der bedeutendsten künstlerischen Leistungen auf dem Gebiet des modernen Romans darstellt.“[8] Als zu Beginn der fünfziger Jahre Vergangenheitsbewältigung und Heimkehrergeschichten den literarischen Markt in Deutschland fest im Griff hatten, „legte Wolfgang Koeppen [mit Tauben im Gras ] der literarischen Öffentlichkeit ein Buch vor, das damals seinesgleichen nicht hatte.“[9] Die Meinung, Koeppens Romane der fünfziger Jahre seien „auf völliges ästhetisches Unverständnis, auf politische Diffamierung als ‚Nestbeschmutzer’ und sittliche Empörung gestoßen, ist eine Mystifikation“[10], die trotz der im Tenor nachweislich „positiven oder sogar enthusiastischen […] Rezensionen“[11] in der Forschung bis heute gelegentlich noch anzutreffen ist. Zwar blieb Wolfgang Koeppen „[a]ls erster Romancier […] der Gegenwart so dicht auf der Spur, daß die Zeit der Niederschrift mit der des Romangeschehens zusammenfiel und die Leser von der Gegenwart des Erzählers nur durch den Zeitraum getrennt waren, dessen es zur Drucklegung des Buches bedurfte“[12] ; dass es sich bei Tauben im Gras jedoch nicht nur um einen Schlüsselroman, eine als „ungewöhnlich aggressiv empfundene Zeitkritik“[13] und „facettenreichen Skizze der deutschen und US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft“[14] handelt, sondern auch, und vor allem, um eines der ersten Zeugnisse modernen Erzählens deutschsprachiger Literatur, soll im Folgenden belegt werden.

2.1 Literarische Vorbilder

Die „erzähltechnische Orientierung an [englischsprachigen] Autoren [der Moderne] wie James Joyce [und] John Dos Passos“[15] im ersten Teil von Koeppens Nachkriegstrilogie ist offenkundig, Koeppen selbst war „wahrscheinlich einer der ersten Käufer des ‚Ulysses’[.]“[16] Zwar wird die Stadt, in welcher man sich befindet, nicht explizit beim Namen genannt, anhand topografischen Anhaltspunkte jedoch lässt sich, ebenso wie in den oben genannten Werken Dublin und New York, in Koeppens Roman München als Handlungsort identifizieren. Besonders auffällig im Vergleich mit Joyces Ulysses ist außerdem die erzählte Zeit: Die Handlungen beider Romane erstrecken sich über nur einen Tag[17]. Die wohl auffälligste Gemeinsamkeit mit Dos Passos’ Manhattan Transfer ist das Verfolgen der Handlungen, Bewegungen und Spuren nicht einer, sondern von etwa 30 Figuren.[18]

In Hinblick auf die deutsche Literatur ist es insbesondere ein Werk der Klassischen Moderne, das sich Koeppen in seiner Arbeit zum Vorbild gemacht hat: Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz.

2.1.1 Berlin Alexanderplatz – München Hofbräuhaus

Lange Zeit bestand in der Forschung Einigkeit darüber, dass Koeppen „mit […] seinem gewählten Thema der Großstadt den Schreibverfahren der literarischen Moderne und vor allem Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz folge“[19] und sich „als ein ‚verspäteter Modernist’ […] als der erste und einzige Schriftsteller der Nachkriegszeit […] der herrschenden Kahlschlagideologie und –poetologie verweigerte und statt dessen an die Experimentierfreude und inhaltlichen Schwerpunkte der literarischen Moderne anknüpfte[.]“[20]

Vergleicht man Koeppens Tauben im Gras mit Döblins Großstadtroman von 1929 offenbaren sich durchaus einige Gemeinsamkeiten, die eine Verwandtschaft zu einem der „Erzväter des neuen Romans“[21] belegen. Zwar hat Koeppen, anders als Döblin, der ein Porträt Berlins, das individuelle Gesicht der Stadt zeichnet, nicht München porträtiert, „sondern diesen Ort [nur] als exemplarisches Modell für eine deutsche Großstadt des Nachkriegs genommen“[22] ; die grundsätzliche Schauplatzwahl der Großstadt bleibt jedoch beiden Autoren gemeinsam.

Betrachtet man wahllos einige aufeinanderfolgende Anfänge der 102 Erzählsequenzen des Romans, offenbart sich bereits auf den ersten Blick eine erzählerische Mosaiktechnik wie auch Döblin sie anwandte, die Koeppen den gesamten Roman über fortsetzt:

[4.] Philipp verließ das Hotel […]. [5.] Frau Behrend hatte es sich gemütlich gemacht. […] [6.] Philipp kam mit der Zeit nicht zurecht. […] [7.] In die Engellichtspiele kann man schon am Morgen vor dem Licht des Tages fliehen. […] [8.] Die Stadt wächst. […] [9.] Der kleine stramme Körper des Doktors lag […] auf dem mit Wachstuch bezogenen Tisch[.] […] [10.] Sie hatten ihr Leben gerettet[.] […] [11.] Odysseus Cotton verließ den Bahnhof.[23]

Auf zehn Seiten sind es fast ebenso viele Personen und Orte, die beschrieben werden und erst nach Lektüre des ganzen Romans ein Gesamtbild ergeben, in dem alle Ereignisse des Tages in der Großstadt souverän zusammengeführt und sinnstiftend miteinander verknüpft werden. Damit schließt Koeppen an die literarischen Errungenschaften und ästhetischen Postulate der zwanziger Jahre an und teilt hierbei vor allem die Idee, die dissoziative Weltsicht und Erfahrungsweise der Moderne würden durch eine fragmentarische Schreibweise und durch die Entgrenzung der Erzählperspektiven zum Ausdruck gebracht werden können. Döblins Modell der Polyphonie und der Verschränkung von Musik und Romanform kommen hier ebenso zum Einsatz wie der aus Berlin Alexanderplatz bekannte Montage- und Simultanstil.[24] Die Schilderung der Vielfalt optischer und akustischer Signale, der Bewegtheit urbanen Lebens geht auch in Koeppens Roman auf den Impuls zurück, den die Großstadt seit den zwanziger Jahren auf die Intellektuellen ausübte.[25] Grundsätzlich zweifelt Koeppen ferner „an den mimetischen Funktionen von Literatur und an der Abbildbarkeit von Realität“[26] ; im Unterschied zu Döblin jedoch verzichtet er im Hinblick auf das Erzählkonzept meist auf die Kategorie der Sachlichkeit und ersetzt diese vielfach durch die des Mythologischen.[27] Insbesondere Namen und Masken mythologischen Ursprungs beleben Koeppens Stadtpanorama und führen den Mythos ad absurdum, indem die Romanwelt von ihnen gleichsam überbevölkert wird, um letztlich ihre Entleerung zu beglaubigen.[28] Die „mythologische Überblendung von Handlungsabläufen, Personen oder Topographien […] in Koeppens Nachkriegstrilogie ist […] nahezu omnipräsent“[29] und neben dem programmatischen Anschluss an die moderne Erzähltechnik das wohl auffälligste Kennzeichen von Koeppens Stil. Eine ausführliche Betrachtung dieser Eigenheiten folgt im letzten Kapitel dieser Hausarbeit.

Montiert werden in Tauben im Gras vor allem „biografische, historische und mythologische Anspielungen und Namen“[30]: Der afroamerikanische Soldat Odysseus Cotton beispielsweise trägt nicht nur den griechischen Mythos im Namen, sondern, nach Ende des Krieges, nun als Tourist in der Stadt unterwegs, im Transistorradio die Stimme Amerikas gleich mit. Außer kurzen Schlagertexten aus dem Radio – „[d]ie Stimme sang Night-and-day “[,] […] im Musikkoffer aus Josefs Schoß sang ein Chor „s he-was-a-nice-girl“[31] –, sind es vor allem kurze Zeitungsmeldungen und Schlagwörter, die im Text gehäuft auftauchen und sich durch Kursivierungen vom Gesamttext abheben:

[...]


[1] Wolfgang Koeppen: Vom Tisch. In: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Band 5. Berichte und Skizzen II. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 298.

[2] Zitiert nach: Hiltrud und Günter Häntzschel: Wolfgang Koeppen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006. (= Suhrkamp BasisBiographie 12) S. 47.

[3] Es folgten Das Treibhaus 1953 sowie Der Tod in Rom 1954.

[4] Günter und Hiltrud Häntzschel: Wolfgang Koeppen. S. 88.

[5] Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. Vorwort zur 2. Auflage. In: Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel und Hans-Ulrich Treichel. Band 2. Romane II. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1986. S. 9.; im Folgenden zitiert als TG.

[6] Günter und Hiltrud Häntzschel: Wolfgang Koeppen. S. 75.

[7] Wolfgang Koeppen: Vom Tisch. S. 298.

[8] Jürgen Egyptien: Einleitung. Stand und Perspektiven der Koeppen-Forschung. In: Wolfgang Koeppen. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von Jürgen Egyptien. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009. S. 7.

[9] Friedbert Stühler: Totale Welten. Der Moderne Großstadtroman. Regensburg: S. Roderer 1989 (= Theorie und Forschung 70, Literaturwissenschaft 2). S. 89.

[10] Ebd. S. 7f.

[11] Ebd. S. 8.

[12] Norbert Altenhofer: Wolfgang Koeppen. Tauben im Gras. In: Deutsche Romane des 20. Jahrhunderts. Neue Interpretationen. Hrsg. von Paul Michael Lützeler. Frankfurt am Main: Athenäum 1983. S. 284f.

[13] Martin Hielscher: Wolfgang Koeppen. München: C. H. Beck 1988 (= Beck’sche Reihe 609, Autorenbücher). S. 76.

[14] Stefan Eggert: Wolfgang Koeppen. Berlin: Edition Colloquium 1998 (= Köpfe des 20 Jahrhunderts, 134). S. 41.

[15] Jürgen Egyptien: Einleitung. S. 7.

[16] Wolfgang Koeppen: Einer der schreibt. Gespräche und Interviews. Hrsg. von Hans-Ulrich Treichel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995. S. 136.

[17] André Gide gestern verschieden lautet eine Schlagzeile des „Abendechos“ (vgl. TG: S. 95). André Gide verstarb am 19. Februar 1951.

[18] Vgl. Martin Hielscher: Wolfgang Koeppen. S. 77.

[19] Günter und Hiltrud Häntzschel: Wolfgang Koeppen. S. 89.

[20] Sabina Becker: Ein verspäteter Modernist? Zum Werk Wolfgang Koeppens im Kontext der literarischen Moderne. In: treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 1 (2005). S. 97.

[21] Wolfgang Koeppen: Antwort auf eine Umfrage. In: Gesammelte Werke. Band 5. S. 249.

[22] Josef Quack: Geistige Wahlverwandtschaft. Wolfgang Koeppen und Alfred Döblin. In: Jahrbuch der Internationalen Wolfgang-Koeppen-Gesellschaft 3 (2006). S. 45.

[23] TG: S. 17-27.

[24] Vgl. Sabina Becker: Ein verspäteter Modernist?. S. 98.

[25] Josef Quack: Geistige Wahlverwandtschaft. S. 45.

[26] Sabina Becker: Ein verspäteter Modernist?. S. 98.

[27] Ebd.

[28] vgl. Jürgen Egyptien: Ausfahrt statt Heimkehr. Exsitentialistische Inversion der Odyssee in Tauben im Gras. In: Wolfgang Koeppen – Mein Ziel war die Ziellosigkeit. Hrsg. von Gunnar Müller-Waldeck/ Michael Gratz. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1998. S. 155.

[29] Ebd. S. 155.

[30] Stefan Eggert: Wolfgang Koeppen. S. 43.

[31] TG: S. 27, 151

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
Ein deutscher Großstadtroman: Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras"
Hochschule
Universität Wien  (Institut für Germanistik)
Veranstaltung
Die Stadt in der modernen Literatur
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
25
Katalognummer
V169992
ISBN (eBook)
9783640885770
Dateigröße
603 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Hauptseminar zu Koeppens (Großstadt-)Roman "Tauben im Gras.
Schlagworte
tauben im gras, wolfgang koeppen, großstadtroman, moderne literatur, berlin alexanderplatz, alfred döblin, roman, klassische moderne
Arbeit zitieren
Andreas Storm (Autor:in), 2010, Ein deutscher Großstadtroman: Wolfgang Koeppens "Tauben im Gras", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/169992

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