Leseprobe
Gliederung
I. Einleitung: Kriminalitätsfurcht - Begriff im Wandel?
II. Die Schutzgüter öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung
1. Die polizei- und ordnungsbehördlichen Generalklauseln
2. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit
3. Das Schutzgut der öffentlichen Ordnung
a) Die Entwicklung des Schutzgutes der öffentlichen Ordnung
b) Der Inhalt des Begriffs der öffentlichen Ordnung
c) tradiertes vs. „modernes“ Begriffsverständnis
d) Die verfassungsrechtliche Notwendigkeit des Schutzgutes der öffentlichen Ordnung
e) Die Grundrechte als Abwehrrechte und als staatliche Schutzpflicht
f) Das Grundrecht auf Sicherheit nach Isensee
g) Die öffentliche Ordnung als Garant für die Gewährleistung bestmöglicher Sicherheit?
4. Die aggressive Bettelei als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung?
a) Der Begriff aggressive Bettelei
b) Die Ermittlung einer entsprechenden Sozialnorm am Beispiel der aggressiven Bettelei
c) Die Ermittlung einer eventuell herrschenden Sozialnorm
d) Verstoß der herrschenden Sozialnorm gegen Art. 2 Abs. 1 GG?
e) Besteht bei aggressiver Bettelei eine Gefahr für polizeiliche Schutzgüter?
5. Weiter Tatbeständen i.V.m. dem Schutzgut der öffentlichen Ordnung
6. Das Sexualitätsverständnis als Beispiel für die Wandelbarkeit des Begriffs der öffentlichen Ordnung
7. Fazit
III. ziviles Ungehorsam - Hindernis Mehrheitsprinzip?
I. Einleitung
Kriminalitätsfurcht - Begriff im Wandel?
„Bürgernahe Politik!“ - Eine Forderung die in keinem Wahl- und Grundsatzprogramm fehlen darf. Politische Sphären, die sich über etliche Kanäle mit denen der Bürger vernetzen, ihre Bedürfnisse aufdecken, analysieren und bewerten um daran dann die politischen Agenden zu orientieren. Die Themenfelder auf die man diese geforderte Praxis beziehen kann, sind ebenso vielfältig wie die räumlich-zeitlichen Einheiten die die Basis für eben jene Politiken darstellen.
Im Folgenden soll der thematische Fokus auf den diffusen Begriff „Sicherheit“ gelegt werden. Als Analyse- bzw. Bezugseinheit dient dabei der urbane Raum innerhalb der Bundesrepublik Deutschland.
Die aktuelle öffentliche Diskussion bzgl. des Terminus „innere Sicherheit“ und ihrer Bedeutung in Verbindung mit der Legitimität etlicher Maßnahmen soll dabei inhaltlich nur am Rande betrachtet werden. Als Substrat aus dem öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs werden die Begriffe der „Kriminalitätsfurcht“ bzw. der „öffentlichen Un-Ordnung“ näher ins Zentrum der Betrachtung gerückt - das subjektive Sicherheitsempfinden der Bürger als zentrales Bedürfnis und somit ebenso zentrale Aufgabe kommunaler Politik.
„Innere Sicherheit“ in den Kommunen ist dabei mehr als die Abwesenheit von Kriminalität. Die Ausdifferenzierung dieses eigenen Sicherheitsraums wirft zwei Grundprobleme auf:
a) Der schon erwähnte Sachverhalt, dass Sicherheit des Einzelnen mehr ist, als der Schutz vor kriminellen und somit strafrechtlich behandelbaren Übergriffen
b) Die Konzentration auf größere Bezugsräume - Land und Bund auf der einen und Private auf der anderen Seite
Der pure Kriminalitätsbezug verengt dabei Reaktionsspielräume bzgl. der komplexen Entwicklung von Sicherheitsbedürfnissen und den daraus resultierenden Anforderungen an Polizei- und Ordnungsbehörden. Der Grundsatz Prävention vor Repression[1] und der Grundsatz der Subsidiarität spannen ein sich stetig wandelndes Feld auf, um vor allem ortsbezogene Sicherheitsvorsorge adäquat und flexibel zu gewährleisten. Bürgerbefragungen haben ergeben, dass die Angst vor „klassischen Straftaten“ kleiner ist, als die Abneigung gegenüber „sichtbaren
Zeichen“ abweichenden Verhaltens - wie Verwahrlosung, Lärm, Belästigung, Bettelei, Graffiti, Unsauberkeit etc.[2] Diese stellen allein noch kein kriminalisierendes Verhalten dar und sind somit durch gesetzlich normierte Wertvorstellungen nicht handhabbar. Die Sicherheit in einer Stadt bestimmt wesentlich die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger.[3]
Wie kann diesen sich wandelnden Sicherheitsbedürfnissen gegenüber reagiert werden? Wie lässt sich die Bedürfnisanalyse, also das Verorten von akzeptablen und nichtakzeptablen Verhalten innerhalb der kommunalen Gemeinschaft, bewerkstelligen und welche Möglichkeiten bzw. Handlungsalternativen lassen sich aus der staatsrechtlichen Praxis ableiten?
Hier kristallisiert sich vor allem der Begriff der öffentlichen Ordnung i.V.m. dem Begriff der öffentlichen Sicherheit heraus - beide sowohl in den Polizeigesetzen der meisten Ländern aber auch im Grundgesetz verankert und für die thematische Betrachtung äußerst fruchtbar.
Der oben beschriebene Sachverhalt soll dabei als thematisches Gerüst dienen, an denen sich polizei- und ordnungsrechtliche Begriffsbestimmungen und innerstädtische Problemstellungen im Bezug auf „unakzeptables“ Verhalten in der Öffentlichkeit abarbeiten. Rechtliche Grundlage bietet dabei das Polizei- und Ordnungsrecht, in kleinen Teilen das Straßenrecht sowie die verfassungsmäßige Grundordnung der BRD. Im Ergebnis sollen Aussagen über den heutigen Stellenwert der „öffentliche Ordnung“ in der verfassungs- und staatsrechtlichen Praxis herausgearbeitet werden und die Möglichkeiten durchleuchtet werden, das subjektive Sicherheitsgefühl der Bürger v.a. in den Innenstädten zu verbessern.
II. Die Schutzgüter öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung
1. Die Polizei- und ordnungsbehördlichen Generalklauseln
Die klassische Formulierung der polizeilichen Generalklausel findet sich in § 14 I PreußPVB von 1931, in der bestimmt ist:
„Die Polizeibehörden haben im Rahmen der geltenden Gesetze die nach pflichtgemäßen Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen, um von der Allgemeinheit oder dem einzelnen Gefahren abzuwenden, durch die die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bedroht wird.“
In ihrem Kerninhalt bietet diese Normierung nach wie vor den Ausgangspunkt auch für heutige Polizei- und Ordnungsgesetze. In einigen Gesetzen ist jedoch eine Differenzierung zwischen Aufgabenbereich der Polizei und den jeweiligen Generalermächtigungen bzgl. polizeirechtlicher Maßnahmen zu finden.[4] Eine Ermächtigung zum Einschreiten liegt also da vor, wo für die öffentliche Sicherheit oder öffentliche Ordnung eine Gefahr besteht oder bereits eine Störung eingetreten ist. Im Folgenden wird vor allem auf die unbestimmten Rechtsbegriffe der öffentlichen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung einzugehen sein.
2. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit
Der unbestimmte Rechtsbegriff der öffentlichen Sicherheit stellt ein Schutzgut dar, welches sich in den polizei- und ordnungsbehördlichen Generalklauseln verwirklicht sieht und im Kern sowohl Individual- wie Gemeinschaftsrechtsgüter schützt. Dazu zählen die unverletzlichkeit der Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des einzelnen sowie des Bestandes der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt.[5] Der Schutz von Individualrechtsgütern durch die Polizei- und Ordnungsbehörden hat sich am Subsidiaritätsprinzip zu orientieren, wonach ein Einschreiten nur gerechtfertig ist, wenn von ordentlichen Gerichten im Einzelfall kein wirksamer Schutz zu gewährleisten ist und die polizeiliche Hilfe dem Willen des Rechtsinhabers entspricht.[6] Die Nichtrespektierung öffentlich-rechtlicher Normen lässt den Subsidiaritätsgrundsatz augenblicklich irrelevant werden. Weiterhin wird das
Eingreifen bei Verletzungen von Individualrechtsgütern dahingehend beschränkt, dass ein öffentliches Interesse am Schutz eben jener Rechtsgüter bestehen muss. Dieses öffentliche Interesse ist immer dann gegeben, wenn die Individualrechtsgüter einer unbestimmten Vielzahl von Personen bedroht werden oder wenn eine Bedrohung unabhängig von der Individualität des Einzelnen, quasi als Repräsentant der Allgemeinheit, vorliegt.[7]
Bezüglich der Gemeinschaftsrechtsgüter steht primär der Schutz der gesamten Rechtsordnung im Fokus der Generalklausel. Dieser Sachverhalt erlangt seine besondere Relevanz aus der Tatsache heraus, dass heute fast jeder Lebensbereich positiv-rechtlich normiert ist. Die Zentrale Aufgabe der Polizei- und Ordnungsbehörden im Sinne des Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit stellt also der Schutz öffentlich-rechtlicher Normen dar. Dies zu gewährleisten bildet die Grundlage für den Bestand und die Funktionsfähigkeit aller staatlichen Einrichtungen.[8]
Zur Abgrenzung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit gegenüber dem Schutzgut der öffentlichen Ordnung soll an dieser Stelle auf weitere Ausführungen verzichtet werden.[9]
3. Das Schutzgut der öffentlichen Ordnung
a) Die Entwicklung des Schutzgutes der öffentlichen Ordnung
Getreu dem Zitat von Otto Mayer „Verfassungsrecht vergeht, Verwaltungsrecht besteht“ kann der Begriff der öffentlichen Ordnung auf eine lange Tradition zurückblicken. Seine erstmalige Erwähnung findet er 1794 im PrALR, §10 Teil II Titel 17 PrALR:
“Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben, bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Polizey.“
Seither wird er inhaltlich vor allem bestimmt durch §14 PrPVG vom 01.06.1931[10].
b) Der Inhalt des Begriffs öffentliche Ordnung
Neben dem der öffentlichen Sicherheit erfassen heute alle Länder mit Ausnahme Bremens, Niedersachsens, dem Saarland und Schleswig Holstein auch die öffentliche Ordnung als relevantes Schutzgut in ihren Polizei- und Ordnungsgesetzen.[11] Demnach steht die öffentliche Ordnung für „den Inbegriff der Normen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinanderleben der innerhalb eines Polizeibezirks lebenden Menschen angesehen wird.“[12]
Bei den jeweiligen Normen handelt es sich ausdrücklich nicht um positiv-rechtliche Wertvorstellungen, selbige währen werden durch das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit im Bezug auf die gesamte Rechtsordnung erfasst, sondern vielmehr um Sozialnormen. Gesinnungen, Anschauungen, Gedanken etc., welche in die Privatsphäre fallen (forum internum), werden dabei nicht erfasst, solange sie nicht geäußert (forum externum) und somit Teil der Öffentlichkeit werden. In eben jenen Sozialnormen, solche der Sitte und Moral, finden die Wertvorstellungen einer Gemeinschaft, zumindest der sie repräsentierenden Mehrheit, ihren Niederschlag.[13] Es ergeben sich jedoch keine Berechtigungen und Verpflichtungen der Bürger untereinander, die Sanktionsentscheidung liegt bei den Polizei- und Ordnungsbehörden.[14]
c) tradiertes vs. „modernes“ Begriffsverständnis
Wovon hängen nun aber dieses Sozialnormen ab, an denen sich die jeweilige Behörde zu orientieren hat und auf dessen Basis sie ihr Handeln begründet? Wie kann man sie ermitteln? Wer darf sie ermitteln? Welche Kontinuität kann ihnen unterstellt werden?
Der Tatsache geschuldet, dass der Begriff der öffentlichen Ordnung ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, sind die Interpretationsmöglichkeiten bzgl. seines
Geltungs- und Inhaltsraumes vielfältig. In der Literatur lassen sich zwei Kernansichten ausmachen - das tradierte und ursprüngliche Verständnis der öffentlichen Ordnung und die Vorstellung wonach die entsprechenden Wertmaßstäbe direkt aus dem Grundgesetz hervorgehen (modernes Verständnis).[15] Nach dem tradierten Verständnis ist die entsprechende Sozialnorm ein Spiegelbild der mehrheitlichen Auffassung der jeweiligen Bevölkerung in einem bestimmten (Polizei)bezirk, zu einer bestimmten Zeit. Diffuse Begriffe wie „Zeitgeist“ oder „soziales Milieu“ beeinflussen die jeweilige Normbildung zwar nur sekundär, sind jedoch nicht zu vernachlässigen. Die entsprechende Wertvorstellung muss dabei für das menschliche Zusammenleben unerlässlich sein und muss sich an der Verfassung und der gesamten Rechtsordnung zwar messen lassen, in ihr jedoch nicht ausdrücklich normiert sein.[16] Verfassungsrechtliche Einschränkungen der jeweiligen Eingriffstatbestände ergeben sich primär im Bezug auf die „überstimmte“ Minderheit. Maßgebliche Wertvorstellungen dürfen dabei nicht von den Gefahrenabwehrbehörden gebildet werden, sie müssen empirisch feststellbar sein und entziehen sich somit zwingend dem zumindest theoretisch möglichen normativen Handeln der Polizei- und Ordnungsbehörden.[17]
In der Literatur und der jüngeren Rechtssprechung ist ein gewisser Wandel bzgl. des Begriffs der öffentlichen Ordnung auszumachen. Dabei löst das Grundgesetz als vermeintliches Fundament jeglicher Wertvorstellungen die Mehrheitsauffassungen ab und die klassische Begriffsdefinition erlangt einen sofortigen und unmittelbaren Bezug auf die Verfassung. Verstöße gegen das Schutzgut der öffentlichen Ordnung sind demnach in allen Bestrebungen zu sehen, die die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik, ihr Ansehen im Ausland und das friedliche Zusammenleben der Bevölkerung gefährden. Die bis dato relevante Mehrheitsauffassung wird gleichgesetzt mit „werteethischen Prinzipien, über deren Verbindlichkeit die Rechtsgemeinschaft im Verfassungskonsens befunden hat“.[18]
[...]
[1] Vgl. dazu insb. BVerfG, BVerfGE 30, S. 336 ff. (S. 350); 39, S. 1 ff. (S. 44).
[2] Witte, Gertrud; „Lebensqualität durch Sicherheit und Sauberkeit in der Stadt“, der städtetag 11/2002, S. 6 ff.
[3] ebd.
[4] Schenke, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht S. 204f.
[5] Legaldefinition nach § 3 Nr. SOG LSA, weiterhin § 54 Nr. 1 ThürOBG; § 2 Nr.2 BremPolG
[6] Schenke, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht S. 206, Rdnr. 31
[7] Otterbach, „Zero-Tolerance“ Politik und das deutsche Polizei- und Ordnungsrecht, S. 18 ;Gusy, Polizeirecht, S. 47, v.a. Rdnr. 84
[8] Schenke, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht S. 208, Rdnr. 34; Gusy, Polizeirecht, S. 46ff, v.a. Rdnr. 82/83;
[9] weiterführend: Schenke, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht S. 209f.; Gusy, Polizeirecht, S. 47-54; Götz, Allgemeines und Polizei- und Ordnungsrecht, S. 42ff.
[10] siehe Kapitel II Punkt 1
[11] s. § 1 I BremPolG; s. §§ 1 I, 2 Nr. 1 NdsGefAG; s. § 1 II SaarlPolG; s. § 162 I SchlHLVwG
[12] siehe auch die Legaldefinition in § 3 Nr. 2 SOG LSA, hier jedoch der Verzicht auf den Verweis des Polizeibezirks als räumliche Einheit. Betonung des Begriffs als „unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens“ nach PrOVG; „Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beobachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet wird.„
[13] Schenke, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht S. 211 Rdnr. 40
[14] Otterbach, „Zero-Tolerance“ Politik und das deutsche Polizei- und Ordnungsrecht, S. 23
[15] Gusy, Polizeirecht, S. 56, Rdnr. 99; Otterbach, „Zero-Tolerance“ Politik und das deutsche Polizei- und Ordnungsrecht, S. 26f.
[16] hier greift das noch später folgende Argument, wonach in diesem Moment die öffentliche Sicherheit als Schutzgut in Betracht gezogen wird
[17] ebd.; Schenke, in: Steiner, Besonderes Verwaltungsrecht S. 212 Rdnr. 42f
[18] BVerwGE 64, S. 274ff, hier S. 276f