Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Frühe Formen der Dance Hall
3 Die Transformation der Dance Hall
4 Das Sound System
5 Sound System Clashes
6 Slackness, Homophobie und Murder Music
7 Fazit
Bibliografie
1 Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich im Folgenden mit der Entwicklung und
Ausprägung der Sound System Culture innerhalb der jamaikanischen Musikkultur. Dabei werden vor allem die Dance Hall und das Sound System mit ihren soziokul- turellen Hintergründen und Einflüssen betrachtet, die eine besondere Rolle spie- len. Die Verbindung von Klang und Gewalt, die sich in dieser Kultur in vielen Varia- tionen präsentiert, ist ebenfalls ein Thema. Insbesondere wird auf die Versuche eingegangen Gewalt und Ungerechtigkeit mittels Sound zu kompensieren und aufgezeigt, ob und wenn ja wie sich die Problematik auf diesem Wege lösen lässt.
Da jede Kultur mit ihren Riten und Verhaltensweisen sehr komplex ist, kann leider nicht jeder Aspekt berücksichtigt werden. Es wird jedoch versucht.
Um Verwirrungen, die während der Recherche zu dieser Arbeit wiederholt auf- tauchten, vorzubeugen wird in dieser Arbeit als Ort für musikalische Aufführungen das Wort Dance Hall gebraucht, während für das entsprechende Reggae Subgen- re die Version Dancehall benutzt wird. Von den zwei Begriffen Sound System und Soundsystem, deren Bedeutung die selbe ist, wird nur der erste verwendet.
2 Frühe Formen der Dance Hall
Wie überall in der Welt gibt es auch auf Jamaika schon immer Orte, an denen Musik aufgeführt und zelebriert wird. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts werden diese Orte als Dance Hall bezeichnet, die sich in Abhängigkeit von der jeweiligen sozialen Schicht grob in Kategorien von verschiedene Gesellschaftsklassen unterteilen lässt, von denen sie genutzt werden.
In den Städten residieren die Eliten vornehmlich in Clubs und Theatern um sich musikalische Aufführungen anzuhören und dazu zu tanzen, während die Mittel- schicht offen zugängliche Plätze der Stadt, wie beispielsweise den Marktplatz, da- zu zweckentfremdet. Die Unterklasse hingegen nutzt für solche Veranstaltungen eigens dafür errichtete Hütten aus Bambus und Kokosnuss-Palmen,1 die zweifels- ohne die Armut dieser Schicht widerspiegeln. Der gesellschaftliche Klassenunter- schied wirkt sich allerdings nicht nur auf die Beschaffenheit der unterschiedlichen Dance Halls aus, sondern auch auf die dort gespielte Musik. In den von der Arbei- terklasse genutzen, sogenannten Lower Dance Halls, wird Musik mit eher gesell- schaftskritischen Texten aufgeführt. Eine Form dieser Musik ist der Mento Country Dance, die erste jamaikanisch folkloristische Popmusik, die Ende der 30er Jahre entsteht und ein Vorläufer des heutigen Dancehall ist.2 Die Eliteschicht hört in ih- ren Dance Halls hingegen reine Unterhaltungs- und Tanzmusik wie Jazz und
Swing.
Für die weitere Entwicklung der Dance Hall sind die Umstände im sozialen Be- reich der jamaikanischen Bevölkerung ausschlaggebend, die sich seit den 30er Jahren aufgrund der stark schwankenden Wirtschaftslage verändern. In diesem Jahrzehnt nähert sich Jamaika aufgrund der zunehmenden Verarmung der Unter- klasse einem Bürgerkrieg. In den Städten wachsen neben der Armut auch die Slums.
Durch die englische Bauweise der Stadt Kingston ist von Natur aus wenig Platz für öffentliche Räume und damit für Feierlichkeiten.3 Durch das starke Wachstum der Städte in der Zeit von 1921 - 1943, in denen sich alleine in Kingston die Zahl der Einwohner von 63 700 auf 110 100 erhöht4 und sich auch die Slums vergrößern, dezimiert sich der ohnehin geringe öffentlich nutzbare Raum. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass die Dance Hall in den 40er Jahren durch die umherziehenden Sound Systems transformiert wird.
3 Die Transformation der Dance Hall
Für den Wiederaufbau von London nach dem zweiten Weltkrieg, werden als Quel- le für billige Arbeitskräfte die damaligen Kolonien herangezogen, darunter auch Jamaika. Unter den Auswanderen befinden sich auch zahlreiche Musiker, was zur Folge hat, dass viele der auf Jamaika ansässigen Bands nicht mehr fortbestehen können.5 Aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit an Live-Musik wird bald nach anderen Alternativen gesucht. Von nun an ist eine Dance Hall jeder Ort, an dem ein Sound System aufgebaut wird. Anhand der für die Sessions6 ausgesuchten Locations wird sowohl der nomadische Charakter, als auch die Transformation der Dance Hall durch die Sound Systems deutlich. Damals wie heute kann jeder Stra- ßenzug oder Kreuzung, jeder Laden oder Hinterhof als Ausgangsort für den Auf- bau eines Sound Systems dienen. Allerdings haben sich immer wieder zahlreiche Orte als besonders geeignete Plätze dafür herauskristallisiert, deren Nennung und Beleuchtung des geschichtlichen Hintergrunds jedoch zu weit führen würde.
4 Das Sound System
Sound Systems sind eine mobile Einheit einer großen PA. Ihr Aufkommen datiert sich auf die 40er Jahre in Kingston, Jamaika zurück, als die ersten Soundmen in der Stadt ihre Sessions veranstalten. Zu dieser Zeit sind es bloß Plattenspieler mit einem Lautsprecher als Erweiterung oder Boxen, die mit kleinen Verstärkern be- trieben werden. In den 50er Jahren entstehen dann die ersten großen Ausführun- gen, die auch Big Rig und Houses of Joy genannt werden.7 Um diese Ausführun- gen zu transportieren, benötigt es schon einen oder mehrere Lastwagen. Zu ei- nem Sound System gehört nicht nur die Technik seiner PA, sondern ebenso seine Repräsentanten, der Soundman als der Betreiber eines Sound Systems und der Selector, der für die Musikauswahl zuständig ist. Meistens ist der Selector auch der Mixer, der die Platten auflegt und mixt. Ebenso wichtig ist der DJ, oder auch Deejay, der anders als ein Disc Jockey, über die vom Selector gespielten Riddims8 singt und toasted. 9
In ihrem Klang unterscheiden sich die Sound Systems maßgeblich von den PAs in Diskotheken, in denen andere Musik gespielt wird, und kann als durchgängig un- terschiedlich bezeichnet werden, da jedes Sound System individuell zusammen- gestellt und konfiguriert ist. Der Fokus eines Sound Systems liegt hauptsächlich in der größtmöglichen Reproduktion von Bassfrequenzen, weshalb diese besonders betont werden. Es geht darum den Sound zu spüren und zu erfahren, in ihn einzu- tauchen. Um dies zu gewährleisten liegt die Kraft eines richtigen Sound Systems bei etwa 20 000 Watt. Nach Henriques beginnt hier ein Phänomen, das er Sonic Dominance nennt und nach dem durch die immense Einwirkung von Schall auf einen Organismus ein Individuum in einen Zustand gerät, in dem maßgeblich das Hören als Sinn fungiert. Die Hierarchie zwischen Seh- und Hörsinn wird geglättet, sie werden gleichwertig.10 Laut Goodman ist das sich freiwillige Aussetzen von solchen durch Schall vibrierenden Umgebungen der innewohnende Masochismus der Sound System Kultur. Individuen setzen sich fast zerstörerischen akustischen Kräften aus, um aktivierte Angst bewusst umzuwandeln und zu genießen.11 Es ist wie einst Bob Marley sang:
„One good thing about music, when it hits you feel no pain. So hit me with music, hit me with music. Hit me with music, hit me with music now.“12
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1 Stolzoff, Norman C.: Wake The Town And Tell The People - Dancehall Culture In Jamaica, Duke University Press, Durham & London 2000, S. 24
2 Stolzoff, Norman C.: Wake The Town And Tell The People - Dancehall Culture In Jamaica, Duke University Press, Durham & London 2000, S. 23 - 24
3 Niaah, Sonjah Stanley: Dancehall - From Slave Ship to Ghetto, University of Ottawa Press, Ottawa 2010, S. 53
4 Post, Ken: Arise Ye Starvelings. the Jamaican Labour Rebellion of 1938 and its Aftermath, Marinus Nijhof, Den Haag 1978
5 Stolzoff, Norman C.: Wake The Town And Tell The People - Dancehall Culture In Jamaica, Duke University Press, Durham & London 2000, S. 41
6 In diesem Kontext eine Sound System Veranstaltung
7 Bradley, Lloyd: Bass Culture - Der Siegeszug des Reggae, Hannibal, Höfen 2003, S. 26
8 Ein Riddim ist eine Instrumentalversion eines Musikstücks.
9 Das Toasten ist eine Form der Interaktion zwischen DJ und Publikum, durch die Informationen zu den jeweiligen Stücken und das Sound System und seine nächsten Veranstaltungen übermittelt werden. Vornehmlich dient das Toasting dazu das Publikum anzuheizen.
10 Henriques, Julian F.: Sonic Dominance and the Reggae Sound System Session, In: M. Bull and Les Back, eds. The Auditory Cultural Reader, Oxford: Berg, 2003, S. 451 - 480
11 Goodman, Steve: Sonic Warfare - Sound, Affect and the Ecology of Fear, The MIT Press, London 2010, S. 27 - 29
12 Marley, Bob: Trenchtown Rock