Die Vermischung von Dokumentar- und Spielfilm am Beispiel des Films „Der Baader-Meinhof-Komplex“


Bachelorarbeit, 2009

53 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Fiktionalisierung des Dokumentarischen - Dokumentarisierung der Fiktion
2.1 Definitions- und Abgrenzungsproblematik
2.1 Wirklichkeit und Wahrheit im Film
2.2 Exkurs zur Geschichte des neuen Dokumentarfilms: Eine neue Ehrlichkeit - Mut zur Subjektivität
2.3 Die Droge Wirklichkeit - Das Erfolgskonzept der Chimären

3 Geschichte im Film
3.1 Vergangenheit als Kassenschlager
3.2 Die fiktionale Auseinandersetzung mit (schmerzlichen) historischen Themen

4 Der „Baader-Meinhof-Komplex“ - Lehrstück oder reine Unterhaltung?
4.1 Die besondere Schwierigkeit des Stoffes
4.2 Künstlerische Freiheit vs. Persönlichkeitsrecht - Rechtliche Rahmenbedingungen und praktische Grenzen
4.3 Wie nah kommen Eichinger und Edel wirklich an die Wirklichkeit?
4.4 Kritik und Rechtfertigung
4.5 Fazit zum Film

5 Schlussbetrachtung
5.1 Gefahren bei der Fiktionalisierung
5.2 Das Spiel mit der Wirklichkeit - Dokumentarische Verantwortung
5.3 Chancen der unterhaltenden Information
5.4 Fazit

Literatur

Anhang (Abbildungen)

„Damit

das banalste Ereignis zum Abenteuer wird, ist es nötig und genügt es, dass man sich daran macht, es zu erzählen. Das ist es, worauf die Leute hereinfallen: Ein Mensch ist immer ein Geschichtenerzähler, er lebt umgeben von seinen Geschichten und den Geschichten anderer, er sieht alles, was ihm wiederfährt, durch sie hindurch, und er versucht sein Leben so zu leben, als ob er es erzählte.“ ( Sartre 1905-1980)

1 Einleitung

„This blurring of boundaries between documentary, docudrama, and news is one of the most interesting and possibly frightening phenomenon to appear on television^...]” (Rosenthal,1999)

Spielfilme erzählen Geschichten, Dokumentarfilme zeigen die Wirklichkeit. Wie viel Wahres steckt (noch) in dieser Unterscheidung und wie sinnvoll und zulässig ist eine solche Grenzziehung überhaupt (noch)?

Filme die, wie Der Baader-Meinhof-Komplex[1], vorgeben auf „wahren Begebenheiten“ zu beruhen, (vgl. Kap.3.2 Der „Baader-Meinhof-Komplex“) mussten sich schon immer der Frage nach ihrer Wirklichkeitsnähe stellen, stehen grundsätzlich unter dem Druck der Authentizitätserwartung des Publikums. Während eben dieses früher hauptsächlich ins Kino ging, um der realen Welt zu entfliehen, scheint seit einigen Jahren der Hunger nach Wirklichkeit auf der Leinwand oder dem Fernsehbildschirm immer größer geworden zu sein (vgl. Kap.2.3: Die Droge Wirklichkeit - Das Erfolgskonzept der Chimären).

Doch wird dieser angebliche „Boom“ von Filmen getragen, die das ursprüngliche Ideal des Dokumentarischen, nämlich nichts als die Wirklichkeit abzubilden, verfehlen: Auf etlichen Fernsehsendern geistern Vertreter dieser Gattung - wenn es denn (noch) eine ist - unter verschiedenen Labeln umher: „Doku-Drama“, „Fake-Doku“, „Doku-Soap“, Essayistischer (historischer) Film, dokumentarische Filmerzählung. Die Liste der Begriffe mit denen das Vordringen des Fiktionalen in die dokumentarischen Genres beschrieben wird, ist lang. Und offenbar haben sie einen Zugang zum Massenpublikum gefunden, der dem Dokumentarfilm immer verwehrt war. Ein Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, zu untersuchen, was diese Mischformen so erfolgreich macht. (Kap.2.3: Die Droge Wirklichkeit - Das Erfolgskonzept der Chimären)

Die These, die diese Arbeit untersucht, ist dass die Unterscheidung in „fiktionale“ und „non-fiktionale“ Arbeiten nicht nur zunehmend irrelevant ist, sondern auch nicht notwendig, da Mischformen wie der dokumentarische Spielfilm dem Zuschauer genauso viel Authentizität liefern können, wie das pure Dokumentarische.

Grenzüberschreitungen hat es zwar schon vorher gegeben - berühmtes Beispiel ist Orson Wells Hörspiel „War of Worlds“[2] - „Aber jetzt gehe es richtig los, heißt es, jetzt werden im Zuge der Annäherung und Überschneidung von Film-, Fernseh- und Videoästhetik die Genredefinitionen flächendeckend infrage gestellt.“ (Ordolff, 2005, S. 276).

Hybridbegriffe, wie „Docudrama“ - auf den ersten Blick in sich widersprüchlich - vereinen den Wunsch nach der Abbildung der reinen Wirklichkeit mit der Einsicht, dies nie erreichen zu können (vgl.Kap.2.1: Wahrheit und Wirklichkeit im Film) und mit dem Bedürfnis des Publikums nach Unmittelbarkeit und Erlebbarkeit. Damit stehen diese Mischformen im Spannungsfeld zwischen der Unterhaltungserwartung der Zuschauer und dem Anspruch auf historische Authentizität, zwischen dramaturgischen Notwendigkeiten und geschichtswissenschaftlicher Verantwortung (vgl. Kap.3: Geschichte im Film).

Eine Frage, die sich bei der Betrachtung eines Spielfilms, wie dem Baader-Meinhof­Komplex, der historische Wahrheiten für sich beansprucht, aufdrängt, ist ob die fiktionale Aufbereitung realer Ereignisse, die Vermischung von authentisierenden und fiktionalisierenden Stilmerkmalen, ein Risiko für die Wahrnehmung der Zuschauer in sich birgt. Filmische Repräsentationen können stark auf gesellschaftliche Bilder und Vorstellungen über eine Zeit oder über bestimmte Personen und Gruppen wirken. Im zweiten Teil der Arbeit sollen deshalb die Gefahren und Chancen der filmischen Darstellung des Historischen, speziell der RAF-Geschichte im Vordergrund stehen.

2 Fiktionalisierung des Dokumentarischen - Dokumentarisierung der Fiktion

2.1 Definitions- und Abgrenzungsproblematik

„Statt nach klar definierbaren Grenzen ist (..) eher nach Mitteln zu fragen, die uns ein Genre als eher fiktional oder eher dokumentarisch erkennen lassen.“ (Ganz-Blättler, 2005)

Bereits mit dem Versuch der Begriffsklärung stößt man bei der Untersuchung der dokumentarischen Formen auf das Hauptproblem des Themas. Seit Anbeginn des Films streiten Filmtheoretiker, Dokumentarfilmer und historische Experten über eine genaue Begriffsbestimmung, welche die Arbeitsweise und somit die Qualitätsmerkmale des Dokumentarischen prägen.

Nicht nur unter Fachleuten besteht keine Einigkeit darüber was unter den Gattungsbezeichnungen zu verstehen ist, auch das Publikum ist vom Begriffswirrwarr zunehmend irritiert und nimmt die Genre-Begriffe eher als vage Hinweise auf einen bestimmten Typus wahr, der bestimmte Erwartungen weckt.

Alles was einen inszenierten Charakter hat, wird vor allem von Vertretern des puren Dokumentarismus, von oben herab betrachtet.

“Like many people interested in documentary I have tended to look down on dramadoc and docudrama (especially in its American incarnation), and Paget’s book[3] has forced me to reconsider some of my attitudes to the form.” (Hughes, 1999)

Die Bezeichnung „Doku“ wird hingegen oft schlicht als Qualitätsurteil für alles genutzt, was auch nur annähernd non-fiktionalen Charakter hat, um von dem assoziierten Authentizitätsversprechen zu profitieren.

„Vom Dokumentarfilm erwartet das Publikum einen eher anspruchsvolleren, gewichtigeren Angang [...] (doch) kommen in der Praxis Genres in Reinform kaum vor.“

(Wolf, 2003. Zit. In: Ordolff, 2005, S.261)

„The problem is that it carries too many assumptions and, I think, too many idealisations. [.] as a teacher of work on documentary for 25 years or so I still cannot hear the word without responding positively.” (Corner, 2002)

Der hier zitierte britische Medientheoretiker John Corner ist sogar der Meinung, dass die Unterscheidung von „Dokumentarfilm“ und „Spielfilm“ eine historisch gewachsene, aber deswegen noch keine grundsätzliche sei (vgl. Ganz-Blättler, 2005).

Dennoch gibt es Versuche, die verschiedenen Ansätze durch entsprechende Betitelungen zu unterscheiden. Eine Definition von Spielfilmen ist schwierig. Im Internet findet man z.B. „Gattungsbezeichnung für narrative, in der Regel abendfüllende Filme, die auf der Grundlage eines Drehbuchs eine Spielhandlung durch Schauspieler gestalten.“ (vgl. lexikon.meyers.de).

Historische Spielfilme sind Filme, deren Handlung in früheren Zeiten spielen, die Geschichten, die um den historischen Kontext herumgeschrieben wurden, sind jedoch meist der puren Phantasie des Autors entsprungen. Das Charakteristische der filmischen Fiktion besteht darin, dass versucht wird historische Themen mit filmästhetischen Mitteln, mit inszenierten und dramatisierten Personen zu gestalten, um Identifikationsmöglichkeiten für den Betrachter zu schaffen.

Gerade bei Spielfilmen ist die Gefahr der Manipulation sehr groß, der Regisseur möchte eine bestimmte Haltung beim Zuschauer wecken. Dazu setzt er Musik und Bilder zu einem passenden Gesamtbild zusammen. Zu historischen Spielfilmen gehören unter anderen der historische Abenteuerfilm, der historische Ausstattungsfilm, die didaktische Rekonstruktion, die Klassikerverfilmung, der Legendenfilm, der Vergangenheitsbewältigungsfilm, der Gegenwartsbewältigungsfilm, der Propagandafilm und der Nostalgiefilm.

Bei historischen Spielfilmen steht der fiktionale Charakter im Vordergrund. Es sollen weniger historische Abläufe und Personen exakt und objektiv geschildert werden, sondern es soll eine andere Form historischer Wahrheit vermittelt werden, die mit der Geschichtsdeutung des Films zusammenhängt (vgl. uni-gießen.de).

Dokumentarische Spielfilme hingegen, zu denen Der Baader-Meinhof-Komplex am ehesten zugeordnet werden kann, erheben den Anspruch, durch Faktentreue Ereignisse historisch genau darzustellen. Allerdings werden sie nicht als eigene Gattung gesehen. Hier stehen die historischen Ereignisse im Vordergrund und nicht eine Geschichte, die vor einem historischen Hintergrund erzählt wird. Dokumentarisch, also so wirklichkeitsnah wie möglich, sollen Geschehnisse in der Vergangenheit visualisiert werden. Weil dies oft aufgrund fehlenden Bildmaterials nicht möglich ist, wird auf inszenierte, gespielte Szenen zurückgegriffen. Die Personen, Orte und Zeiträume jedoch beruhen auf überlieferten Begebenheiten.

Ein Problem der Genreabgrenzung liegt in der Zusammensetzung von Begriffen mit widersprüchlichen Ansprüchen, wie das Beispiel des klassischen Dokumentarfilms zeigt: Ein Dokument ist eine Urkunde, ein Beweisstück. Ein Film hingegen ist ein von Menschen produziertes - und von daher von Empfindungen, Intentionen und Vorlieben geprägtes - künstliches Konstrukt, ein technisch ästhetisches Medium, welches im besten Fall ausgewählte Ausschnitte der Wirklichkeit zeigen kann (vgl. Kap.2.2: Wahrheit und Wirklichkeit im Film). Zwischen beiden Begriffen besteht also ein Spannungsverhältnis, da sie in gegensätzliche Richtungen tendieren.

Schon die Pioniere des Dokumentarfilms, wie der Brite John Grierson[4] sahen ihre Arbeit als einen „künstlerischen Umgang mit der Wirklichkeit“[5] (Ordolff, 2005, S.265). Auch bekannte Dokumentarfilmer wie Lev Kulesov, Vsevolod Pudovkin oder Dziga Vertov begriffen ihr Metier selbstverständlich als Kunstform, bei der „wie in einem Satz Wort für Wort hier Bild für Bild zu einer Aussage verknüpft werden“ (Schattenberg, 2003). Demnach ist der Dokumentarfilm also, anders als seine Bezeichnung vermuten ließe, eher ein künstlerisches als ein urkundliches Produkt. Der Dokumentarist kann, soll und muss sogar gestalterisch arbeiten und nicht nur die Realität abfilmen wie eine Überwachungskamera.

Einen eindeutigen Maßstab für den Realitätsgehalt einer Abbildung wird es nicht geben, vielleicht aber die Möglichkeit einer kritischen Betrachtung der eingesetzten Stilmittel, welche die Bilder mehr oder weniger realistisch erscheinen lassen, also einen Rahmen, der eine Darstellung als „eher authentisch“ oder „eher fiktional“ erkennen lässt (vgl. Ganz-Blättler, 2005). Mit Handkamera gedrehte Szenen und bestimmte Perspektiven, etwa in der Hand eines rennenden Menschen oder mitten in einer Menschenmenge, können den Zuschauer direkt ins Geschehen transportieren.

Die Bezeichnungen fiktional bzw. non-fiktional zielen folglich auf die verwendeten Gestaltungsmittel ab. John Corner schlägt vor, dass man für die Medien Kino und Fernsehen den Begriff des „Dokumentarischen“ vorzugsweise adjektivisch verwenden sollte und nicht als Substantiv (vgl. Corner, 2002). Es sei sinnvoller nach der dokumentarischen Absicht eines bestimmten Filmprojektes zu fragen ( „Is this film a documentary project“) als nach einem von außen zugeschriebenen Genre-Begriff („Is this film a documentary“).“ (Ganz-Blättler, 2005)

2.2 Wirklichkeit und Wahrheit im Film

„Es ist eine Binsenweisheit, dass schon die Auswahl der Fakten ein historisches Urteil impliziert, eine wertende Aussage über die Bedeutsamkeit des Erzählten und der Irrelevanz des Verschwiegenen. “ (Terhoeven, 2008)

Den philosophischen Überlegungen über die Begriffe Wahrheit und Wirklichkeit auf den Grund zu gehen, soll nicht Ziel dieses Kapitels sein. Wichtig ist hier nur die (Un)möglichkeit der filmischen Darstellung der Wirklichkeit.

„Kants Einsicht, dass unser Erkenntnisvermögen sich nicht unmittelbar auf Tatsachen beziehen kann, sondern nur mittels Konstruktionen die chaotische Mannigfaltigkeit der äußeren Natur in beobachtbare Tatsachen vorgeformt werden kann’ [...] hat die Vorstellung begleitet, dass der filmische Aufnahmeapparat ein Instrument sein könnte, das einer nicht subjektiven verzerrten Aufzeichnung von Tatsachen entgegen komme.“

(Koch, In: Hohenberger, Keilbach, 2003, S. 216)

Die Kamera könne demnach den Vorteil haben, von keiner subjektiven Regung erschüttert zu sein, sie könne „neutraler Beobachter“ und „externes Gedächtnis“ sein. Unterschätzt wird hier der Einfluss des Menschen, der die Kamera führt, das aufnimmt was ihm wichtig erscheint und das aufgenommene Rohmaterial nach seinen Vorstellungen gestaltet. Durch die Wahl des Ausschnitts, der Beleuchtung, des Schnitts, der Musik- und Geräuschuntermalung und des gesprochenen Textes wird das Ursprungsmaterial in einen neuen Kontext gestellt. Drei Dokumentarfilmer, die dieselben Bilder aufnehmen, können zu Filmen mit vollkommen unterschiedlicher Aussagen gelangen.

Die Diskussion, ob ein Filmemacher die Wirklichkeit abbilden oder eine eigene Welt erschaffen sollte, ist so alt wie das Kino selbst. Doch die strikte Trennung war bereits damals illusorisch, denn schon die bloße Anwesenheit einer Kamera ist nun mal ein Eingriff in die Wirklichkeit und ein Film kann nur Fragmente der Realität aufnehmen, sie ordnen und sie in eine narrative Struktur bringen. Ein Film kann ein Bild - und zwar nicht mehr und nicht weniger - vom Leben und Denken der Menschen des jeweiligen

Zeitabschnitts geben (vgl. Hohenberger, 2003a). Die große Frage ist, ob dies ausschließlich dokumentarische Bilder können und dürfen oder ob auch inszenierte Bilder dazu imstande sind.

Die Wahrheit mit Bildern zu vermitteln ist noch viel schwieriger.

„Wahrheit heißt, ein Gebiet zu durchsuchen, um etwas zu finden. Wenn man jedoch schon im Vorfeld weiß, wonach man sucht, ist das Manipulation. Vielleicht bedeutet Wahrheit, etwas zu finden, wonach man nicht sucht.“

(Lars von Trier[6], zit. In Hallberg/Wewerka, 2001)

Doch nicht nach etwas Bestimmten zu suchen würde bedeuten, keine Selektion zu betreiben und keine Kontrolle auszuüben, was praktisch unmöglich ist.

In jedem noch so objektiven Dokumentarfilm sind die Bilder nie unbearbeitete Wirklichkeit, sondern beinhalten immer bereits Intentionen, Tendenzen, Zuschnitte. Die Trennung von Wirklichkeit und Fiktion ist also in der Praxis nicht aufrecht zu erhalten. Aber wenn nicht mal der Dokumentarfilm für sich beanspruchen kann, die Wirklichkeit abbilden zu können, sondern nur eine künstlerische, persönliche Darstellung von etwas Wirklichem, wo sind dann noch die Grenzen zum Spielfilm zu ziehen?

2.3 Exkurs zur Geschichte des neuen Dokumentarfilms:

Eine neue Ehrlichkeit - Mut zur Subjektivität

„Ein Dokumentarfilm darf eine eigene Meinung haben, einen klaren Standpunkt. (Morgan Spurlock, zit. in: Beier, Harders, Wellershoff, Wolf, 2004)

Abgesehen davon, dass pure Objektivität von den meisten Filmemachern ohnehin als niemals erfüllbar gesehen wird, ist sie von vielen auch nicht mehr gewollt. Sie wollen die Welt nicht mehr bloß abbilden; sie wollen sie verändern: Wählt Bush ab, predigt Michael Moore in Fahrenheit 9/11[7], esst kein Fast Food, bläut Morgan Spurlock seinen о

Zuschauern in „Super Size Me“ ein . Möglicherweise ist auch dieser Wandel im Selbstverständnis der Filmemacher ein Grund, welcher „den Journalisten und den Dramaturgen zusammen brachte,[.. ,]der Gedanke, dass Fernsehen die Welt nicht nur reflektieren, sondern sie vielleicht ändern könnte.“[8] (Mc Bride, 1996, Zit. In: Rosenthal,1999, S.115)

Das war nicht immer so: Lange Zeit wurde jedes Eingreifen als Verfälschung der Realität verstanden, galten Inszenierungen unter Dokumentarfilmern als verpönt. Dabei gab es sie schon immer. Allein die mangelhafte Tontechnik und Kameras, die zu schwer waren, als dass man sie frei bewegen konnte, zwangen Filmemacher zu Arrangierungen und Wiederholungen von schwierigen Szenen. Trotzdem verband vor allem die Filmemacher der 60er Jahre ein Ziel: Die Wirklichkeit abzubilden, wie sie ist. Zwei Strömungen, die sich diesem Ansatz strikt verschrieben hatten, waren das „Direct Cinema“ in den USA und sein französisches Pendant, das „Cinéma Vérité“.[9] Doch während das „Direct Cinema“ vor allem ein Kino der Beobachter war, ein Versuch die Realität ungebrochen wiederzugeben, bezweifelten die Vertreter des „Cinéma Vérité“, dass durch das Abfilmen der Wirklichkeit tatsächlich auch Wahrheit übermittelt werden kann. Sie vermuteten, dass man die Wahrheit unter der Oberfläche nur durch Extremsituationen sichtbar machen kann (vgl. movie-college).

Um 1970 dann wollte in Deutschland eine neue Filmemacher-Generation aus Potsdam­Babelsberg das DEFA-Studio[10] mit ihren neuen Ideen bereichern. In Rückbesinnung auf den Neorealismus proklamierten sie den Stil des „dokumentarischen Spielfilms“[11]. Sie wollten Geschichten aus dem Alltag erzählen, indem sie fiktionale mit dokumentarischen Elementen vermischten (vgl. filmportal.de).

Neuere Dokumentarfilme, wie die von Michael Moore und Morgan Spurlock hingegen bleiben größtenteils bei der Herangehensweise des klassischen Dokumentarfilms, offenbaren aber ihre Subjektivität und wollen gerade dadurch mehr Glaubwürdigkeit erlangen, indem sie den Zuschauer auf ihre Präsenz aufmerksam machen. Stella Bruzzi erklärt diesen Sinnenswandel in ihrem Buch „New Documentary“ mit der

„wachsenden Unzufriedenheit über die klassische beobachtende Transparenz und Passivität, der Abwesenheit einer Autorenstimme und über die Enthaltung irgendeines sichtbaren Mittels, die Anwesenheit des Filmemachers zu demonstrieren.“[12] ( Bruzzi, 2006, S.121)

Diese Filme versuchen die Entstehungsbedingungen des Films zu betonen, anstatt sie zu verschleiern und sind damit, wenn auch nicht wahrer, immerhin ein Stück weit ehrlicher.

2.4 Die Droge Wirklichkeit - Das Erfolgskonzept der Chimären

„Wie alle Fernsehzuschauer und Kinobesucher wissen, leben wir [,..]in einem Zeitalter, in dem es einen bemerkenswerten Hunger nach dokumentarischen Bildern der Wirklichkeit gibt“. (Williams, 2003)

Filmemacher und Kritiker sehen eine „Renaissance der großen Dokumentationen“ (Hachmeister, 2005. Zit. in: Ordolff, 2005, S.261 ). Allerdings muss man bei dieser angeblichen Sternstunde des Authentischen eines im Hinterkopf behalten, nämlich

„dass im Journalismus ja die Neigung besteht, schon aus wenigen Einzelbeobachtungen einen Trend zu konstruieren.“ („Immermehrismus“)

(Brosius/Breinker/Esser, 1991. Zit. In: Neuberger, Christoph).

Wenn man aber dem vielbeschworenen Boom der realen Geschichten Glauben schenkt

- und das fällt nicht schwer bei der Flut an Kino- und Fernsehfilmen, die sich in letzter Zeit, von „Der Untergang“ bis zur „Operation Walküre“, historischen Themen widmen

- stellt sich die Frage, warum die Resonanz bei den Zuschauern so groß ist. Woher kommt die Bereitschaft, sich in seiner Freizeit mit oftmals schmerzlichen, historisch komplexen Themen zu befassen, woher die Sehnsucht nach der „wahren Begebenheit“? Offenbar ist das Authentische besonders unterhaltsam. Es gibt viele Ansätze, diese Entwicklung zu erklären. Ein nahezu misanthropischer Ansatz ist der dem Menschen

scheinbar angeborene Hang zum Voyeurismus, das Ergötzen am Leid oder einfach nur am Alltagsleben anderer. Für viele in den vergangenen Jahren aufgetauchte Fernsehsendungen scheint das eine plausible Erklärung. Das Schlagwort, das seit einiger Zeit die Runde macht: „Reality-TV“. Den Anfang machte Big Brother (RTL2). Mittlerweile tummeln sich etliche Vertreter dieses Typs im Nachmittagsprogramm privater und auch öffentlich-rechtlicher Sender. „Die Super Nanny“ (RTL), „Das perfekte Dinner“ (VOX), die „Bräuteschule“ (ARD) oder der neue Quotenhit von RTL (bis zu acht Millionen Zuschauer): „Bauer sucht Frau“ - Sie alle bedienen eine große Nachfrage, das Bedürfnis, anonym am Leben anderer teilhaben zu können und sich im besten Fall danach besser, klüger, wertvoller zu fühlen als die Protagonisten.

Doch diese Erklärung kann nur für einen Teil der dokumentarischen Formen (und Zuschauer) herhalten. Wenn man etwa über das Erfolgskonzept von „Super Size Me“ nachdenkt, ist diese Begründung weniger einleuchtend. Man stelle sich hunderte übergewichtige US-Bürger vor, die im Kino-Sessel praktisch in einen Spiegel gucken, während sich der Regisseur und Autor des Films vor ihren Augen in sie verwandelt.

Ein Motiv könnte sein, dass viele Zuschauer dem Fernsehen nicht mehr trauen. Viele fühlen sich unzureichend und einseitig informiert. „Sie sind auf der Suche nach Wahrheit“ glaubt „Super Size Me“ Macher Spurlock - egal wie scheußlich sie sein mag. Wer umfassend informiert werden will, müsse ins Kino gehen - nach dem Motto:

Mach dir ein paar wahre Stunden.

Der Produzent Tony Eltz meint hingegen, „dass der Wert für den Zuschauer darin liege, zu sehen, dass es eine Erklärung für sehr furchteinflößende (unerklärliche) Dinge gibt.

Als Beispiel führt er seine Produktion „Deadly Medicine“ (1991) an, welche dem Zuschauer geholfen haben soll zu verstehen, warum eine Krankenschwester 32 Babys töten konnte (vgl. Rosenthal 1999).

Eine andere Theorie ist, dass das Blockbuster-Kino von „Matrix“ und „Herr der Ringe“- Trilogien bis zu „Shrek 2“ die Zuschauer an immer entferntere Orte entführt und ermüdet (vgl. Beier/ Harders/ Wellershoff/Wolf, 2004). Die Menschen aber wollen wissen, was wirklich ist:

„So wurde die Dokumentation „Deep Blue“ im Kielwasser des Computerfischfilms „Findet

Nemo“ ein Erfolg: Offenbar wollten viele Nemo-Fans wissen, wie es in den Tiefen des Ozeans tatsächlich aussieht.“ (Beier/ Harders/ Wellershoff/ Wolf, 2004)

Was besonders interessant ist, ist wie einige Filme mit dem Problem umgehen, wie traumatische historische Wahrheiten, wie der Holocaust oder der nationale Terrorismus im Deutschland der 70er Jahre, die sich auf den ersten Blick einer angemessenen Repräsentation entziehen, dennoch darstellbar sind. Und obwohl die Risiken und Schwierigkeiten für die Produzenten nicht unerheblich sind (vgl. Kap. 4.2: Künstlerische Freiheit vs. Persönlichkeitsrecht), ist die Begeisterung für das Genre der sogenannten Event-Filme derzeit gewaltig. Im Überdruss an Fiktion bietet nur noch das Echte wahren Thrill.

„Zuschauer wie Produzenten lechzen nach den echten, authentischen Geschichten: egal ob der Entführungsfall Natascha Kampusch, die Kellerkinder von Josef Fitzl oder Jörg Haiders Leben - früher oder später werden diese Stoffe wohl auf der Leinwand oder Mattscheide auftauchen und damit auch für juristischen Wirbel sorgen.“ (Müller, 2008)

3 Geschichte im Film

3.1 Vergangenheit als Kassenschlager

„Geschichte zerfällt in Bilder nicht in Geschichten.“ (Walter Benjamin in: White 1996)

„’Die Geschichte ereignet sich immer zweimal, beim zweiten Mal jedoch als Farce’, diesen Satz von Karl Marx muss man im medialen Zeitalter umformulieren: Geschichte ereignet sich immer zweimal, beim zweiten Mal jedoch als Film.“ (Ahrens, 2007). Lange schon gilt das Fernsehen als eine wichtige Wissensvermittlungsinstanz - auch für die Vermittlung von historischem Wissen.

Geschichtliche Themen waren schon immer beliebte Materie für Filmschaffende. Kaum ein überliefertes Ereignis, das nicht schon mal als Folie einer Dramaturgie herhalten musste (oder durfte). Der Reiz liegt in der Erschaffung einer vergangenen Welt vor den Augen des Zuschauers. Anders als der Buchdruck nämlich, der auch vom Image historischer Authentizität profitiert, hat der Film einen entscheidenden Vorteil: Er suggeriert Unmittelbarkeit, die Zeugenschaft des Publikums.

Im Gegensatz zur Geschichte [history] hat eine Geschichte [story] jedoch einen Anfang und ein Ende. Diese Eigenschaft verstärkt den Effekt, das Geschehen im Film als ein Gesamtbild einer Epoche aufzufassen. Die didaktische Literatur ist sich einig, dass kein Medium so viel Geschichte für einen so großen Zuschauerkreis aufbereitet hat wie der Film, und dass somit Filme unser Geschichtsbewusstsein und -wissen weitgehend prägen.

Film und Geschichtsschreibung haben einige Gemeinsamkeiten. Eine liegt darin, Vergangenheit zu vergegenwärtigen.

„Der Dokumentarfilm ist, ebenso wie die Geschichtsschreibung der Faktizität der Welt verpflichtet. Sie interessieren sich für [..] Ereignisse, die tatsächlich stattfinden oder stattgefunden haben, für deren Ursachen und Auswirkungen, ihren Ablauf oder die Erinnerungsspuren, die sie hinterlassen haben.“ (Hohenberger/ Keilbach, 2003, S.8)

Dennoch gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, nach welchem Geschichte [history] nur von zuständigen Experten zu schreiben ist. In Anbetracht des großen Interesses der Fernseh- und Filmemacher an historischen Themen allerdings wird deutlich, wie sehr dieses Dogma an Festigkeit verliert.

[...]


[1] Ein Film von Uli Edel und Bernd Eichinger (2008) nach dem gleichnamigen Buch von Stefan Aust

[2] Orson Wells im Radio übertragenes Hörspiel „Krieg der Welten“ ließ in den 30er Jahren viele Amerikaner glauben, die Welt werde von Marsianern angegriffen

[3] Derek Paget (1998): No other way to tell it: dramadoc/docudrama on television. Manchester:

Manchester University Press

[4] *1898 Ц972

[5] Orig.: “Creative treatment of actuality”

[6] Dänischer Filmregisseur und -theoretiker, lancierte 1995 das „Dogma-Manifest“, welches Anreize zur Realismusdebatte lieferte

[7] Michael Moore, 2004: Dokumentarfilm über die US-Politik nach dem 11.09.2001

[8] Morgan Spurlock, 2004: Der Macher des Films dokumentiert tagebuchartig , wie er sich einen Monat lang von Mc Donald’s Produkten ernährt. Der Film hielt sich wochenlang unter den Top 10 der amerikanischen Kino-Charts

[9] Org.: “What probably brought the journalist and the dramatist together,(.),was the thought that television could not only reflect on the world but could perhaps change it.“

[10] DEFA = Die Deutsche Film AG

[11] Der Begriff des “dokumentarischen Spielfilms”, welcher wie in Kapitel 2.1 erwähnt, nicht allgemein als Genrebegriff anerkannt ist, wurde von Lothar Warneke, einem deutschen Filmregisseur und Drehbuchautoren, geprägt (* 15. September 1936 in Leipzig; f 5. Juni 2005 in Potsdam).

[12] Im Original.: „[.. .jsignals the growing unhappiness with classic observational transparency and passivity, the absenting of an authorical voice and the absention from any overt means of demonstrating the filmmaker’s presence.”

Ende der Leseprobe aus 53 Seiten

Details

Titel
Die Vermischung von Dokumentar- und Spielfilm am Beispiel des Films „Der Baader-Meinhof-Komplex“
Hochschule
Hochschule Bremen
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
53
Katalognummer
V170617
ISBN (eBook)
9783640895663
ISBN (Buch)
9783640895816
Dateigröße
8011 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Film;, Dokumentarfilm;, Genregrenzen;, historischer Spielfilm;
Arbeit zitieren
Jill Grigoleit (Autor:in), 2009, Die Vermischung von Dokumentar- und Spielfilm am Beispiel des Films „Der Baader-Meinhof-Komplex“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/170617

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