Leseprobe
INHALTSVERZEICHNIS
1. Jules Verne und seine ‚Voyages Extraordinaires‘
2. Die Funktionalisierung von Raumfahrt in Von der Erde zum Mond
2.1. Ansatz zur Metakommunikation
2.2. Amerika: Leichtigkeit und Problemlosigkeit der Technik
2.2.1. Ökonomische und soziale Dimension
2.2.2. Moralische Dimension
2.2.3. Zwischenfazit: Raumfahrt als Problemlöser
2.3. Raumfahrt als narratives Mittel zur Ideologiebeschreibung
2.3.1. Militarismus und Expansionsbestreben
2.3.2. Der Amerikaner Impey Barbicane
2.3.3. Der Franzose Michel Ardan
2.3.4. Oppositionsbildung und Problemlösung
2.3.5. Nivellierung
3. Fazit: Das Modell von Welt in Von der Erde zum Mond
Anhang
Literaturverzeichnis
1. JULES VERNE UND SEINE ‚VOYAGES EXTRAORDINAIRES‘
Das Ende des 19. Jahrhunderts gilt als der Höhepunkt der industriellen Revolution. Jules Vernes 62 Werke umfassende ‚voyages extraordinaires‘ liefern einen eindrucksvollen Beleg, wie das damals gesellschaftsdurchdringende Innovationsbestreben geradezu als Quelle für literarische Ideen der damaligen Schriftsteller diente. Dabei stellt Vernes beinahe prophetisch anmutender Roman Von der Erde zum Mond[1] ein zentrales Werk dar, wenn es um die Frage nach dem „Warum“ der Verwendung des Paradigmas Raumfahrt geht. Volker Dehs, einer der führenden deutschen Jule-Verne-Forscher, liefert hierzu folgende Erklärung:
„Die symbolische Bedeutung der Reise verlagert sich bei Verne mit der Schilderung der realen wissenschaftlichen Voraussetzungen von der politischen Allegorie scheinbar auf rein materielle Bewältigung des Vorhabens, stellt jedoch immer zugleich die Frage nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck beim Vorstoß ins Unbekannte, thematisiert die ideologischen Implikationen des Anspruchs auf Beherrschung von Raum und Zeit.“[2]
Ob und inwieweit sich diese These aufrecht erhalten lässt, wird die dieser Arbeit zu Grunde liegende Textanalyse zeigen. In das Zentrum der Untersuchung rücken dabei die Funktionalisierung der Raumfahrt und die bedeutungstragenden Ausprägungen dieser im Roman Von der Erde zum Mond.
2. DIE FUNKTIONALISIERUNG VON RAUMFAHRT IN VON DER ERDE ZUM MOND
Nicht zuletzt auf Grund der Lektüre ist es offensichtlich, dass der Text eine multiple Position zur Raumfahrt einnimmt. Bei Betrachtung des historischen Kontextes, in dem dieser Text erschien, zeigt sich, dass die 1865 herrschende Zensur explizite Kritik an politischen sowie moralischen Fragestellungen verhinderte.[3] Raumfahrt fungiert folglich als narrativer Träger für die kritische Auseinandersetzung des Autors damit. Welche unterschiedliche Textpositionen sich daraus ergeben können, wird sich in der Folge des Diskurses zeigen.
2.1. ANSATZ ZUR METAKOMMUNIKATION
Grundsätzlich ist vorauszuschicken, dass die Verwendung der Folie Raumfahrt eine Kommunikation über selbige mit sich bringt. Sie wird dahingehend funktionalisiert, um das Räsonieren über beispielsweise den technischen Fortschritt, den Ursprung der Menschheit und deren Zukunft zu illustrieren. Im vorliegenden Roman zeigt sich dies ganz deutlich, indem der Text einerseits auf technischen Detailreichtum, andererseits auf die Sinnhaftigkeit des Unternehmens an sich rekurriert. Diese Metakommunikation erlaubt es die verschiedenen Standpunkte der beteiligten - teilweise oppositionellen - Diskursparteien im Text zu positionieren. Ein deutliches Indiz hierfür ist der Erzählanteil, der sich mit dem Vorgang der Weltraumfahrt per se beschäftigt. Den Roman abschließend wird in den Kapiteln 26, 27 und 28[4] der Startvorgang und das Verbleiben des Projektils in der Mondumlaufbahn geschildert. Der übrige Roman schildert die Gründe und die langwierigen Vorbereitungen des Unternehmens, den wichtigsten Ansatzpunkten für die folgenden Ausprägungen der Funktionalisierung von Raumfahrt.
2.2. AMERIKA: LEICHTIGKEIT UND PROBLEMLOSIGKEIT DER TECHNIK
Der Text positioniert sich bereits anfangs deutlich bezüglich der Frage nach der technischen Lösbarkeit von Problemstellungen. Dabei „[ist] in Amerika alles leicht, alles einfach, technische Schwierigkeiten sind nicht vorhanden“.[5] Dieses Merkmal wird kontinuierlich im Textverlauf betont. Als typisch amerikanisch konstituiert sich beispielsweise ein „technisches Genie“[6], wobei „In jedem anderen Lande die praktischen Schwierigkeiten unüberwindlich geschienen [hätten]“[7]. Der Text etabliert folglich im selben Zuge eine asymmetrische oppositionelle Stellung, was zunächst eine Unterscheidung hinsichtlich der topographischen Räume zulässt. In Anbetracht der semantischen Aufladung dieser Räume, zeigt sich jedoch, dass sich diese als semantische Räume repräsentieren: einerseits Amerika, andererseits alles, was nicht- amerikanisch ist, dessen Extrempunkt in einer Art pars pro toto in Europa und im Speziellen in Frankreich zu finden ist. [8]
An der Spitze Amerikas steht der Gun Club mit seinem Präsidenten Barbicane, durch den das Projekt initiiert worden ist. Dabei überträgt sich der zu Grunde liegende Positivismus aus dem eigentlichen Tätigkeitsbereich des Clubs - der Ballistik und deren Nutzung in der Kriegsführung - auf das Unternehmen Raumfahrt und wird dadurch zu einer Herausforderung, zu deren Überwindung Amerika geradezu prädestiniert zu sein scheint:
„In Amerika ist alles leicht, alles einfach, technische Schwierigkeiten sind nicht vorhanden. Ein wahrer Yankee wäre nicht imstande, nur einen Schein von Schwierigkeiten zwischen Barbicanes Vorschlag und seiner Ausführung zu erkennen.“[9]
An dieser Stelle offenbart sich die eigentliche Position des Textes gegenüber dieser amerikanischen „Tugend“. Allein die Tatsache, dass der Gun Club unter Heranziehung der ballistischen Erfahrungen der Kriegsführung eine Verbindung zum Mond herstellen möchte, was auch vom Text selbst thematisiert wird[10], zeigt die implizite Kritik, die an der in Amerika propagierten Problemlosigkeit und Leichtigkeit der Technik ausgeübt wird. Die anfangs scheinbar semantische Kompatibilität der Räume bzw. ihrer Prädikate wird im Textverlauf mehrfach paralysiert. Als ein weiteres Beispiel sei hier die persiflierende Anmerkung der Erzählinstanz hinsichtlich der Lösbarkeit des Raumfahrtunternehmens genannt: „Nichts kann einen Amerikaner bestürzen. Man hat oft wiederholt, das Wort >unmöglich< sei nicht französisch; offensichtlich hat man sich im Wörterbuch getäuscht.“[11] Letztendlich bestätigt sich diese Tendenz des Textes im Scheitern der Mission. In rekurrierender Form ist diese Oppositionssetzung also dafür verantwortlich, dass der Text den semantischen Raum Amerika und seine Prädikate implizit kritisiert und ironisiert, wobei die Thematik Raumfahrt ein semantischer Träger für diese Bewertungen darstellt.
2.2.1. Ökonomische und soziale Dimension
Vor dem Deckmantel der Raumfahrt offenbart sich der dargestellte amerikanische Positivismus zunächst auf einer ökonomischen und sozialen Ebene. So werden die Mitglieder des Gun Club, der das technische „Genie der Amerikaner“[12] verkörpert, als körperlich unvollständig eingeführt. Homolog zu den körperlichen Auflösungs- erscheinungen findet eine institutionelle Demontage des elitären Clubs statt, denn die „goldene Zeit“[13] des Krieges ist dem Frieden gewichen, was den Mitgliedern Sorgen um ihr Metier bereitet. Die paradigmatische Homologie der Invalidität konstituiert die Basis für die anzubringende Kritik. Einerseits weist sie darauf hin, dass den Mitgliedern ihre körperliche und institutionelle Funktionalität fehlt, andererseits katalysiert sie die Einführung der Idee, das Können und Wissen der Ballistiker in der Raumfahrt anzuwenden und unter Beweis zu stellen. Auffallend dabei ist, dass diese Idee Barbicane, dem Präsidenten des Clubs, entstammt, der - im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern - körperliche Vollkommenheit aufweist.[14] Seine Vision der Raumfahrt zieht eine ökonomische und soziale Verbesserung des Clubs nach sich. So erhält der Club zahlreiche Spenden internationaler Art, denen Jules Verne ein eigenes Kapitel widmet.[15] Weiterhin stellt sich eine über die bereits bestehende Anerkennung hinaus gehende beinahe fanatische Einstellung der übrigen Bürger gegenüber dem Gun Clubs ein. Der Text schildert, dass „Ganz Amerika mondsüchtig [wurde]“[16] und „daß die Vereinigten Staaten […] ein gemeinsames Hurra brüllten und […] 25 Millionen stolzgeschwellte Herzen im gleichen Takt schlugen“[17]. Daneben entsteht innerhalb dieses elitären Clubs eine von Überzeugung geprägte Geschlossenheit um das Projekt:
„Es darf gesagt werden, daß nie ein Vorschlag so viele Anhänger vereinte; Zögern, Zweifel oder Beunruhigung kamen ebenso wenig in Frage wie Karikaturen, Witze und Chansons, mit denen man in Europa, und ganz besonders in Frankreich die Idee, ein Projektil auf den Mond zu schicken, empfangen hätte.“[18]
Hier zeigt sich besonders die Oppositionssetzung auf der sozialen Ebene zwischen Amerika und Europa, die der negierten Existenz von unlösbaren (nicht nur technischen) Aufgaben zuzuschreiben ist. Die Kluft zwischen der neuen und der alten Welt entsteht durch die Beimessung dieser semantischen Merkmale, die der Text von Beginn an stereotyp in ironischer Art und Weise formt.
2.2.2. Moralische Dimension
Auch auf moralischer Ebene birgt das Raumfahrtprojekt Anknüpfungspunkte für eine kritische Textposition. Die Verneinung des Scheiterns bringt eine kompromisslose Einstellung gegenüber dem Projekt mit sich.
[...]
[1] Der 1865 erschienene Roman trägt den Originaltitel De la Terre à la Lune, im weiteren Verlauf sei jedoch auf den deutschen Titel zurückgegriffen.
[2] Dehs, Volker (2005): Jules Verne, Eine kritische Biographie. Düsseldorf: Patmos, S. 249.
[3] vgl. ebd., S. 248f.
[4] Verne, Jules (1966). Von der Erde zum Mond. Direkte Fahrt in siebenundneunzig Stunden und zwanzig Minuten. Zürich: Diogenes.
[5] ebd., S. 33.
[6] ebd., S. 65.
[7] ebd.
[8] Eine Übersicht der Merkmalsmengen der semantischen Räume befindet sich im Anhang.
[9] ebd., S. 33.
[10] vgl. ebd., S. 33f.
[11] ebd., S. 33.
[12] ebd., S. 8.
[13] ebd., S. 12.
[14] Seine oppositionelle Stellung stellt sich anders dar, wie noch im Verlauf der Analyse aufgezeigt wird.
[15] vgl. ebd., S. 123-133.
[16] ebd., S. 57.
[17] ebd., S. 35.
[18] ebd., S. 37.