Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Theoretischer Teil
2.1 Vorurteil
2.2 Der Zirkel des Verstehens
2.3 Horizont und Horizonterweiterung
2.4 Horizontverschmelzung
3 Praktischer Teil
3.1 Jenseits der Stille – Inhaltsangabe
3.2 Gegenstand der Betrachtung
3.3 Die Horizonte von Lara und ihrem Vater
3.3.1 Lara
3.3.2 Laras Vater
3.4 Die Schlussszene - Horizontverschmelzung im Film
4 Abschließende Gedanken
Anhang A - Literaturverzeichnis
1 Einleitung
„Du verstehst mich einfach nicht.“ Jeder kennt diesen Satz, jeder hat ihn schon mal gehört und höchstwahrscheinlich schon mal gesagt, oder zumindest gedacht. Wirklich verstehen ist nicht immer einfach, es ist eine „Kunst“. Hans-Georg Gadamer beschäftigt sich in seinem Werk „Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ mit dieser Kunst und versucht eine umfassende Theorie der Verstehens auszuarbeiten.
In der vorliegenden Arbeit werde ich mich mit dieser Theorie auseinandersetzen. Gadamer geht es in diesem Buch vorrangig um das verstehen von Texten, ich werde versuchen nachzuweisen, dass sich seine Theorien durchaus auch auf zwischenmenschliche Beziehungen anwenden lassen, dass, was Gadamer unter Horizontverschmelzung versteht, auch zwischen Menschen stattfindet.
In ersten Teil werde ich kurz die wesentlichen Begriffe, wie Vorurteil, Zirkel des Verstehens, Horizont, Horizonterweiterung und Horizontverschmelzung erklären, um dann im zweiten Teil zu betrachten, wie Horizontverschmelzung zwischen zwei Menschen, ich nutze dafür den Film „Jenseits der Stille“, stattfindet.
2 Theoretischer Teil
In diesem Teil der Arbeit werde ich die theoretischen Grundlagen erläutern, welche für die praktische Auseinandersetzung mit dem Thema notwendig sind. Ich werde beschreiben, was Gadamer unter Vorurteilen versteht, warum er diese als wesentliche Grundlage für Verstehen sieht und welche Rolle sie im „Zirkel des Verstehens“ spielen. Darüber hinaus werde ich die Begriffe Horizont und Horizonterweiterung erklären und mit Hilfe Gadamers These der Horizontverschmelzung deutlich machen, dass Verstehen bei Gadamer bedeutet, die Grenzen des eigenen Horizontes, durch Integration von Neuem und Überprüfung von bekanntem, zu erweitern.
2.1 Vorurteil
Der Begriff Vorurteil ist umgangssprachlich eindeutig negativ belegt. Man spricht z.B. von Vorurteilen gegenüber Minderheiten und meint damit die unreflektierte, vorschnelle „Verurteilung“ von Menschen, ohne den Willen dieses Urteil zu überprüfen. Diese negative Bewertung des Vorurteils schreibt Gadamer der Aufklärung zu.1 Seiner Meinung nach ist ein vorurteilsfreies Verstehen nicht möglich. Zum einen, weil die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit einem Thema, ohne Erwartungen zu haben, unmöglich ist (man würde sich ja sonst nicht damit beschäftigen), zum anderen, weil es dem Individuum nicht möglich ist, sich aus seiner Lebenswelt und deren historischen und kulturellen Gegebenheiten, in die er hineingewachsen ist, zu lösen. (vgl. Vasilache 2003 S. 38 f) Die eigenen Erwartungen und das (kulturelle und historische) Vorwissen werden das Verstehen immer beeinflussen.
Er selbst sieht Vorurteile im buchstäblichen Sinn, als noch nicht wissenschaftlich begründetes, unreflektiertes Vorverständnis einer Sache, als die „Voreingenommenheiten unserer Weltoffenheit, die geradezu Bedingungen dafür sind, daß wir etwas erfahren, daß uns das, was uns begegnet, etwas sagt.“ (Grodin 1997 S. 63) Vorurteile können also sowohl negativ, als auch positiv sein. Sie können, wenn sie im Sinne von Vorverurteilung benutzt werden, um einer Auseinandersetzung mit dem beurteilten Gegenstand zu auszuweichen, das Verstehen be- oder sogar verhindern. Sie sind aber auch notwendig, sozusagen als Türöffner für Neues. Ich möchte das kurz an einem Beispiel deutlich machen: Ohne das Vorwissen, dass Äpfel essbar sind und das Vorurteil, dass sie gut schmecken, würde man sie wahrscheinlich nie kosten. Das Vorurteil „Äpfel schmecken gut“ ist also notwendig, um sich mit dem Geschmack von Äpfeln auseinander zu setzen und ihn zu erfahren.
Um zu verstehen muss man also erkennen, welche Vorurteile „wahr“ und welche „falsch“ sind. 2 Gadamer schreibt: „Wer zu verstehen sucht, ist der Beirrung durch Vor-Meinungen ausgesetzt, die sich nicht an den Sachen selbst bewähren. Die Ausarbeitung der rechten, sachangemesseneren Entwürfe, die als Entwürfe Vorwegnahmen sind, die sich ‘an den Sachen’ erst bestätigen sollen, ist die ständige Aufgabe des Verstehens. Es gibt hier keine andere ‘Objektivität’ als die Bewährung, die eine Vormeinung durch ihre Ausarbeitung findet.“ (Gadamer 1990 S. 272) Welche Vorurteile wahr sind, zeigt sich letztlich also in der Auseinandersetzung mit der Sache selbst. Um zu verstehen muss man sich also seiner Vorurteile bewusst und bereit sein, sich, sollten sie das Verstehen behindern, von diesen zu trennen.
2.2 Der Zirkel des Verstehens
Folgt man Gadamers Überlegungen, sind Vorurteile also Grundlage für Verstehen. Wenn man sich mit einer Sache (einem Text) beschäftigt, etwas verstehen will, wirft man sozusagen ein Vorverstehen voraus, man hat Erwartungen an die Bedeutung des Textes. Gadamer beschreibt seine Vorstellung des Hermeneutischen Zirkels wie folgt: „Wer einen Text verstehen will, vollzieht immer ein entwerfen. Er wirft sich einen Sinn des Ganzen voraus, sobald sich der erste Sinn des Textes zeigt. Ein solcher zeigt sich wiederum nur, weil man den Text nur mit gewissen Erwartungen auf einen bestimmten Sinn hin liest. Im Ausarbeiten eines solchen Vorentwurfs, der freilich beständig von dem her revidiert wird, was sich beim Eindringen in den Sinn ergibt, besteht das Verstehen dessen, was da steht.“ (Gadamer 1990 S. 271)
In der Auseinandersetzung mit dem Text wird das Gelesene mit dem Vorverständnis, den Erwartungen an den Text, abgeglichen. Man befindet sich sozusagen im Gespräch mit dem Text. (vgl. Cesare 2009 S. 110 ff) Die eigenen Erwartungen werden mit dem Gelesenen abgeglichen und bei Unstimmigkeiten stellt man sozusagen Fragen an den Text. Dadurch werden die eigenen Vorurteile immer wieder überprüft, revidiert und neu formuliert.
Man kann also „das Ganze nur aus dem Einzelnen und das Einzelne nur aus dem Ganzen verstehen“ (Danschlag 2007 S. 51), d.h. der Vorgriff auf den Sinn des Ganzen ermöglicht das Verstehen einzelner Abschnitte (Sätze, Kapitel) und das Verstehen einzelner Abschnitte ermöglicht wiederum das Verstehen des ganzen Textes. Dieses ständige „im Gespräch sein mit dem Text“ und das Prüfen, Revidieren und neu Formulieren der Vorurteile macht den zirkulären Charakter des Verstehensprozesses aus, wobei man eigentlich von einer Spirale sprechen müsste, da man sich nicht „im Kreis dreht“, sondern seinen eigenen Horizont immer mehr erweitert. (vgl. Jeanrond 1986 S. 18ff)
Wenn Gadamer also von „Verstehen“ spricht, meint er eigentlich
„Neu-Verstehen“, „Anders-Verstehen“ oder „Besser-Verstehen“.
2.3 Horizont und Horizonterweiterung
Gadamer definiert den Begriff Horizont wie folgt: „Horizont ist der Gesichtskreis, der alles das umfaßt und umschließt, was von einem Punkt aus sichtbar ist.“ Horizont ist also ein „Ausschnitt“, welcher durch den „Standpunkt“ und die „Sehfähigkeit“ begrenzt ist. Das bedeutet das Verstehen durch die Lebenswelt des Individuums, also die gesamten Erfahrungen, Wünsche, vorhandenes Wissen usw., begrenzt ist. Gadamer geht aber davon aus, dass Horizont grundsätzlich erweiterbar ist, dass man Horizont gewinnen kann. Er schreibt „Horizont gewinnen meint immer, daß man über das Nahe und Allzunahe hinaussehen lernt, nicht um von ihm wegzusehen, sondern um es in einem größeren Ganzen und in richtigeren Maßen besser zu sehen.“ (Gadamer 1990 S. 310) Es geht also nicht darum, etwas richtig zu sehen, etwas richtig zu verstehen, sondern etwas, durch die Erweiterung des Sichtfeldes, besser zu verstehen. Horizont ist also keine feste Größe, sondern dynamisch und ständig in Bewegung.
2.4 Horizontverschmelzung
Was Verstehen für Gadamer wirklich bedeutet, wird am Begriff „Horizontverschmelzung“ deutlich. Wie bereits erläutert, ist Verstehen ohne Vorwissen nicht möglich, anders gesagt, ohne eine Ahnung von dem zu verstehenden Horizont zu haben, also ohne von seiner Existenz zu wissen und eine Vorstellung von seiner Beschaffenheit zu haben, wäre eine Auseinandersetzung mit ihm nicht denkbar.3 Entweder setzt man sich mit einer Sache auseinander, weil bereits ein Grundinteresse und damit verbundene Vorurteile vorhanden sind oder es werden durch eine Sache (einen Text, ein Gespräch, Film usw.) vorhandene Vorurteile angesprochen. So oder so, diese Vorurteile sind notwendig, um sich der Sache zu stellen (und sie an ihr „fraglich“ zu machen). (vgl. Jeanrond 1986 S. 21)
Horizonte sind demzufolge nur vermeintlich für sich, tatsächlich gibt es bereits Überschneidungen (vgl. Gadamer 1990 S. 311). Warum spricht Gadamer trotzdem von Horizontverschmelzung, wenn die Horizonte bereits verbunden sind? Er begründet das wie folgt: „jede Begegnung mit der Überlieferung, die mit historischem Bewusstsein vollzogen wird, erfährt an sich das Spannungsverhältnis zwischen Text und Gegenwart. Die hermeneutische Aufgabe besteht darin, diese Spannung nicht in naiver Angleichung zuzudecken, sondern bewusst zu entfalten. Aus diesem Grunde gehört notwendig zum hermeneutischen Verhalten der Entwurf eines Historischen Horizontes, der sich von dem Gegenwartshorizont unterscheidet. Das historische Bewusstsein ist sich seiner eigenen Andersheit bewußt und hebt daher den Horizont der Überlieferung von dem eigenen Horizont ab.“ (Gadamer 1990 S. 311) Der Horizont des auslegenden Subjekts (also des „Verstehenden“) hebt sich also, trotz der Überschneidungen, deutlich von dem des fremden Subjekts (dem „zu verstehenden“) ab.
[...]
1 Ich verzichte an dieser Stelle darauf, auf die Ursachen dieser Negativebewertung von Vorurteilen einzugehen, nachzulesen ist das bei Gadamer 1990 S. 275 ff und Grodin 1997 S. 63.
2 Mit der Entstehung von Vorurteilen (aus Autorität und Tradition) setzt sich Gadamer ausführlich auseinander (Gadamer 1990 S.281 ff), ich verzichte hier, darauf ausführlich einzugehen.
3 Ich verzichte hier auf eine ausführliche Erklärung des Zusammenhangs zwischen Vergangenheits- und Gegenwartshorizont (nachzulesen bei: Gadamer 1990 S. 305 ff)