Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Marcuses Ringen um das Reich der Freiheit
3. Zum Begriff des eindimensionalen Menschen
3.1 Der eindimensionale Mensch in der spätkapitalistischen Gesellschaft
4. Versuch über die Befreiung des eindimensionalen Menschen
4.1 Revolution als Mittel zum Zweck
5. Die neue Sensibilität
6. Zusammenfassung und Ausblick
7. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Zum theoretischen Stichwortgeber der neuen antiautoritären Linken avancierte der im kalifornischen Exil lebende Herbert Marcuse. Der einer assimilierten jüdischen Familie entstammende Philosoph war schon früh Mitglied in der SPD 1917-19), aus der er aber nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs austrat. Im Alter von 30 Jahren begann er 1928 unter Martin Heidegger ein Philosophiestudium, auf Grund von Differenzen mit Heidegger erfolgte aber keine Habilitation. Marcuse floh 1933 aus Ber- lin über Genf und Paris nach New York, wo er 1934 am Institut für Sozialforschung an- gestellt wurde. In den folgenden Jahren arbeitete er für die amerikanische Regierung und lehrte an verschiedenen Universitäten, bis er 1954 eine Professur für Philosophie an der Brandeis University erhielt. Marcuse war von seinen Lehrern Heidegger und Husserl („Zu-sein“) ebenso beeinflusst, wie von Hegel (Vernunft) und Marx (Existenz und Entfremdung), selbst die Freud´sche Trieblehre integrierte er in sein Denken.1 Zwi- schen 1967 und 1969 befand er sich auf Vortragsreise durch Europa, wo er Zeuge der Studentenbewegungen in Paris und Berlin wurde und wie kein anderer zum Ideenge- ber der studentischen Revolution avancierte. Zur „weltberühmten intellektuellen Sym- bolfigur der Studentenrevolte“2 wurde Herbert Marcuse keineswegs über Nacht. Es bedurfte eines langen, an der gesellschaftlichen Wirklichkeit orientierten Erkenntnis- prozesses, den der interessierte und geschichtlich gebildete Leser anhand Marcuses gesellschaftstheoretischer Arbeiten nachvollziehen kann. Marcuse selbst bezeichnete seine Arbeiten als „Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“ – so der Untertitel des „eindimensionalen Menschen“. Und um die Fehlentwicklungen in den modernen Industriegesellschaften geht es ihm. Marcuse untersuchte die Gründe, die den Menschen auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung zu seinen grausamsten Dy- namiken bewegt, womit er auf Kriege, totalitäre Regime und Massenmord abzielte. Er fragte nach den Mechanismen in Technik, Wirtschaft und Politik, welche die Vernunft des Menschen pervertieren, ihn geistig verarmen lassen und die jeden kritischen Ge- danken so wirkungsvoll im Keim ersticken.
Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, die theoretisch-philosophische Entwicklung Herbert Marcuses anhand seiner Werke zu untersuchen und zu beschreiben. Schwerpunkt stellt jene Entwicklung dar, die Marcuse vom „Eindimensionalen Menschen“ (1964) zum „Versuch über die Befreiung“ (1969) nimmt. Zunächst zeichnet er noch ein tief- pessimistisches Bild der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, die eine Gesellschaft ohne Opposition sei, der status quo wäre im Innern des Menschen fixiert. Welche ge- sellschaftliche Entwicklung bewegt ihn also dazu, von seiner Position abzuweichen und dem Menschen eine positivere Zukunft zuzugestehen? Auf welchen Annahmen baut Marcuse mögliche Alternativen einer befreiten Gesellschaft auf?
Für die vorliegende Arbeit von entscheidender Bedeutung sind, neben Marcuses schon erwähnten Schriften, die Theorien Karl Marx´, wie er sie mit der Kritik der politischen Ökonomie in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ darlegt. Des Weiteren werden die „Psy- choanalyse“ Siegmund Freuds und seine darin entwickelte Trieblehre eine wichtige Rolle spielen. Herbert Marcuse übernahm diese Theorien nicht einfach, er durchdachte und zerlegte sie in ihre Bestandteile, um sie anschließend in seine eigene Theoriebil- dung einzubinden. Weder schreckte er dabei vor Kritik an diesen Denkern zurück, noch vor der Entwicklung kontroverser Gedanken.
2. Marcuses Ringen um das Reich der Freiheit
Marx verstand unter Kapitalismus nicht allein eine Wirtschaftsordnung, sondern auch eine Klassengesellschaft, die sich durch Elend und entfremdete Arbeit auszeichnet. Während die Klasse der Kapitalisten alle Produktionsmittel besitzt (Boden, Fabriken etc.), ist die Klasse des Proletariats gezwungen Lohnarbeit zu verrichten. Für ihre Ar- beit bekommt die Arbeiterschaft einen Lohn bezahlt, der ihnen zwar erlaubt ihre Ar- beitskraft zu reproduzieren (Nahrung, Wohnung, Erholung), jedoch nicht ausreicht um selbst Produktionsmittel zu erwerben. In der Arbeit, die Marx als schöpferischen Akt und als notwendigen Austausch zwischen Mensch und Natur bezeichnet, komme der Mensch zu sich selbst, sie ist Grundlage und Bedingung seiner eigenen Existenz. Ent- fremdet ist diese Arbeit, da der Arbeiter nicht frei über den Einsatz seiner Arbeitskraft bestimmen kann. Er muss nach den Vorgaben des Kapitalisten arbeiten. Die Güter die er produziert, kommen nicht länger ihm oder der Gesellschaft insgesamt zu Gute. Sie dienen als Tauschwerte der privaten Mehrwertschaffung. Da sich der Arbeiter nicht mehr in seiner Arbeit wiedererkennt, entäußert er sich, er schafft etwas, das nicht zu seinem Wesen gehört. Arbeit wird zur Zwangsarbeit, da sie nicht mehr der Befriedi- gung von Bedürfnissen dient, sondern der Befriedigung von Bedürfnissen außerhalb der Arbeit. Freie Arbeit hingegen, und damit die Freiheit des Menschen insgesamt, vollzieht sich in der Produktion von Dingen, die seiner Selbstverwirklichung dienen – das Subjekt befreit sich, indem es sich vergegenständlicht. Freiheit ist demnach nur jenseits entfremdeter Arbeit möglich. Innerhalb des Reiches der Notwendigkeit wird die Freiheit niemals zu sich selbst kommen. Ein Arbeitstag, so kurz er auch sein mag, wird immer ein Tag in Unfreiheit bleiben, er ist geteilt in Arbeitszeit und Freizeit.
„Wahre“ Freiheit kann hingegen nur dort herrschen, wo der Schöpfungsprozess von allen Zwängen befreit ist, wo er einzig dem Selbstzweck dient. Dort könnte, so Marcu- ses Hoffnung, die Fantasie zur produktiven leitenden Kraft bei der Schaffung der Wirk- lichkeit werden.3 Von gesondertem Interesse sind an dieser Stelle die Marx´schen Termini des „Reiches der Notwendigkeit“ und des „Reiches der Freiheit“.4 Für Marx beginnt die Freiheit da, wo die eigene Schöpferkraft von dem Zwang befreit ist, zwi- schen vorgegebenen Alternativen veräußernder Arbeit wählen zu müssen. Natürlich war Marx auch bewusst, dass es eine Gesellschaft, in der jeder das tut oder lässt, was seinem Selbstzweck dient, nur auf Grundlage einer gesicherten materiellen Basis ge- ben kann. Diese Basis nennt er das Reich der Notwendigkeit.
Marcuses Ansatz ist folgender: Auf Grund der technischen Entwicklung in den kapitalis- tischen Gesellschaften lässt sich ein Einbrechen der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit ebenso beobachten wie ein Einbrechen der Freiheit in das Reich der Notwen- digkeit.5 Die stetig steigende Zahl der erwerblichen Waren führt zu einer beständigen Erweiterung der notwendigen Waren, wie sinnig oder unsinnig deren praktischer Nut- zen auch sein mag. Entscheidend ist, dass die Waren dem Konsumenten durch ihren Besitz mehr Freiheitsgrade innerhalb der Gesellschaft versprechen. Die Qualität der Freiheit wird durch Notwendigkeiten bestimmt. Gleichzeitig transformiert der techni- sche Fortschritt den Arbeitsprozess in einen technischen Prozess. Der Produktionspro- zess wird durch Maschinen und Automaten verrichtet, während der Mensch vom Hauptakteur zum Kontrolleur der Arbeit wird. Die verkürzte Zeit die der Mensch für Arbeit aufbringen muss, steigert die freie Zeit und damit das Potential der Freiheit in- nerhalb des Reichs der Notwendigkeit. Marcuse hegt die Hoffnung, dass diese Entwick- lung fortbesteht und möglicherweise einmal zur vollständigen Transformation von Notwendigkeit zur Freiheit, vom Kapitalismus zum Sozialismus führt. Eine Veränderung kann aber nicht allein bei der ökonomischen Basis ansetzen, da im Zuge andauernder Manipulation und der Instrumentalisierung der Vernunft längst ein Zustand der Läh- mung herbeigeführt worden ist – das ökonomische Interesse der Unterdrückten nach Veränderung fehlt.
„Was unter heutigen Aspekten als entscheidend erscheint, ist nicht nur die Verkürzung des Arbeitstages, sondern auch die Transformation der Arbeit selber, und zwar nicht nur durch die grundlegenden Produktionsverhältnisse und Institutionen […], sondern auch durch die Erzie- hung eines neuen Menschentyps, der frei von den aggressiven und repressiven Bedürfnissen, Bestrebungen und Einstellungen der Klassengesellschaft; durch die Erziehung von Menschen, die in Solidarität und aus eigener Initiative ihre eigene Umwelt, ihre eigene Lebenswelt, ihr eigenes Eigentum produzieren“6.
Die Herausbildung eines neuen Menschentyps kann nur gelingen, wenn in den Bedürf- nissen der Menschen eine qualitative Veränderung auftritt.
3. Zum Begriff des eindimensionalen Menschen
In seinem 1964 erschienen Buch „Der eindimensionale Mensch“ kritisiert Herbert Mar- cuse die Überflussgesellschaft der sich die Menschen widerstandslos unterwürfen, da ihre natürlichen Bedürfnisse durch Repression und Konsumterror manipuliert würden.7
[...]
1 Vgl. Brunkhorst 1990, 14ff.
2 Waschkuhn 2000, 132.
3 Vgl. Marcuse: Schriften 8,266f.
4 Vgl. Marcuse: Schriften 8, 228ff.
5 Vgl. Marcuse: Schriften 8, 231f.
6 Marcuse: Schriften 8, 232.
7 Vgl. Marcuse 2004, 21ff.