Das Buch besteht aus einer Reihe von Arbeiten, die sich um das Thema "Entscheidungen treffen über Leben und Tod" drehen.
Die Bachelor Arbeit:
"Darf man Menschen töten"
Die Hausarbeiten:
"Töten und Sterbenlassen"
"Globale Hilfspflicht"
Die Essays:
"Kontraktualismus und Aggregation"
"Interne und externe Gründe"
"Rechtfertigung freiwilliger Euthanasie"
"The War on Drugs"
Die Texte reichen von metaethischen Fragestellungen bis hin zu Problemen der angewandten Ethik und bieten damit Einblicke in verschiedene Bereiche der Moralphilosophie.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
I Darf man Menschen töten?
1. Ein klares Nein!?
1.1 Das Tötungsverbot
1.2 Die Ausnahmen vom Tötungsverbot
2. Lässt sich Töten mit einer Moraltheorie vereinbaren?
2.1 Die Kantische Ethik
2.2 Der Utilitarismus
2.3 Der Utilitarismus vs Kantische Ethik
3. Wie viel zählt ein Mensch?
3.1 Die Trade-off-Situation
3.2 Die Nichterfüllung der vier Bedingungen
3.3 Der Wert der Person
3.4 Die Maximierungsregel vs. Zufallsentscheid
4. Darf man Wenige töten, um Viele zu retten?
4.1 Das Dirty-Hands-Problem
4.2 Die hypothetische Zustimmung
4.3 Die größere wahrgenommene Bedrohung
5. Fazit
II Kontraktualismus und Aggregation
1. Kritik am Konsequentialismus und der Aggregation
2. Kontraktualismus als Alternative
3. Limitierte Aggregation
4. Partielle Transitivität
5. Verteidigung der Aggregation
6. Fazit
III Interne und externe Gründe
1. Interne Gründe
2. Externe Gründe
3. Kritik
IV Rechtfertigung freiwilliger Euthanasie
1. Formen der Euthanasie
2. Freiwillige Euthanasie
3. Fazit
V Töten und Sterbenlassen
1. Sterbenlassen
2. Fünf Unterschiede
2.1 Die Motivation
2.2 Die Anforderung
2.3 Die Gewissheit
2.4 Die Identifizierbarkeit der Opfer
2.5 Die Verantwortung
3. Zwei verschiedene Konzeptionen
3.1 Eine Gegenüberstellung
3.2 Garantenstellung
3.3 Plausibilisierung anhand von Beispielen
4. Fazit
VI Globale Hilfspflicht? .
1. Hilfspflicht
1.1 Hilfspflicht nach Singer
1.2 Hilfspflicht nach Schaber
2. Das Überforderungsproblem der Hilfspflicht
2.1 Ablehnung der Hilfspflicht
2.2 Das Mitleid
3. Fazit
VII The War on Drugs..
1. Über die ökonomischen und moralischen Aspekte des Drogenverbots
2. Economic Analysis of Law
3. Moralische Dimensionen des Drogenverbots
4. Fazit
Literaturverzeichnis
Vorwort
Dieses Buch setzt sich aus meiner Bachelor-Arbeit und mehreren Essays und Hausarbeiten, welche während meines Masterstudiums entstanden, zusammen. Alle drehen sich um das Thema, wie man Entscheidungen über Leben und Tod treffen soll. Der erste Text ist meine Bachelor-Arbeit mit dem Titel: “Darf man Menschen töten?“ und behandelt Situationen, in denen entschieden werden muss, ob man wenige töten darf, um viele zu retten. Im Anschluss daran folgt der Essay „Kontraktualismus und Aggregation“, bei dem ich die Aggregation von Leid nochmals genauer betrachte.
Der dritte Text „Interne und externe Gründe“ ist ein Essay, der sich damit beschäftigt, wie man überhaupt zum Handeln motiviert wird, was grundlegend ist, um Entscheidungen zu treffen. Im nächsten Essay „Rechtfertigung freiwilliger Euthanasie“ geht es darum, ob Sterbehilfe moralisch rechtfertigbar ist. Anschließend geht es in der Arbeit „Töten und Sterbenlassen“ um den Unterschied zwischen diesen beiden Handlungen und um die Frage, ob ein Sterbenlassen moralisch genauso verwerflich ist, wie ein Töten.
Mit dem Sterbenlassen beschäftigt sich auch die sechste Arbeit „Globale Hilfspflichten“, bei der es darum geht, ob Menschen in Not geholfen werden muss, oder ob man sie sterben lassen darf. Der letzte Essay „The War on Drugs“ dreht sich darum, ob der Staat mit einem Drogenverbot verhindern darf, dass Menschen ihr Leben mit Drogen zerstören.
Die Texte reichen von metaethischen Fragestellungen bis hin zu Problemen der angewandten Ethik und bieten damit Einblicke in verschiedene Bereiche der Moralphilosophie.
I Darf man Menschen töten?
1. Ein klares Nein!?
„Darf man Menschen töten?”, ist im Alltag eine doch eher ungewöhnliche Frage und wird von den meisten Menschen mit einem selbstverständlichen „Nein!” beantwortet. Das liegt daran, dass in unserer Gesellschaft gewisse moralische Prinzipien gelten, in denen bestimmte Handlungen als moralisch schlecht bezeichnet werden. Schlechtes - und wenn ich hierbei von „schlecht“ spreche, meine ich das moralisch Schlechte - wird in den meisten Fällen nicht erlaubt oder zumindest nicht gewollt. Das Töten eines Menschen zählt eindeutig zu den schlechtesten Dingen, die man tun kann und ist daher auch eindeutig verboten. Durch die Erziehung der Eltern ist jedem mehr oder weniger klar, was zu den guten und was zu den schlechten Dingen gehört. Natürlich gibt es hierbei verschiedenste Definitionen und Auslegungen, was gut und was schlecht ist; dies variiert je nach Kultur, Religion, sozialem Status und vielen weiteren Faktoren. Dies führt soweit, dass in verschiedenen Gemeinschaften die unterschiedlichsten Handlungen als gut bzw. schlecht gelten. Dennoch hat man den Eindruck, dass jedem, egal woher er stammt, auf Anhieb klar ist, dass töten nicht erlaubt ist.
1.1 Das Tötungsverbot
Bereits vor mehreren tausend Jahren wurden die zehn Gebote formuliert und im alten Testament der Bibel festgehalten:
Das fünfte der zehn Gebote: „ Du sollst nicht töten! ” 1
Doch nicht nur die christliche, sondern alle großen Religionen sprechen sich gegen das Töten von Menschen aus. Die Religion hat bis heute einen großen Einfluss auf die moralischen Werte der Gesellschaft. Ob nun die Religion bei der Formulierung der Gesetzte der heutigen Gesellschaft eine Rolle gespielt hat oder nicht, spielt für meine Untersuchung keine Rolle.
Wichtig ist, dass auch in unserem Grundgesetz klar Stellung zum Töten von Menschen bezogen wird:
Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes:
(2) „ Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. “ 2
Nicht nur in Deutschland sind solche Gesetzte und Rechte definiert, auch andere Nationen haben vergleichbare Gesetzte. Um all diese Vorschriften auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, wurden die Menschenrechte formuliert. Diese werden von den meisten Staaten anerkannt und sehen den Schutz des menschlichen Lebens als sehr wichtig an: Artikel 3 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte:
(3) Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person. 3
Es scheint so, als seien sich so ziemlich alle Menschen darüber einig, dass diese Frage „Darf man Menschen töten?” mit „Nein” beantwortet werden muss. Ich denke, es gibt keine andere Fragestellung, bei deren Beantwortung sich die Menschheit derart einig sind. Man könnte sagen, dass dies im Hinblick auf Moral der kleinste gemeinsame Nenner der Menschheit ist. Natürlich umfasst dies nicht alle Menschen. Kannibalen, Mörder, Sadisten und ähnliches sind davon ausgenommen. Der „normale Durchschnittsmensch” allerdings wird wohl die Meinung teilen, dass man Menschen nicht töten darf.
1.2 Die Ausnahmen vom Tötungsverbot
Dennoch gibt es Fälle in denen Menschen von anderen Menschen absichtlich getötet werden, ohne dass die Gesellschaft sie als Mörder oder schlechte Menschen darstellen würde. Denn auch die „normalen” Menschen, selbst die, die Religion und die oben genannten Rechte und Gesetzte befürworten, machen Ausnahmen, wenn es ums Töten geht.
Diese Ausnahmen werden nicht von allen Kulturen bzw. Religionen oder anderen Gemeinschaften gleich bewertet. Manche dieser Ausnahmen werden in bestimmten
Ländern als Mord angesehen und dementsprechend bestraft, in anderen Ländern sind sie wiederum legitim.
Zu diesen Ausnahmen zählen:
− Notwehr
− Krieg
− Todesstrafe
− Euthanasie
− Abtreibung
− Dirty-Hands Situationen
Notwehr wird vom Gesetz wie folgt definiert: „Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.”4
Notwehr wird vom Gesetz und von der Moral als legitime Tötung betrachtet, da man sein eigenes Leben schützt und durch den Angreifer dazu gezwungen wird. Diese Ausnahme vom Tötungsverbot dürfte jedem einleuchten und ist auch nur schwer zu kritisieren. In ähnlicher Weise verhält es sich im Krieg. Ein Soldat darf im Kampf einen Feind töten, oftmals ist er sogar dazu verpflichtet. Dies kann man ebenfalls als eine Art Notwehr im großen Rahmen betrachten, denn der Feind greift an und will die Verteidiger töten. Doch inwieweit Krieg gerechtfertigt ist und damit auch das Töten während des Krieges, ist sehr umstritten, zumindest aus moralischer Sicht. Rechtlich kann ein Soldat nicht wegen Mordes verurteilt werden, wenn er einen feindlichen Soldat]en im Kampf tötet. Menschen die wegen Mordes verurteilt werden, werden in vielen Staaten noch mit dem Tod bestraft. Die Todesstrafe ist ein viel diskutiertes Thema in der Straftheorie und kann mit einer retributiven Theorie begründet werden.
Eine ganz andere Situation stellt die Euthanasie dar. Euthanasie im medizinischen Sinne bedeutet „die absichtliche Herbeiführung des Todes bei unheilbar Kranken durch Medikamente oder durch Abbruch der Behandlung.”5.
Diese Form der Tötung ist äußerst umstritten. Die Frage ob es moralisch erlaubt ist, unheilbar Kranke zu töten, teilweise auch auf Wunsch der Kranken, ist sehr schwierig. Entscheidend ist hier, meiner Ansicht nach, zu klären, wann menschliches Leben endet.
Ähnlich verhält es sich mit der Abtreibung, wobei sich hierbei die Diskussion darauf konzentriert, wann menschliches Leben beginnt. Denn das Abtreiben wird ab einem bestimmten Zeitpunkt als Töten angesehen und davor noch nicht, da man zu diesem Zeitpunkt noch nicht von menschlichem Leben spricht. Hierbei gehen die Meinungen von Staat, Kirche, Philosophen und sonstige Gruppierungen und Institutionen weit auseinander.
Eine weitere Ausnahme vom Tötungsverbot können Dirty-Hands-Situationen bilden. Sie sind eine bestimmte Form von moralischen Dilemmata, bei denen eine Entscheidung getroffen werden muss, wie man handelt. Es werden Menschen leiden bzw. sterben, egal wie man sich entscheidet, deshalb macht man sich bei jeder dieser Entscheidungen die Hände schmutzig. Fragen, die sich in Dirty-Hands-Situationen stellen, sind von der Art „Darf man drei Menschen töten, um zehn zu retten?”. Hierbei muss man sich entscheiden, ob man entweder tötet und die größere Anzahl rettet oder ob man die größere Anzahl sterben lässt6. Es gibt aber auch Dirty-Hands-Situationen, in denen kein aktives Töten gefordert ist, sondern es nur darum geht, wen man rettet und ob dabei die Anzahl eine Rolle spielt.7
Bei der Dirty-Hands-Problematik gibt es also weder eine Notwehr-Komponente, noch kommen Überlegungen hinsichtlich Beginn bzw. Ende des Lebens ins Spiel. Daher will ich mich in dieser Arbeit schwerpunktmäßig mit dem Dirty-Hands-Problem beschäftigen, um die Frage zu klären, ob man Menschen töten darf.
Um diese Problematik zu behandeln, muss ich die Frage „Darf man wenige töten, um viele zu retten?” in zwei Teilfragen gliedern.
Die erste Teilfrage ist, ob das Töten, unter welchen Umständen auch immer, sich überhaupt mit einer Moraltheorie vereinbaren lässt. Dies kläre ich anhand von zwei grundlegenden ethischen Positionen bzw. Moraltheorien, die zu unterschiedlichen
Ergebnissen führen. Zum einen untersuche ich, welche Antwort aus der Perspektive eines Spezialfalls des Konsequentialismus (der Utilitarismus) auf diese Frage zu geben ist, zum anderen analysiere ich am Beispiel der Kantischen Ethik die deontologischen Position. Die zweite zu beantwortende Frage ist die, wie viel ein Mensch zählt, genauer gesagt, ob zahlenmäßig mehr Menschen auch mehr zählen. Denn man muss diese Frage klären, bevor man sich dazu entscheidet, wenige zu töten um viele zu retten. Eine dritte Frage, nämlich die Frage danach, was einen Menschen ausmacht, könnte ebenfalls als Voraussetzung für meine Frage betrachtet werden.8 Tiere zu töten ist für die meisten Menschen moralisch erlaubt oder zumindest nicht derart moralisch verwerflich, wie das Töten eines Menschen. Daher muss man klar die Grenze zwischen Tier und Mensch ziehen. Oftmals wird dies anhand von Vernunft, Selbstbewusstsein und Rationalität des Menschen getan, jedoch erfüllen manche Menschen z. B. geistig schwer Behinderte, Föten und Komapatienten nicht alle diese Bedingungen. Hingegen spricht man Menschenaffen eine gewisse Rationalität zu. Diese Diskussion ist sehr weitreichend und würde den Rahmen meiner Arbeit sprengen; daher nehme ich es als gegeben an, dass alle Menschen moralisch gleich sind, die selben Rechte besitzen und klar von Tieren zu unterscheiden sind.9
Somit werde ich mich nur mit den beiden ersten Teilfragen beschäftigen, denn erst dann, wenn diese geklärt sind, kann man sich mit der eigentlichen Dirty-Hand-Situation befassen. Um ein solches moralisches Dilemma zu lösen, müssen die moralischen Rahmenbedingungen klar abgesteckt sein.
2. Lässt sich Töten mit einer Moraltheorie vereinbaren?
Um diese Frage zu beantworten, betrachte ich für meine Untersuchung zwei klassische Moraltheorien.10 Zum einen den Utilitarismus, welcher eine konsequentialistische Theorie ist und zum anderen die Kantische Ethik, die eine deontologische Ethik ist. Diese beiden Theorien sind die Klassiker der beiden Hauptrichtungen in der Ethik, Konsequentialismus und deontologische Ethik, die jeweils grundsätzlich verschiedene moralische Betrachtungsweisen des Menschen einnehmen. Der unterschiedliche Stellenwert des Menschen in den Theorien führt zu unterschiedlichen Ergebnissen für die moralisch korrekte Handlungsanweisung in einer Dirty-Hands-Situation. Wie bereits erwähnt, ist durch das Grundgesetz das Töten verboten. Dieses Verbot leitet sich aus der Sicht auf den Menschen ab: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.”11 Dieser Begriff der Menschenwürde lässt sich auf Immanuel Kant und dessen Moraltheorie zurückführen.
2.1 Die Kantische Ethik
Für Kant ist der Mensch ein Selbstzweckwesen, welcher Würde und einen absoluten Wert besitzt. Dieser Wert kommt dem Menschen aufgrund seiner Vernunftfähigkeit zu und gibt seinem Leben eine Würde. Diese Würde verbietet eine Instrumentalisierung des Menschen. Dieses Verbot lässt sich aus der Zweckformel des kategorischen Imperativs ableiten:
„Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“12
Menschen dürfen also nicht nur als Mittel zum Zweck „benutzt” werden, sondern müssen auch als Zweck „benutzt” werden. Kant will damit nicht sagen, dass man sich nicht von einem Taxifahrer befördern lassen darf, weil er als Mittel zum Zweck der Fortbewegung benutzt wird. Mit der Formulierung „zugleich als Zweck” fordert Kant die Zustimmungsfähigkeit der betroffenen Person ein. Das hat den Sinn, dass der Mensch für keinen Zweck instrumentalisiert werden darf. Man darf sich also vom Taxifahrer nach Hause fahren lassen, da dieser der Handlung zugestimmt hat oder zumindest zustimmen würde. Man muss den Taxifahrer auch nicht um Erlaubnis danach fragen, ob man ihn als Mittel für den Zweck der Fortbewegung benutzen darf, sondern man geht einfach stillschweigend davon aus, dass er damit einverstanden ist, weil er den Beruf des Taxifahrers gewählt hat. Wenn man also dieses Verbot der Instrumentalisierung befolgt, zeigt man dadurch die Achtung vor der Menschenwürde.
Laut Kant muss neben der Würde des Menschen auch noch die Autonomie des Menschen respektiert werden. Dies wird in einer weiteren Formel des kategorischen Imperativs berücksichtigt:
„...[Handle so]..., daß dein Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne.“13
Die Autonomieformel betrifft die Idee der menschlichen Selbstgesetzgebung. Moralische Normen sind für Kant selbstgesetzt und damit autonom. Die dritte Formulierung stellt somit sicher, dass die Maxime mit der Autonomie des Menschen vereinbar ist. Bei Kant ist immer die Rede von „dem kategorischen Imperativ“, dabei gibt es doch viele kategorische Imperative. Diese sind Handlungsaufforderungen, ohne Rücksicht auf subjektive Interessen und Neigungen. Hypothetische Imperative hingegen zielen auf einen Zweck ab und sagen einem, dass man sich einem bestimmten Mittel bedienen muss, wenn man ein bestimmtes Ziel erreichen will. So muss man z. B. üben, wenn man gut Klavier spielen können will. Jedoch ist der kategorischen Imperativ Kants ein Prinzip, aus welchem sich alle moralischen Imperative ableiten lassen. Es ist ein oberstes Prinzip bzw. eine moralische Forderung, der alle Handlungen genügen müssen, daher kann man es als eine Art Test bezeichnen. Mit dem kategorischen Imperativ kann getestet werden, was moralisch erlaubt ist.
Oben wurden bereits zwei Formeln des kategorischen Imperativs genannt, jedoch ist die meist zitierte Formulierung die Universalisierungsformel:
„handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“14
Die Universalisierungsformel ist ein Testverfahren für Maximen als subjektive Handlungsregeln. Die Maxime einer Handlung ist dann moralisch zulässig, wenn sie verallgemeinert bzw. universalisiert wird und dabei widerspruchsfrei gedacht und gewollt werden kann. Ob etwas gedacht oder gewollt werden kann, ist insofern wichtig, als dass Kant hier das Kriterium für vollkommene und unvollkommene Pflichten postuliert. Eine Maxime, die, wenn sie universalisiert wird, nicht gedacht werden kann, verstößt gegen eine vollkommene Pflicht. Diejenigen, die nicht gewollt werden können, verstoßen gegen unvollkommene Pflichten.
Hierbei muss zuerst zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten unterschieden werden. Diese Unterscheidung der Pflichten wird anhand der Rechte der Anderen getroffen. Person A hat ein Recht auf Leben und somit besteht für jeden anderen Menschen die vollkommene Pflicht, Person A nicht zu töten. Andererseits gibt es unvollkommene Pflichten, wie die Hilfeleistung, auf die aber keine Person Anspruch erheben kann, da sie kein Recht dazu hat. Somit sind unvollkommene Pflichten den vollkommenen Pflichten untergeordnet und geben eher einen normativen Rahmen für moralische Handlungen, als dass sie konkrete Handlungen vorschreiben. Vollkommene Pflichten sind bei Kant absolute Pflichten. Absolute Pflichten, sind Pflichten, welche in jedem Fall befolgt werden müssen. Wenn zwei verschiedene Pflichten in einer Entscheidungssituation kollidieren, muss die absolute Pflicht befolgt werden.
So ist Kant der Meinung, das selbst in einem moralischen Dilemma, wie z. B. dem zu Unrecht Verfolgten15, die Pflicht zur Wahrheit besteht.
In diesem Punkt unterscheiden sich modernere deontologische Ethiken von derjenigen Kants. Sie sehen vollkommene Pflichten nicht direkt als absolut an, da es auch sein kann, dass unvollkommene Pflichten in bestimmten Situationen die vollkommenen Pflichten überwiegen. So kann z. B. einer bestimmte Hilfeleistung Vorrang gegenüber der Einhaltung eines Vertrages zukommen. In der deutschen Gesetzgebung ist dieser Ansatz im Rahmen der Strafbarkeit der unterlassenen Hilfeleistung verwirklicht. Hierbei werden für Unterlassung von Hilfeleistungen oft höherer Strafen verhängt als bei einer Straftat, welche eine vollkommene Pflicht verletzt. Es gibt mehrere Punkte, die Kant vertreten hat, die heutige „Deontologen”16 so nicht mehr vertreten.
„Eine ethische Theorie heißt ‚deontologisch’, wenn sie die von ihr vorgeschlagenen Normen nicht ausschließlich mit Bezug auf die moralische oder nicht-moralische Qualität der Handlungsfolgen, sondern zumindest teilweise auch mit Bezug auf die innere Beschaffenheit der jeweiligen Handlung begründet.”17
Diese Definition von „deontologisch“ zeigt den Unterschied zu Kants Theorie, da er die Norm ausschließlich mit Bezug auf die innere Beschaffenheit der jeweiligen Handlung begründet. Welche Folgen die Handlung hat, spielt für Kant keine Rolle, es ist lediglich wichtig, dass die moralischen Gebote und Verbote befolgt werden. Er ist ebenso der Meinung, dass eine Welt, in der die moralischen Prinzipien vollkommen befolgt werden, einer Welt vorzuziehen ist, in der die Prinzipien nicht immer befolgt werden, aber sich daraus bessere Folgen ergeben. Das beste Beispiel dafür, dass die Folgen keine Rolle spielen, ist Kants Straftheorie:
„Selbst, wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflöste (z.
B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinander zu gehen und sich in alle Welt zu zerstreuen), müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind [...].”18
Die Tatsache, dass die Folgen einer Handlung nichts über die moralische Qualität der Handlung aussagen, ist für meine Untersuchung sehr wichtig, da man eine ziemlich klare Antwort auf die Frage nach dem Töten bekommt. Strenge deontologische Theorien wie die Kantische, machen Aussagen der Form: „Handlungen der Art x sind in Situationen vom Typ y immer richtig bzw. falsch, egal welche Folgen sie mit sich bringen.” Anhand des kategorischen Imperativs ist man somit nun in der Lage, eine Handlung auf ihre moralische Zulässigkeit zu prüfen. In meinem Fall wäre dies die Maxime des Tötens. Menschen zu töten, ist für Kant eine Verletzung einer vollkommenen Pflicht, da es laut Kant das Kriterium der Nicht-Denkbarkeit erfüllt. Jedoch ist hier die Universalisierungsformel nicht adäquat, da man sich sehr wohl eine Welt denken kann, in der Anarchie herrscht und jeder jeden töten darf. Eine Gesellschaft, die sich das Töten zur Maxime gemacht hat, kann diese auch sehr gut ausführen. Zwar besteht für die einzelne Person die Gefahr, selbst getötet zu werden, jedoch widerspricht dies nicht seinem Wunsch zu töten. Wenn der Person das Töten wichtiger ist, als die Sicherheit, nicht getötet werden zu wollen, dann kann man noch nicht einmal mehr von einer unvollkommenen Pflicht sprechen.
Mit der Zweckformel hingegen lässt sich das Tötungsverbot sehr einfach begründen, da beim Töten ganz eindeutig der Selbstzweck des Menschen verletzt wird. Hier kann in keiner Weise von einer Zustimmung der zu tötenden Person ausgegangen werden. Eine Ausnahme bildet hier die Euthanasie, denn hier ist eben diese Zustimmung vorhanden. Zwar würde Kant sich sicherlich gegen Sterbehilfe aussprechen; dafür ist er jedoch Befürworter einer anderen Art der Tötung, nämlich der Todesstrafe. Kants Meinung zur Todesstrafe habe ich bereits oben erwähnt, da ich aber weder Euthanasie noch die Todesstrafe in meiner Arbeit behandeln will, ist es lediglich wichtig, dass sich Kant eindeutig gegen das Töten ausspricht. Mit Ausnahme der Todesstrafe, betrachtet Kant das Töten als eine Verletzung einer vollkommenen Pflicht und als Missachtung des Selbstzwecks des Menschen und damit auch der menschlichen Würde.
2.2 Der Utilitarismus
Einen komplett anderen Ansatz verfolgt der Utilitarismus, als Form des Konsequentialismus. Dem Menschen wird im Utilitarismus kein absoluter Wert zugesprochen, sodass er kein Zweck an sich ist. Der Zweck des Utilitarismus ist, „das größte Glück für die größte Zahl”. Diese Ansicht vertrat Jeremy Bentham, welcher den Utilitarismus einführte. Der Wert des Utilitarismus ist der „Nutzen” (utility), daher auch der Name. Der Nutzen im Utilitarismus ist im Gegensatz zum gewöhnlichen Sprachgebrauch keine relative Größe, sondern bezeichnet das durch die Handlung eines Individuums realisierte Glück. Als berühmtester Vertreter des Utilitarismus gilt jedoch John Stuart Mill, den ich im Rahmen meiner Untersuchung behandeln werde. Es gibt zwar mittlerweile eine Fülle von weiterentwickelten utilitaristischen Positionen, jedoch beschäftige ich mich exemplarisch mit Mills Theorie, da sich anhand seines Ansatzes die zentralen Punkte, die für meine Untersuchung wichtig sind, sehr gut verdeutlichen lassen.
Mill definiert den Utilitarismus wie folgt:
„Nach dem Prinzip des größten Glücks ist, wie oben erklärt, der letzte Zweck, bezüglich dessen und um dessentwillen alles andere wünschenswert ist (sei dies unser eigenes Wohl oder das Wohl anderer), ein Leben, das so weit wie möglich frei von Unlust und in quantitativer und qualitativer Hinsicht so reich wie möglich an Lust ist [...]. Indem dies nach utilitaristischer Auffassung der Endzweck des menschlichen Handelns ist, ist es notwendigerweise die Norm der Moral. Diese kann also definiert werden als die Gesamtheit der Handlungsregeln und Handlungsvorschriften, durch deren Befolgung ein Leben der angegebenen Art für die gesamte Menschheit im größtmöglichen Umfange erreichbar ist; [...].”19
Eine Handlung ist also dann moralisch richtig, wenn sie das Glück bzw. den Nutzen der betroffenen Personen maximiert; dies wird auch als die Maximierungsregel bezeichnet. Um diese „nützlichste” Handlung zu bestimmen, muss ein Kosten-Nutzen-Kalkül erstellt werden, in dem Glück und Leid quantitativ und qualitativ abgewogen werden. Man bezieht also ein, wie viele Menschen wie lange und wie großes Glück und Leiden erfahren und addiert die Werte.
Beim Addieren muss darauf geachtet werden, dass jeder Mensch den Wert „1“ bekommt und damit jeder gleich viel zählt.
“Jeder zählt für einen, keiner für mehr als einen.”20
Dies ist eine komplett andere Einschätzung des Wertes eines Menschen, wie es bei Kant der Fall war. Somit ist auch klar, das beim Utilitarismus die moralische Richtigkeit bzw. Falschheit ausschließlich von der Qualität der Handlungsfolgen abhängt. Diese bedeutende Rolle der Handlungsfolgen ist typisch für alle konsequentialistischen Ethiken. Die konsequentialistische Ethik enthält einerseits einen werttheoretischen bzw. axiologischen Teil, der bestimmt, welche Handlungen, Ereignisse und Zustände
wünschenswert sind, andererseits enthält sie einen normativen Teil, der festlegt, welche Handlungen aufgrund dessen, ob ihre Folgen wünschenswert sind, moralisch richtig oder falsch sind. Erlaubnisse und Pflichten haben eine instrumentelle Funktion, da sie das Mittel sind, um das Gute zu fördern und Übel zu vermeiden.
Es gibt sehr viele verschiedene Richtungen im Konsequentialismus, sodass es verschiedene Vorstellungen darüber gibt, welche Handlungen, Ereignisse und Zustände wünschenswert sind, d. h. es gibt verschiedene Axiologien. Unabhängig von den Axiologien existieren auch verschiedene normative Vorstellungen, die bestimmen, welche Folgen für die Beurteilung von Handlungen relevant sind.
Dass die faktischen Folgen nicht zur Beurteilung einer Handlung herangezogen werden, ist einleuchtend. Ansonsten würde dies in einem System des moralischen Zufalls enden. So könnte die Fahrt zum Einkaufen mit dem Auto zu einer moralisch falschen Handlung werden, wenn ein Kind vor das Auto springt und verletzt wird. Ein misslungener Mordanschlag könnte dagegen sogar moralisch wünschenswert sein, da sich das vermeintliche Opfer danach viel lebendiger fühlt. Um die moralische Handlungsbeurteilung nicht in die Hände des Zufalls zu legen, muss man die Folgen aus einer Perspektive sehen, die zeitlich vor der Handlung liegt. Welche Folgen nun genau relevant für die Beurteilung der moralischen Qualität von Handlungen sind, ist umstritten und es lassen sich vier verschiedene Ansätze ausmachen, die allesamt problembehaftet sind:
1. Man beurteilt nach den Folgezuständen, die der Akteur mit ihnen beabsichtigt. Jedoch fließen hierbei mögliche Nebenfolgen nicht in die Beurteilung ein.
2. Man beurteilt nach den Folgen, die der Akteur voraussieht.
Der Handelnde könnte bestimmte Folgen vorhersehen, wenn er sich besser informieren würde, daher können nicht nur diejenigen Folgen berücksichtigt werden, die der Akteur voraussieht.
3. Man beurteilt nach den Folgen, die der Akteur voraussehen kann.
Dass der Akteur die Folgen nicht vorhersehen konnte, macht die Handlung zwar entschuldbar, aber sie wird dadurch nicht moralisch richtig.
4. Man beurteilt nach den Folgen, die nach dem Stand des Wissens hätten vorausgesehen werden können.
Dies ist ein gut formulierter Ansatz, jedoch ist damit eine große Unsicherheit bezüglich der Abschätzung von Folgen verbunden.
Oftmals können Folgen nicht mit Sicherheit, sondern lediglich mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorhergesehen werden. Auch diese Wahrscheinlichkeit ist nur schwer einzuschätzen. Zudem ist es fast unmöglich immer alle wahrscheinlichen Folgen vorherzusehen. Daher ist eine Folgenabschätzung und deren Beurteilung sehr schwierig. Ein weiterer Punkt, an dem sich die konsequentialistischen Geister scheiden, ist die Bewertung der Folgen. Hierbei unterscheidet man zwischen teleologischem und nichtteleologischem Konsequentialismus.
Hauptsächlich wird der teleologische Konsequentialismus vertreten, zu dem auch der Utilitarismus zählt, bei dem die Handlungen an der nicht-moralischen Qualität der Folgen bewertet werden.
Beim nicht-teleologischen Konsequentialismus bewertet man Handlungen anhand der moralischen Richtigkeit ihrer Folgen. Diese Form wird kaum vertreten, da man, um eine Handlung unabhängig von einer nicht-moralischen Qualität zu bewerten, auf deontologische Ansätze zurückgreifen muss.
Nun muss noch geklärt werden, wie sich die Folgenbewertung auf die Handlungsbeurteilung auswirkt. Denn selbst bei gleicher Folgenbewertung könnten verschiedene Normen abgeleitet werden, je nach dem, für wie relevant die Güter und Übel für die Beurteilung der Handlungen gehalten werden. Somit können einige Ethiken eine Pflicht gegenüber allen Menschen aus allen Ländern für alle Zeit ableiten und andere lediglich gegenüber ihrer Familie und ihren Freunden. Inwieweit so eine Verpflichtung besteht, ist ebenfalls umstritten.
Hauptsächlich unterscheidet man zwischen dem Maximierungs-Prinzip und dem Satisficing-Prinzip. Beim Maximierungs-Prinzip, das dem Utilitarismus zugrunde liegt, ist man verpflichtet, jene Handlung auszuführen, die das Gut maximiert, denn dies ist die einzig moralisch richtige Handlung. Alle anderen Handlungen sind moralisch falsch und pflichtwidrig. Dies birgt die Schwierigkeit in sich, genau diese eine richtige Handlung zu finden, da, wie bereits erläutert, es doch erhebliche Schwierigkeiten bei der Folgenabschätzung und der Folgenbewertung gibt.
Demgegenüber steht das Satisficing-Prinzip, welches mehrere richtige und pflichtgemäße Handlungen zulässt. Man setzt dazu eine bestimmte moralische Grenze fest und alle Handlungen, deren Folgen diese Grenze nicht erreichen, sind moralisch falsch. Alle Handlungen, die genug Gutes hervorbringen, werden als moralisch richtig betrachtet, sodass es nicht nur ausschließlich eine richtige Handlung gibt.
Als Vertreter des Utilitarismus ist es sehr schwierig zu wissen, wann man wie und in welchem Ausmaß handeln muss. Einerseits wird der Akteur hinsichtlich der Vielzahl von Handlungsoptionen und deren Folgeabschätzungen und -abwägungen massiv überfordert. Andererseits muss der Akteur jegliche persönliche Präferenzen ausblenden, da weder Freunde noch Familie relevant für seine Entscheidung sein dürfen. Dies macht es ebenfalls schwieriger, sich an die moralischen Pflichten zu halten. Ein oberstes konsequentialistisches Prinzip wie z. B. das utilitaristische Primärprinzip, welches verlangt, dass man das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl an Menschen realisieren soll, ist sehr abstrakt.
Solch abstrakte Prinzipien sind in der Praxis schwer zu erlernen und zu vermitteln, da sie praktisch keine Handlungsmotivation und -orientierung liefern.
Dass die von der Maximierungsregel bedingte Erstellung von Kosten-Nutzen-Kalkülen vor jeder Handlung absolut unpraktikabel ist, stellt ein ernst zunehmendes Problem des klassischen Utilitarismus dar. Mill führt daher die Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärprinzipien ein. Um die praktischen Schwierigkeiten des Primärprinzips zu vermeiden, werden Sekundärprinzipien postuliert, welche die soziale Norm in der Praxis festlegen. Sekundärprinzipien werden deshalb auch als „Praxisnormen“ bezeichnet und gelten als Hilfsprinzipien, um die Primärprinzipien unter realen Bedingungen durchsetzen zu können. Solch eine Praxisnorm, kann z. B. das Tötungsverbot sein.
Dieses Verbot ermöglicht ein sicheres Leben und fördert damit das Gesamtwohl aller. Somit ist es im Sinne des Primärprinzips. Jedoch gilt diese Praxisnorm nur in Alltagssituationen; da aber Dirty-Hands-Situationen keine Alltagssituationen sind, kommt hier das ganze Ausmaß des Primärprinzips zum Tragen. Wenn es darum geht, wenige zu töten um viele zu retten, werden gründlich alle Folgen auf Glück und Leid hin abgewogen. Hierbei wird das Töten eines Menschen keineswegs ausgeschlossen. Der Unterschied zwischen Töten und Sterbenlassen spielt keine Rolle, solange damit möglichst viel Glück realisiert wird. Für den Utilitaristen ist es moralisch erlaubt, sogar geboten, wenige Menschen zu töten, um viele zu retten, um dadurch dem Maximierungsprinzip gerecht zu werden. Das Glück, das durch die Rettung vieler entsteht, überwiegt das Leid, welches wenige durch ihren Tod erfahren. Das Töten ist somit ein legitimes Mittel, um den Zweck der Glücksmaximierung zu erreichen. Daher könnte man sagen, dass man sich aus der Sicht des Utilitarismus gar nicht die Hände schmutzig macht, da man einfach nur das Richtige tut. Somit gibt es eigentlich keine wirkliches Dilemma und keine Dirty-Hands- Situation. Dennoch werde ich den Begriff der Dirty-Hands weiter verwenden, da selbst ein Utilitarist die Brisanz der Situation erkennt.
2.3 Der Utilitarismus vs Kantische Ethik
Beide Moraltheorien geben somit eine klare Antwort auf die Frage, ob man töten darf. Die Antworten unterscheiden sich deshalb voneinander, weil die beiden Theorien auf einem einzigen und letzten Grundprinzip fußen. Das Grundprinzip des Utilitarismus ist die Glücksmaximierung, welche im Gegensatz zu dem kantischen Grundprinzip des kategorischen Imperativs steht.
Nun stellt sich die Frage, welches Prinzip geeigneter ist, um ein Dirty-Hands-Problem zu lösen. Zum einen will man an der von der Kantischen Ethik begründeten Menschenwürde festhalten, jedoch will man auch die größere Zahl an Menschen retten. Dass mehr Menschen mehr Glück realisieren können und es besser ist, wenn mehr Menschen gerettet werden, erscheint intuitiv richtig und das Prinzip, dass jeder genau 1 zählt, erscheint gerecht. Ob dieses Prinzip wirklich gerecht ist und ob es wirklich besser ist, mehr Menschen zu retten, kläre ich anhand der nächsten Fragestellung.
3. Wie viel zählt ein Mensch?
Bevor man die Frage beantworten kann, ob man einen Menschen töten darf, um mehrere Menschen zu retten, muss erst geklärt werden, wie viel ein Leben zählt und ob mehrere Leben mehr zählen. Sind mehr Menschen mehr wert, als wenige Menschen? Wenn es darum geht Menschen zu helfen oder zu verhindern, dass ihnen schlechtes widerfährt, dann ist es in den meisten Fällen einfach zu entscheiden, was moralisch richtig ist, unabhängig davon, welche Ethik man vertritt. Ein Mensch, der zu ertrinken droht, wird von einem Kantianer und von einem Utilitaristen gerettet.
3.1 Die Trade-off-Situation
Es gibt Situationen in denen mehrere Menschen Hilfe benötigen, die sich in verschiedenen Gruppen bzw. Parteien wiederfinden. Wenn es mehrere Parteien gibt, denen man helfen will, aber man nur einer Partei geholfen werden kann, befindet man sich in einer so genannten Trade-off-Situation. Dann hat man die Möglichkeit, diesen oder jenen Menschen zu helfen. Wenn man also nur einer Gruppe von Menschen helfen kann, ist es nicht eindeutig, welcher Gruppe man helfen soll.21
Deshalb sind solche Trade-off-Situationen auch Dirty-Hands-Situationen, obwohl es nicht um ein aktives Töten geht. Um diese Fragestellung zu analysieren, konstruiert man am besten eine sehr vereinfachte Situation: Fünf Menschen (Person A, B, C, D und E) sind todkrank und benötigen eine bestimmte Medizin. Man besitzt die passende Medizin in der Menge x. Person A benötigt die gesamte Menge x, um nicht zu sterben. Die Personen B, C, D und E benötigen hingegen nur jeweils ¼ x der Medizin, um nicht zu sterben. Somit ergeben sich zwei Gruppen, die man retten kann: Zum einen Gruppe 1, die lediglich aus Person A besteht und Gruppe 2, die sich aus den Personen B, C, D und E zusammensetzt.
Um tatsächlich nur die Anzahl der Leben zu analysieren, konstruiere ich den Fall unter folgenden Bedingungen:
1.Über die Personen ist nichts bekannt, noch nicht einmal ihr Alter.
2.Es gibt keine akteur-relativen Verpflichtungen.
3.Alle Personen sind Fremde.
4.Kein betroffenes Gruppenmitglied ist im Besitz des Medikaments.
3.2 Die Nichterfüllung der vier Bedingungen
Intuitiv würden die meisten sagen, dass es moralisch richtig ist, die vier Personen zu retten und den einen sterben zu lassen. Das kommt daher, dass man intuitiv den Tod von vier Personen als schlimmer empfindet, als den Tod eines einzelnen. Somit entspricht unsere Intuition der Maximierungsregel, die von den Utilitaristen als Maßstab für moralisches Handeln angesehen wird. Aus utilitaristischer Sicht ist der Fall eindeutig. Jeder Mensch zählt gleich viel, nämlich 1 und somit zählen die vier Personen mehr als die eine. Die vier Personen können eher das Glück maximieren als die eine, daher müssen die vier gerettet werden.
Wenn jedoch die oben genannten Bedingungen 1-4 nicht erfüllt sind, entspricht die Maximierungsregel nicht mehr unserer Intuition.
Nichterfüllung der ersten Bedingung:
Wenn Person A kurz davor wäre, ein Heilmittel gegen Aids zu entwickeln, oder kurz davor wäre, den Weltfrieden zu bewirken, dann hängt am Überleben von Person A indirekt das Überleben von Tausenden Menschen. Nun wäre die Rechnung nicht mehr 1:4, sondern 100.000:4, und damit müsste man Person A retten. Doch damit gesteht man ein, dass die Menschen nicht mehr denselben Wert besitzen, denn Person 1 besitzt nicht mehr den Wert 1, sondern 100.000 als Wert.
Aber nicht nur in solchen Extremfällen ist es nicht eindeutig, welchen Wert man bestimmten Personen zuschreiben soll. Angenommen, Person A ist ein junges Kind, welches sein ganzes Leben noch vor sich hat und in Gruppe 2 sind alle jeweils schon über 80 Jahre alt und haben neben der besagten Krankheit noch andere Leiden, wodurch die Lebenserwartung der Gruppe 2 durchschnittlich nur noch bei ein bis zwei Jahren liegt. Somit kann man wieder rechnen und die verbleibenden Lebensjahre gegeneinander aufwiegen. Person A ist fünf Jahre alt und hat bei einer Lebenserwartung von 70 Jahren noch 65 Jahre vor sich, Gruppe 2 hingegen hat zusammenaddiert noch nicht mal mehr 10 Jahre vor sich.
Diese Auffassung ist schwer mit einer gerechten Moraltheorie in Einklang zu bringen, da alte, unbegabte, kranke oder behinderte Menschen diskriminiert werden. Jemand, der vom Schicksal mit einem hohen Maß an Intelligenz und Gesundheit gesegnet worden ist, hat bereits schon sehr viele Vorteile im Leben genossen, gegenüber jemandem, dem das Schicksal nicht so wohl gesonnen war. Dieser Mensch kann nicht auch noch im Fall einer Rettung bevorzugt werden, ohne jegliche Auffassung von Gerechtigkeit aufzugeben.
Man könnte aber auch von einem moralischen Wert der Personen ausgehen. Angenommen, Person A ist ein aufrichtiger Mensch, der vielen Menschen hilft und es gibt viele Menschen, die auf ihn angewiesen sind und ihn lieben. Gruppe 2 hingegen besteht aus verurteilten Kinderschändern und Mördern, deren Ableben niemand in tiefe Trauer stürzen würde. Somit wären durch den Tod von Person A Hunderte von Menschen hilflos und traurig und durch den Tod der Personen B bis E wäre niemand betroffen, vielleicht würden sich die Angehörigen der Opfer sogar über deren Tod freuen. In diesem Fall kann man nicht von Diskriminierung sprechen, da man Person A nicht aufgrund seiner unverdienten Eigenschaften bevorzugt, sonder aufgrund seiner positiven Taten. Genauso werden die anderen aufgrund ihrer Taten benachteiligt.
Nichterfüllung der zweiten Bedingung:
Angenommen, man ist ein Militärarzt im Dienst und Gruppe 1 ist ein Soldat derselben Einheit, während Gruppe 2 aus ausländischen Zivilisten besteht. Dann ist man verpflichtet, dem Soldat die Medizin zu geben.
Auch wenn man im Vorfeld mit Person A einen Vertrag abgeschlossen hat, dass er die Medizin bekommt, ist man verpflichtet, ihn anstatt der vier zu retten.
Aus utilitaristischer Sicht könnte man einwenden, dass es darauf ankommt zu klären, ob ein Vertragsbruch bzw. eine Nichterfüllung der militärischen Pflicht oder der Tod mehrerer Menschen mehr Leid erzeugt.
Nichterfüllung der dritten Bedingung:
Wenn man entscheiden muss, wer die Medizin bekommt und Person A ist ein Mensch, den man liebt, dann ist einem Person A mehr Wert als Gruppe 2 und es ist nachvollziehbar, dass Person A die Medizin bekommt. Es ist aber fraglich, ob es moralisch vertretbar ist, diese Entscheidung anhand von persönlichen Präferenzen zu treffen. Denn die Tatsache, dass man die Person A zufällig kennt und mag, ändert nichts an der Tatsache, dass der Tod von vier Personen schlimmer ist, als der Tod einer Person. Diese Ausblendung von persönlichen Beziehungen im Utilitarismus macht es für manche besonders schwer, diese Moraltheorie zu vertreten. Aber man könnte so argumentieren, dass es eine Art vertragliche Verpflichtung geben kann.
Wenn man mit Person A im Vorfeld einen Vertrag abgeschlossen hat, ihm die Medizin zu geben, dann ist man dazu moralisch verpflichtet. So kann man auch behaupten, dass es eine Art unausgesprochenen Vertrag zwischen Freunden und Verwandten gibt, der einen dazu verpflichtet, die geliebte Person anstatt der fremden Person zu retten. Jedoch könnte man hier einwenden, dass so eine persönliche Beziehung rechtfertigen kann, dass man ihr die Medizin gibt, obwohl dies moralisch falsch ist. Denn wenn man davon ausgeht, dass der Tod von mehr Menschen mehr Leid erzeugt, dann wäre es unmoralisch, dieses größere Leid in Kauf zu nehmen, nur um das eigene Leid zu reduzieren. Zumindest kann man so argumentieren, wenn man die Glücksmaximierung für sinnvoll hält. Jedoch ist es völlig kontraintuitiv zu sagen, es sei unmoralisch, den Menschen zu retten, den man liebt. Eine Verpflichtung, einen Freund, seine Mutter oder sonst eine Person, die man liebt, sterben zu lassen, um Fremden das Leben zu retten, erscheint doch sehr unmenschlich, um nicht zu sagen unmoralisch.
Nichterfüllung der vierten Bedingung:
Wenn man annimmt, dass die Medizin Person A gehört, dann ist man verpflichtet, die Medizin Person A zu geben, da sie als einzige einen legitimen Anspruch hat. Hier stellt sich eher die Frage, ob Person A moralisch verpflichtet ist, die Medizin an die vier anderen Personen abzugeben und den eigenen Tod in Kauf zu nehmen. Verhält er sich unmoralisch, da er sein eigenes Leben als wertvoller einschätzt als das der anderen vier
Menschen zusammen und zulässt, dass ein schlimmeres Ereignis als sein eigener Tod, nämlich der Tod mehrerer, eintritt? Es muss nicht der Fall sein, dass Person A sein Leben als wertvoller empfindet als das der vier anderen zusammengenommen; es ist nur einfach so, dass es für Person A nichts schlimmeres gibt, als der Verlust des eigenen Lebens. Dies ist nachvollziehbar und keineswegs moralisch verwerflich und das Argument, dass der Tod der Anderen schlimmer ist, stimmt für Person A nun mal nicht, denn für Person A ist es nicht das größere Übel, dass die anderen sterben.
Wenn man utilitaristisch argumentiert, müsste man so etwas sagen wie: „Du musst dein Leben opfern, denn die Personen B bis E können zusammen mehr Glück realisieren, als du als Einzelperson, und somit können sie die Glückssumme eher erhöhen als du. Und da das, was einen höheren Überschuss an Glück erzeugt, das moralisch Richtige ist, musst du dein eigenes Leben opfern.” Dieses Argument klingt an sich schon ziemlich absurd und besitzt keinerlei Überzeugungskraft. Außerdem tut A niemandem Unrecht, wenn er seine Medizin nicht abgibt, da keine der anderen Personen einen legitimen Anspruch auf die Medizin hat. Person A besitzt die Medizin und hat damit als einziger einen legitimen Anspruch darauf und ist nicht moralisch dazu verpflichtet, die Medizin jemand anderem zu geben und darf frei entscheiden. Also müsste man auch als außenstehende Person frei entscheiden dürfen, wem man die Medizin gibt, wenn man der Besitzer der Medizin ist. Denn für Person A gelten dieselben Rechte und moralischen Verpflichtungen, wie für alle anderen auch. Jedoch sind diese moralischen Verpflichtungen akteur-relativ und somit gelten andere Rechte für eine außenstehende Personen und Person A. Wenn Person A aus Notwehr einen Angreifer töten darf, bedeutet dies nicht, dass jeder den Angreifer töten darf, da nicht jeder angegriffen wird. Analog verhält es sich auch in dem Beispiel, denn nur, weil Person A sich selbst retten darf, bedeutet dies nicht, dass man nach Lust und Laune entscheiden darf, wem man die Medizin gibt. Für den Utilitaristen ist es aber dennoch klar, die Medizin der größeren Gruppe zu geben, obwohl man dazu verpflichtet ist, selbst wenn dadurch die Eigentumsrechte von A verletzt werden. Selbst A ist dazu verpflichtet.
Wenn die vier Bedingungen erfüllt werden, spricht in einer Trade-off-Situation nichts gegen die Maximierungsregel. Selbst Kantianer können hier der größeren Zahl an Menschen helfen, da dies nicht im Widerspruch zum kategorischen Imperativ steht. Jedoch könnte man einbringen, dass es doch im Widerspruch zur Zweckformel steht, da man die kleinere Gruppe „opfert” und damit instrumentalisiert. Aber von „opfern” kann man in einem solchen Fall nicht sprechen, da der Helfer passiv gegenüber der kleineren Gruppe bleibt. Er würde sie opfern, wenn er ihnen gegenüber aktiv werden würde und sie z. B. für das Wohl der Anderen töten würde. Doch diesen Punkt werde ich später noch ausführlicher erarbeiten. Wichtig ist, dass der Katianer nicht gegen eine vollkommene Pflicht verstößt, sondern lediglich zwei gleichwertige unvollkommene Pflichten gegeneinander abwägt. Da er gegenüber beiden Gruppen die Pflicht zur Hilfeleistung hat, muss er sich entscheiden. Die Folgenbewertung kann dabei dieselbe sein wie die des Utilitaristen, nämlich dass der Tod Mehrerer schlimmer wäre. Der Kantianer kann somit die größere Gruppe aufgrund der Folgen vorziehen, jedoch ist dies nicht die moralische Beurteilungsgrundlage. Er muss den Menschen nicht helfen, weil die daraus resultierenden Folgen besser sind, sondern weil das Helfen eine pflichtgemäße Handlung ist. Die Maximierungsregel anzuwenden, ist in einem solchen Fall nun auch einmal für den Kantianer plausibel.
Wenn aber die vier Bedingungen nicht erfüllt sind, dann wirkt die Maximierungsregel eher unplausibel, da man persönliche Beziehungen, Eigentumsrechte, vertragliche und gesellschaftliche Verpflichtungen als Richtlinie für die Verteilung der Medizin intuitiv als wichtiger empfindet. Auch der Wert, den man den einzelnen Personen zuschreibt, scheint doch ein erheblicher Faktor zu sein. Es fällt einem doch eher schwer, vier Schwerverbrecher zu retten, als ein unschuldiges Kind. Daher muss der Wert einer Person genauer untersucht werden.
3.3 Der Wert der Person
Darf man Menschen überhaupt einen Wert zuschreiben? Wenn wir uns eine Situation vorstellen, in der wir entscheiden müssen, ob wir fünf Elite-Studenten oder fünf Schwerbehinderte retten können, wäre es diskriminierend, die Elite-Studenten zu retten. Das würde zumindest ein Kantianer behaupten, der jedem Menschen eine Würde zuspricht, welche einen inneren Wert verkörpert, der sich nicht vergleichen lässt. Somit kann einem Menschen kein Wert im Sinne eines Preisschildes angehängt werden. Der Utilitarist hingegen glaubt nicht an einen solchen inneren Wert, sondern dass jeder den Wert 1 besitzt. Daher können die Werte der Menschen sehr wohl verglichen werde. In diesem Fall steht es damit jedoch 5:5. Daher könnte er abwägen, ob die Rettung der fünf Studenten oder die Rettung der fünf Behinderten bessere Folgen hätte.
Zwar würde der Aufschrei der Diskriminierung einen negativen Effekt haben, jedoch würde die Rettung der Studenten der Gesellschaft letztendlich mehr von Nutzen sein, daher wird er wohl die Studenten retten.
Solch eine Entscheidung hinterlässt einen faden Beigeschmack der Ungerechtigkeit, was wohl daran liegt, dass man intuitiv doch an eine Würde des Menschen glaubt und daher einen Vergleich anhand der Nützlichkeit für die Gesellschaft als unangebracht und ungerecht empfindet. Daher ist ein anderes Prinzip der Gerechtigkeit wünschenswert. Ein solches alternatives Prinzip ist die gleiche Verteilung von Überlebenschancen, bei dem jeder zu Rettende dieselbe Überlebenschance bekommt. In dem oben beschriebenen Fall gibt es zwei Gruppen und daher ergibt sich für jeden Einzelnen eine 50-%-Chance zu überleben. Hier kann man nun mit einem Münzwurf oder irgend einem anderen Zufallsverfahren eine Entscheidung herbeiführen. Somit wird einer Person kein Wert mehr zugeschrieben, sondern jede Person erhält dieselbe Chance zu überleben. Dadurch wird der Würde jeder Person Achtung geschenkt und man ist trotzdem in der Lage, eine Entscheidung zu treffen, die als gerecht empfunden wird.
3.4 Die Maximierungsregel vs. Zufallsentscheid
Wenn man bei dem Medizinbeispiel bleibt und davon ausgeht, dass alle vier Bedingungen erfüllt sind, ergeben sich zwei Möglichkeiten, die Personen zu bewerten. Möglichkeit 1:
Man bewertet jede Person gleich (und zwar mit dem Wert 1) und addiert die Werte je nach Anzahl, wie man es auch mit Gegenständen macht.
Wenn man nicht Werte von Menschen betrachten will, sondern das Leid, das durch ihren Tod entsteht, könnte man sagen, dass der Tod von vier Personen mehr Leid verursacht, als der Tod eines Einzelnen, da man Leid addieren kann. Ob man Leid so einfach addieren kann, ist jedoch umstritten22.
Unabhängig davon, ob man Menschenleben oder Leid addieren kann, steht die starke Intuition, dass der Tod von mehr Menschen mehr Leid verursacht. Besonders zum Tragen kommt diese Intuition, wenn man die Zahlen drastisch erhöht. Wenn es nicht mehr um einen oder vier geht, sondern um einen oder eine Milliarde. Dann ist es schwer die Anzahl zu vernachlässigen und so ziemlich jeder würde, ohne zu zögern, die Milliarde Menschen retten. Wenn man darüber entscheiden muss, ob man ein Krankenhaus in eine Großstadt baut oder in einem Dorf mit 100 Einwohnern, dann wäre es ziemlich töricht, die Anzahl der Menschen die man retten kann, zu vernachlässigen und das Krankenhaus in dem Dorf zu bauen.
Möglichkeit 2:
Man bewertet weder die Personen, noch das Leid und gibt jedem dieselbe Überlebenschance. Die Bewertung der Personen anhand von Möglichkeit 1 wäre die utilitaristische und würde dazu führen, dass man die vier Personen rettet und den einen sterben lässt. Eine alternative Lösung der Situation ist anhand von Möglichkeit 2 gegeben. Bei dieser Art der Bewertung von Menschen gibt es zwei Gruppen (wobei die zweite Gruppe nur aus Person A besteht), von denen jede eine Überlebenschance von 50 % bekommt. Jetzt muss nur noch z. B. eine Münze geworfen werden, um zu entscheiden, wer überleben darf und wer nicht. Das einzig vernünftige Argument, welches für die erste Möglichkeit spricht, ist die Annahme, dass der Tod von vier Menschen an sich schlimmer ist, als der Tod von einem. Doch wenn man jede Person einzeln betrachtet, hat jede Person dasselbe zu verlieren, nämlich sein Leben. Person 1 ist schwerer krank als die anderen und braucht daher mehr Medizin. Sollte er deshalb nicht dieselbe Chance haben wie die anderen? Nur weil man durch Zufall der kleineren Gruppe angehört, sollte man immer noch dasselbe Recht auf Rettung haben und daher auch dieselbe Überlebenschance bekommen. Jedoch kann man kritisieren, dass solch eine wichtige Entscheidung nicht durch ein Losverfahren oder einen Münzwurf getroffen werden sollte und dass man den Wert der Person nicht einfach ausblenden kann.
Da der Utilitarismus jeder Person den gleichen Wert zuschreibt und es gerecht erscheint, wenn jeder gleich viel zählt, kann man zumindest einen gerechten Ansatz erkennen. Dennoch bleibt die Kritik der Ungerechtigkeit an der Maximierungsregel haften. Eine Maximierung des Glücks ist aus der Sicht des Utilitaristen auch dann sinnvoll, wenn dies durch ungerechte Allokation geschieht.
Die Argumente könne daher die Maximierungsregel nicht angreifen; dennoch zeigen sie eine alternative Konzeption zur Bewertung der Menschenleben. Im Endeffekt steht auf der einen Seite die Intuition, dass der Tod Mehrerer schlimmer ist, als der Tod Weniger. Auf der anderen Seite steht der durch den Würdebegriff geprägte Gerechtigkeitsgedanke, jedem dieselbe Überlebenschance zu gewähren und deswegen den Zufall entscheiden zu lassen. Wenn man drastische Zahlen verwendet, wird, wie bereits erwähnt, die Intuition zugunsten der Maximierungsregel gestärkt, jedoch kann man die Zahlen auch so verändern, dass die Intuition gegen die Maximierungsregel spricht. Wenn es zwei Gruppen gibt, wobei Gruppe 1 aus 1.000.000 Menschen und Gruppe 2 aus 1.000.001 Menschen besteht, und die oben genannten vier Bedingungen erfüllt sind, fällt es schwer, hier von einer Intuition zugunsten der Maximierungsregel zu sprechen.
Sollte man in diesem Fall Gruppe 1 tatsächlich der Möglichkeit eines Münzwurfes (und damit einer 50:50 Überlebenschance) berauben, nur weil Gruppe 2 aus einem Menschen mehr besteht? Ich denke, in diesem Fall haben die meisten Menschen die Intuition, den Zufall entscheiden zu lassen.
Jedoch kann man keine Grenze ziehen, bei welcher Anzahl von Menschen bzw. bei welchem Gruppengrößenverhältnis die größere Anzahl gerettet werden sollte. Dies ist eine Abwägung zwischen Effizienz und Gerechtigkeit. Man will jedem eine gerechte Chance geben, jedoch will man auch effizient sein und möglichst viele Leben retten. Daher kann man auch nicht negieren, dass die Anzahl eine Rolle spielt. Aber um meine ursprüngliche Fragestellung zu beantworten, reicht mir die Erkenntnis, dass die Anzahl der Menschenleben manchmal eine Rolle spielt. Ob dies genügt, eine Tötung zu rechtfertigen, werde ich im nächsten Abschnitt erörtern.
4. Darf man Wenige töten, um Viele zu retten?
In den folgenden Abschnitten geht es nun um die „richtigen” Dirty-Hands-Situationen, bei denen ein aktives Töten eine Rolle spielt. Diese sind natürlich mit noch mehr Problemen behaftet als die Trade-off-Situationen, denn die Frage ob man töten darf, wurde unterschiedlich beantwortet und über die Frage, wie viel ein Mensch zählt, herrscht auch keine Einigkeit. Die Kantische Ethik verbietet das Töten in jeder Hinsicht und macht auch bei Dirty-Hands-Situationen keine Ausnahme. Der Utilitarismus gibt eine eben so klare Antwort und befürwortet das Töten, wenn damit das Glück maximiert werden kann, was in den Dirty-Hands-Situationen der Fall ist. Jedoch hat die Maximierungsregel durch die Beachtung der Menschenwürde anhand des Prinzips des Zufallsentscheids Konkurrenz bekommen. Daher will ich vor dem Hintergrund der verschiedenen Antworten versuchen zu klären, welche Position am geeignetsten ist, um in Dirty-Hands-Situationen eine Entscheidung zu treffen.
4.1 Das Dirty-Hands-Problem
Der Begriff der Dirty-Hands stammt aus der politischen Philosophie. Es gab schon oft Fälle, in denen sich Politiker in solchen moralischen Dilemmata befanden z. B. wenn man den Tod von Geiseln in Kauf genommen hat, um die Terroristen zu töten, die ansonsten noch mehr Menschen bedroht hätten. Anhand klassischer Beispiele23 will ich erörtern, wie man sich in bestimmten Situationen verhalten soll und auf welche Weise man sich die „Hände schmutzig machen“ muss, um damit die Frage „Darf man Menschen töten?” zu beantworten.
Alle Beispiele sind von der Form:
Wenn der Akteur x aktiv in das Geschehen eingreift und damit tötet, sterben weniger Menschen als wenn x nicht eingreift, aber dadurch viele Menschen sterben lässt.
Beispiel 1: der Weichensteller-Fall:
Ein Zug rast unaufhaltsam auf eine Gruppe von Bahnarbeitern zu, jedoch kann eine Weiche umgestellt werden, sodass der Zug auf eine kleinere Gruppe von Arbeitern trifft. Die größere Gruppe, die ohne jegliches Eingreifen sterben würde, besteht aus zehn Männern. Die kleinere Gruppe, die erst durch ein Umstellen der Weiche sterben würde, besteht aus zwei Männern. Die Position der Männer wurde ausgelost, daher sind die Arbeiter ohne eigenes Verschulden in der kleineren bzw. in der größeren Gruppe.
Beispiel 2: Der dicke Mann
Ein großes Fahrzeug rast unkontrolliert auf zwei spielende Kinder zu, die nichts von dem nahenden Unheil ahnen. Die Straße entlang geht ein sehr dicker Mann, der aufgrund seiner Masse das Fahrzeug zum stehen bringen könnte und die Kinder würden dadurch gerettet. Dazu muss der Mann vor das Fahrzeug gestoßen werden, was wiederum seinen Tod bedeuten würde. Man ist in der Lage, den Mann vor das Fahrzeug zu stoßen. Ansonsten gibt es keine Möglichkeit, das Fahrzeug zu stoppen.
Beispiel 3: Die gefangenen Indianer
Soldaten haben eine Gruppe von zehn Indianern gefangen genommen, welche verbotenerweise demonstriert hatten. Alle zehn Indianer sollen exekutiert werden, um an ihnen ein Exempel zu statuieren. Man bekommt als Unbeteiligter die Chance, neun Indianer zu retten, indem man einen erschießt.
Für den Kantianer ist in allen drei Fällen klar, dass nicht getötet werden darf, selbst in dem
3. Beispiel, wobei hier durch die Entscheidung, niemanden zu töten, keinem der Betroffenen geholfen wird. Denn selbst, wenn die Folgen durch ein Unterlassen des Tötens schlimmer sind, rechtfertigt dies keine Verletzung einer vollkommenen Pflicht. Demgegenüber steht die klare Aussage des Utilitaristen, der sich an die Maximierungsregel hält und in allen drei Fällen die kleinere Gruppe tötet. Doch vor allem bei dem zweiten Beispiel fällt es einem schwer zu akzeptieren, dass man moralisch dazu verpflichtet ist, diesen unschuldigen Mann vor das Fahrzeug zu stoßen. Man will einerseits doch an eine Würde des Menschen glauben und andererseits möglichst viele Leben retten. Daher gibt es Versuche diese, harten Thesen aufzuweichen und einen Weg zu finden, wie sich beides vereinen oder zumindest ein Kompromiss finden lässt.
[...]
1 Aus dem 2. Buch Mose; Exodus 20,13.
2 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland , I. Die Grundrechte, Artikel 2 (2).
3 Die allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Resolution 217 A (III) vom 10.12.1948.
4 Vgl. §32 Abs. 2 StGB.
5 Definition nach dem Duden.
6 Eine genaue Erörterung der Unterscheidung zwischen Töten und Sterbenlassen bzw. Tun und Unterlassen strebe ich hier nicht an, da es für meine Arbeit zu wissen genügt, dass Kantianer hier den moralisch relevanten Unterschied sehen und Utilitaristen nicht. Denn für Kantianer ist Töten eine Verletzung einer vollkommenen Pflicht und Sterbenlassen nur eine Verletzung einer unvollkommenen Pflicht. Für die Utilitaristen machen die Folgen einer Handlung, egal ob Töten oder Sterbenlassen, die moralische Richtigkeit aus. Eine ausführliche Erläuterung des Themas findet sich in Dieter Birnbacher: Tun und Unterlassen. Stuttgart, Reclam 1995.
7 Es lässt sich sicherlich darüber streiten, ob es sich immer noch um eine Dirty-Hands-Situation handelt, wenn kein aktives Töten in die Handlung involviert ist. Für meine Arbeit benutze ich daher eine weite Definition von DirtyHands, die Situationen einschließen, bei denen es ausschließlich ums Sterbenlassen geht.
8 Die in diesem Abschnitt besprochene Diskussion ist eine Anlehnung, an den Text: “Challenges to Human Equality” von Jeff McMahan.
9 Eine genaue Erläuterung dieser Fragestellungen werden in dem Buch: “The Ethics of killing” von Jeff McMahan erläutert.
10 Die folgenden Erläuterungen zur kantischen Ethik und dem Utilitarismus basieren auf: Dieter Birnbacher: „Analytische Einführung in die Ethik”.
11 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland , I. Die Grundrechte, Artikel 1 (1).
12 GMS AA S.429
13 GMS AA S.434
14 GMS AA S.421
15 In diesem Beispiel wird eine Person zu Unrecht verfolgt. Man weiß den Aufenthaltsort dieser Person und man weiß auch, dass wenn die Verfolger diesen Ort kennen, sie den Verfolgten töten werden. Die Verfolger fragen einen nun nach dem Aufenthaltsort des Verfolgten.
16 Bei meiner Literaturrecherche bin ich auf keinen offiziellen Namen für die Vertreter deontologischer Ethik gestoßen. Vertreter anderer bzw. spezieller Theorien haben bestimmte Bezeichnungen, so z. B. Konsequentialisten, Utilitaristen oder Kantianer, daher werde ich das Wort „Deontologe” verwenden. Diese Bezeichnung hat auch Dieter Birnbacher in „Analytische Einführung in die Ethik” verwendet, obwohl er dieses als „unschön” betitelte.
17 Birnbacher, Dieter: „Analytische Einführung in die Ethik” S. 116
18 MdS AA S.333
19 John Stuart Mill: Utilitarismus, S.21.
20 Mill´s Interpretation von Bentham aus: John Stuart Mill: Utilitarismus, S. 108.
21 Meine anschließende Untersuchung zur Fragestellung “Wie viel zählt ein Mensch?” bezieht sich auf folgende Texte:
- J.Taurek: Zählt die Anzahl?
- D. Parfit: Rechenschwache Ethik
- E. Rakowski: Zählt die Anzahl, wenn man Leben rettet?
22 Argumente für und gegen die Addierung von Leid finden sich in den bereits erwähnten Texten:
- J.Taurek: Zählt die Anzahl? S. 136/137
- D. Parfit: Rechenschwache Ethik S.150/151
- E. Rakowski: Zählt die Anzahl, wenn man Leben rettet? S.158
23 Diese Beispiele sind klassische Dilemma-Situationen in der Moralphilosophie und werden neben weiteren Beispielen in Dieter Birnbachers Text „Auflösung einiger hard cases”, welcher das siebte Kapitel seines Buches „Tun und Unterlassen” ist, dargestellt.
- Arbeit zitieren
- Samuel Kis (Autor:in), 2011, Entscheidungen treffen über Leben und Tod, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/171308
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