Von Geiern und Falken

Zoozentrismus in Texten von Samuel Johnson und Ted Hughes


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

17 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


1. Einleitung

„Der Mensch ist kein Fortschritt gegen das Tier.“ Friedrich Nietzsche, aus dem Nachlass

Als Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts diese Worte schrieb, war die Ansicht, der Mensch sei der Mittelpunkt der Schöpfung und der Welt, weit verbreitet. Auch heutzutage ist die anthropozentrische Sichtweise, die die angebliche Vormachtstellung und moralische Überlegenheit des Menschen über das Tier proklamiert, noch allgegenwärtig. Bei Missständen in der Tierhaltung, Tierversuchen o.ä. zeigen sich die direkten Konsequenzen dieser geistigen Haltung. Viel subtiler manifestiert sich die anthropozentrische Weltsicht in literarischen Texten: Fast immer steht ein menschlicher Protagonist im Zentrum einer Handlung, die in einer auf den Menschen ausgerichteten Welt stattfindet.

In der vorliegenden Seminararbeit soll es um Texte gehen, die diesem Schema nicht entsprechen und stattdessen tierische Protagonisten in einem auf sie ausgerichteten Lebensumfeld zeigen: Der erste Text ist Samuel Johnsons Fabel “The Vultures‘ View of Man” aus dem Jahre 1758, in dem Johnson Geier in den Mittelpunkt des Geschehens rückt (vultozentrische Perspektive), bei dem anderen Text handelt es sich um Ted Hughes‘ 1960 erschienenes Gedicht “Hawk Roosting” mit einem Falken als Protagonisten (falkozentrische Perspektive). Anhand dieser Texte soll bewiesen werden, dass sowohl Johnsons als auch Hughes' Werk eine nicht-anthropologische Weltsicht mit der Absicht vermittelt, den menschlichen Gattungsnarzissmus zu entlarven und das Bestialische im Menschen zum Vorschein zu bringen. Beide Autoren tun dies auf ganz unterschiedliche Weise, wie die Textanalyse zeigen wird.

Um beide Texte unter dem Gesichtspunkt des Vulto- bzw. Falkozentrismus untersuchen zu können, bedarf es zunächst einer Definition dieses sog. Zoozentrismus, die mithilfe von Leena Vilkkas Dissertation The Varieties of Intrinsic Value in Nature erarbeitet werden soll. Im Anschluss soll zunächst “The Vultures‘ View of Man” als vultozentrische Fabel untersucht werden, bevor die Analyse von “Hawk Roosting” als falkozentrischem Gedicht folgt. Der direkte Vergleich beider Texte soll die gemeinsame Intention von Johnson und Hughes zeigen, aber auch ihre unterschiedliche Herangehensweise verdeutlichen.

2. Definition von Zoozentrismus und Anthropozentrismus

Der Untersuchung von “The Vultures' View of Man” und “Hawk Roosting” muss die Definition einer nicht-anthropozentrischen Weltsicht vorangestellt werden, in deren Zentrum Tiere bzw. eine Tierart stehen, um die vulto- bzw. falkozentrische Weltsicht, die in den Werken Johnsons und Hughes' zum Tragen kommt, verständlich und damit analysierbar zu machen. Einen guten Anhaltspunkt liefert in diesem Zusammenhang Leena Vilkka mit ihrer Dissertation The Varieties of Intrinsic Value in Nature. A Naturistic Approach to Environmental Philosophy, in der sie Werte und Werturteile in Natur und Tierwelt untersucht. Dabei unterscheidet sie zwischen einer lebenszentrierten Weltanschauung, dem Biozentrismus, einer Weltsicht, in dessen Mittelpunkt Ökosysteme stehen, dem Ökozentrismus, und einer tierzentrierten Weltanschauung, dem Zoozentrismus. Letzteren definiert sie wie folgt: “a philosophy in which the issues, concepts, and values of animals are central“ (Vilkka 1995: 58). Nun sind die zu analysierenden Texte nur im weitesten Sinne als zoozentrische Texte zu verstehen, denn die jeweilige Erzählperspektive ist noch spezieller: Nicht die tierische Lebenswelt an sich wird aus tierischer Sicht geschildert, sondern Geier bzw. ein Falke richten ihren gattungsspezifischen Blick auf die Welt. Beiden gemeinsam ist eben die nicht-anthropozentrische Weltsicht und für ein besseres Verständnis der spezifischen zoozentrischen Weltanschauungen in beiden Texten soll hier auch der Anthropozentrismus im Sinne Vilkkas erläutert werden:

In the anthropocentric view, human life is thought to have a special value, sanctity or dignity, that no other life-forms have. The idea of the intrinsic value of human beings is often argued by philosophical Christianity, the primary source of values being God. Only human individuals as unique beings who are made in the image of God deserve to be valued intrinsically. (Vilkka 1995: 144)

Der Vulto- bzw. Falkozentrismus, der in den Texten von Johnson und Hughes dominiert, funktioniert entsprechend wie der Anthropozentrismus, allerdings mit dem Unterschied, dass nicht der Mensch, sondern jeweils der Geier bzw. der Falke den Mittelpunkt der Schöpfung und Lebenswelt bildet. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang auch die Degradierung anderer Gattungen zu Ressourcen, die Vilkka anspricht und die auch in den zu analysierenden Texten eine Rolle spielt. Vilkka zitiert zu diesem Thema Tom Regan: “'The fundamental wrong is the system that allows us to view animals as our resources, here for us - to be eaten, or surgically manipulated, or exploited for sport or money'“ (zitiert in Vilkka 1995: 60). Die tierschutzrechtliche Komponente steht in Vilkkas Dissertation im Vordergrund, was auch hier deutlich wird, doch taucht die Idee, andere, vermeintlich niedere Gattungen zu Ressourcen zu machen, sowohl in “The Vultures' View of Man” als auch in “Hawk Roosting” wieder auf. Wie zoozentrische Sichtweisen im Gegensatz zum normalerweise dominanten Anthropozentrismus ausgestaltet sein können und welche Wirkung sie beim Leser erzeugen, wird sich im Folgenden in der Analyse der beiden Texte zeigen.

3. “The Vultures‘ View of Man” als vultozentrische Fabel

Mit “The Vultures' View of Man” veröffentlicht Samuel Johnson am 9. September 1758 seinen Idler No. 22 als Teil der Wochenzeitung Universal Chronicles. Nach seinen Essay-Reihen The Rambler und The Adventurer sind die Idler -Beiträge leichtere Kost für eine breitere Leserschaft, denn als Teil der Universal Chronicles und in unzähligen Nachdrucken in anderen Zeitungen erreicht Johnson mit The Idler wesentlich mehr Leser als mit den zuvor selbstständig erschienenen Essayreihen (vgl. DeMaria 1994: 195). Im Idler finden sich vor allem moralische Essays, die sich mit den Grundfragen des Lebens beschäftigen und dem Leser in unterhaltsamer Weise Ratschläge und Belehrungen mit auf den Weg geben.

Auch “The Vultures' View of Man” hat einen didaktischen Anspruch, der sich schon in der Form des Beitrags zeigt: Es handelt sich um eine Fabel, mit der Johnson nicht nur seine Verurteilung der damaligen kriegerischen Handlungen Englands zum Ausdruck bringt, sondern auch die Schlechtigkeit des Menschen per se anprangert (vgl. DeMaria 1994: 198 f.). Zum besseren Verständnis dessen, was die literarische Gattung der Fabel für die Textanalyse bedeutet, sei dieser zunächst eine Definition des Begriffs 'Fabel' vorangestellt: Irmgard Schweikle und Wiebke Hoheisel definieren sie als eine

durch typisches Personal gekennzeichnete, meist einepisodische, lehrhafte Erzählung in Vers oder Prosa, in der nicht-menschliche Akteure [...] so handeln, als verfügten sie über menschliche Denk- und Verhaltensmuster. Konstitutiv ist darüber hinaus der modellhaft demonstrative Charakter der Fabel: Der dargestellte Einzelfall ist als anschauliches Beispiel für eine daraus ableitbare Regel der Moral oder Lebensklugheit zu verstehen. Die Fabel gehört mit dieser didaktisch-reflexiven Zweckausrichtung zum Bereich der Lehrdichtung. Die der Handlung zu entnehmende Lehre ist meist der Erzählung angefügt […], seltener ihr vorangestellt […]; sie kann aber auch in die Handlung integriert sein oder ganz fehlen. Der Kreis der Akteure ist eingegrenzt auf einen relativ kleinen Kanon bestimmter Tiere, denen jeweils konstante menschliche Eigenschaften zugeordnet werden (der schlaue Fuchs, der gierige Wolf usw.). Kennzeichnend für die Fabel ist weiter ihre meist dialektische Erzählstruktur (oft in Dialogen zweier Tiere mit polar entgegengesetztem Verhalten realisiert) sowie die ironisch-verfremdende Spannung zwischen einer demonstrativ irrealen Handlung und einer gleichwohl darin abgebildeten allgemein gültigen Lehre. (Schweikle & Hoheisel 2007: 226)

Vergleicht man “The Vultures' View of Man” mit dieser Definition der Fabel, scheint Johnsons Text zunächst ein typisches Gattungsbeispiel zu sein: Sie besteht nur aus einer Episode, in der Johnson den Leser in Prosaform über die Bestialität des Menschen belehrt. Die Geier als tierische Protagonisten der Fabel scheinen dieselben Geistesgaben wie Menschen zu besitzen und doch gibt es entscheidende Unterschiede zur klassischen Fabel, in der Tiere menschliches Verhalten zeigen. Die Geier bleiben erkennbar Raubvögel, wenn die Geiermutter rekapituliert, was sie ihren Kindern beigebracht hat (McIntosh 1973: 76):

'[…] you have seen me snatch from the farm the household fowl, you have seen me seize the leveret in the bush, and the kid in the pasture; you know how to fix your talons, and how to balance your flight when you are laden with your prey.' (Johnson 2008: 283)

Dies sind typische Verhaltensmuster von Geiern, wie sie in der Natur täglich praktiziert werden. In diesem Abschnitt zeigt sich das Geierhafte nur in den beschriebenen Verhaltensweisen, später muss der Leser fast eine Übersetzung aus der „Geiersprache“ leisten, wenn die Geiermutter ihren Kindern in verklausulierter Form und ohne den Kernbegriff zu nennen den Sachverhalt des Krieges erklärt (vgl. Horstmann 2011):

'Two herds of men will often meet and shake the earth with noise, and fill the air with fire. When you hear noise and see fire, with flashes along the ground, hasten to the place with your swiftest wing, for men are surely destroying one another; you will then find the ground smoking with blood and covered with carcasses, […].' (Johnson 2008: 283)

[...]

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Von Geiern und Falken
Untertitel
Zoozentrismus in Texten von Samuel Johnson und Ted Hughes
Hochschule
Justus-Liebig-Universität Gießen  (Institut für Anglistik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
17
Katalognummer
V171419
ISBN (eBook)
9783640907946
ISBN (Buch)
9783640907700
Dateigröße
494 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Samuel Johnson, Ted Hughes, Anthropozentrismus, Zoozentrismus, Hawk Roosting, The Idler, The Vultures' View of Man
Arbeit zitieren
Stephanie Lange (Autor:in), 2011, Von Geiern und Falken, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/171419

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