Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Traditionslinien rationalistischer und empiristischer Philosophie
2.1. Darstellung der Grundlagen rationalistischer Positionen
2.2. Darstellung der Grundlagen empiristischer Positionen
3. Die Konzeption Kants Transzendentalphilosophie in der Kritik der reinen Vernunft als Synthese von Empirismus und Rationalismus
3.1. Die Synthese von Empirismus und Rationalismus
3.2. Kopernikanische Wende – Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich
3.3. Raum und Zeit als Anschauungsformen a priori
3.4. Die Kategorien – Reine Verstandesbegriffe
3.5. Über die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori und einer Metaphysik, die als Wissenschaft gelten darf
4. Zusammenfassung
5. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Was kann ich wissen?[1] “ – So lautet Immanuel Kants entscheidende Fragestellung zu der 1781 in der ersten und 1787 in der überarbeiteten zweiten Auflage erschienenen Kritik der reinen Vernunft. Mit dieser Schrift beeinflusste er die neuzeitliche Philosophie wie kein anderer Denker sonst. Aufgrund der maßgeblichen Bedeutung der Theorie spricht man parallel zur Astronomie von der „kopernikanischen Wende“ in der Philosophie. Denn entscheidend ist wie bei Kopernikus der Perspektivwechsel, welchen Kant in der Kritik der reinen Vernunft vollzieht. Ähnlich wie seine berühmten Vorgänger John Locke, David Hume, Gottfried Wilhelm Leibniz und René Descartes untersucht Kant die Grenzen menschlicher Erkenntnis.
Die Frage „Was kann ich wissen?“ bezieht sich auf die Möglichkeit und Bedingung von Erkenntnissen überhaupt. Diese Untersuchung der Bedingung der Möglichkeit von etwas begründet die transzendentale Erkenntnistheorie in der Kritik der reinen Vernunft. Diese befasst sich nicht mit Gott oder etwas Übersinnlichen, denn der Anspruch Kants ist es gerade, die spekulative Philosophie aus der Erkenntnistheorie auszuschließen bzw. eine Antwort auf die weiterreichende Frage zu erhalten, ob und wie Metaphysik als Wissenschaft begründet werden kann. Diese soll in Form einer kritischen Untersuchung der Vernunft an sich selbst beantwortet werden und mündet letztlich in der Frage nach der Möglichkeit von synthetischen Urteilen a priori.
Ob Immanuel Kant mehr dem Empirismus oder Rationalismus zugetan war, lässt sich nicht beantworten, da er in der Kritik der reinen Vernunft zuletzt beide Methoden verwirft. Kant entwickelte sein Denken jedoch eindeutig aus der rationalistischen Richtung; so beschäftigte er sich schon 30 Jahre vor Entstehung der Kritik der reinen Vernunft vornehmlich mit den neuesten Erkenntnissen in der Mathematik und den Naturwissenschaft z.B. bei Isaac Newton und Moses Mendelssohn. Daher ist Kant noch bis 1750/60 dem Rationalismus von Leibniz und Wolff zuzurechnen. Dieser Zeitpunkt fällt in den Abschnitt, den man in der Kantforschung als vorkritische Periode bezeichnet, im Unterschied zur kritischen Phase, welche etwas mehr als zehn Jahre vor der Niederschrift der Kritik der reinen Vernunft einsetzt.
In der folgenden Arbeit sollen auf der Grundlage der empiristischen und rationalistischen Positionen von John Locke und David Hume auf der einen Seite und René Descartes sowie Gottfried Wilhelm Leibniz auf der anderen Seite, die wichtigsten Punkte der Konzeption von Kants transzendentaler Erkenntnistheorie in der Kritik der reinen Vernunft erarbeitet werden.
2. Traditionslinien rationalistischer und empiristischer Philosophie
In diesem Kapitel sollen die Grundzüge der Erkenntnistheorien von René Descartes und Gottfried Wilhelm Leibniz auf der Seite des Rationalismus, sowie von David Hume und John Locke auf der Seite des Empirismus dargestellt werden. Im besonderen Blick der Betrachtung stehen die Ansätze und Problemstellungen, welche Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft aufgreift, verwirft oder überwindet.
2.1. Darstellung der Grundlagen rationalistischer Positionen
Abgeleitet vom lateinischen Begriff „ratio“ bezeichnet der Begriff Rationalismus eine philosophische Richtung, welche wahrhaftige Erkenntnis durch reine Verstandestätigkeiten zu erreichen glaubt und die sinnliche Erfahrungswelt als Quelle objektiver Wahrheit ausblendet. Bereits in antiken Philosophien lassen sich die ersten Entwicklungen des rationalistischen Denkens erkennen, da die Mathematik und damit insbesondere ihre Methode der Deduktion einen besonderen Stellenwert einnahm. Nach dieser Theorie muss der Verstand allein in der Lage sein, allgemeingültige Wahrheiten zu erkennen, welche ihn wiederum dazu befähigen, gesichertes Wissen in Form von deduktiven Schlüssen über Einzeldinge zu erlangen.[2]
In der neuzeitlichen Philosophie gilt René Descartes als einer der wichtigsten Vertreter des Rationalismus. In seinem Werk Meditationen über die erste Philosophie merkt er zunächst an, dass jedes Urteil über die Welt in Zweifel gezogen werden kann (erste Meditation). Um aber diesem Akt des Zweifelns überhaupt einen Sinn zu verleihen, ist es notwendig, die Existenz eines Subjektes anzunehmen (zweite Meditation), denn schließlich würde es wenig Sinn machen, am Zweifel selbst zu zweifeln. Aus der Kombination der beiden ersten Meditationen erwächst bei Descartes der berühmte Satz: Cogito ergo sum – Ich denke also bin ich. Wichtig ist vor allem für die Überlegungen, welche Kant später zu seiner Transzendentalphilosophie führen sollten, dass sich Descartes auf das erkennende Subjekt als Referenzort für wahre Erkenntnis bezieht und nicht auf außersubjektive Gegenstände, welche erkannt werden sollen. Trotz dieser innovativen Methodik, begründet Descartes in der dritten Meditation die Realität der gegenständlichen Welt durch ein absolut vollkommenes Wesen, nämlich Gott, was wiederum mehr einem Rückschritt in mittelalterliche Philosophie als einem Fortschritt gleicht.[3]
Ein weiterer wichtiger Vertreter des Rationalismus war Gottfried Wilhelm Leibniz. Er folgte Descartes in seinem Denken und setzte sich vor allem mit der Position des Empiristen John Locke auseinander. Laut Leibniz folgt jede wahrhaftige Erkenntnis aus der Kraft des Verstandes, welcher die eingeborenen Ideen selbst hervorbringt. Die Entsprechung von Realität und Erkennen erklärt er, ähnlich wie Descartes, durch eine göttliche Instanz, die für eine prästabilisierte Harmonie zwischen Subjekt und Objekt sorgt. Erkenntnis ist demnach kaum ein menschliches Vermögen, sondern immer determiniert durch die göttliche Konstruktion, die Welt und Ideen vereint.[4]
Die Vorteile einer rationalistischen Philosophie sind offensichtlich. Sie folgt der deduktiven Methode und bietet streng logische Schlüsse wie in der Mathematik an. Genauso deutlich werden aber auch die Nachteile, wenn man sich vor Augen führt, dass alles, was auf Basis von Sinneserfahrung geschlossen werden kann, zu keinerlei sicheren Erkenntnis über die Beschaffenheit der Welt führen kann. Ähnlich problematisch sind auch die Rückfälle in Dogmatismen, wie beispielsweise bei René Descartes, der die Vorstellung von Gott als notwendigerweise von Gott selbst erschaffen ansieht.
2.2. Darstellung der Grundlagen empiristischer Positionen
Der Empirismus wird oft im gegensätzlichen Vergleich zum Rationalismus gesehen, nicht nur, weil beide Strömungen in der Zeit von 1600 bis 1800 ihren Höhepunkt erlangten. Genau wie der Rationalismus reicht die empiristische Denkweise bis in die griechische Antike zurück, wo Epikur vielleicht als der erste konsequente Empirist zu sehen ist[5].
Grundsätzlich zeichnet sich jeder Empirismus dadurch aus, dass Erkenntnis immer als erfahrungsorientiert betrachtet wird. Empiristische Denkweisen sind unter einander oft im Detail verschieden, so dass sich viel schwerer als beim Rationalismus eine allgemeine und dennoch genaue Definition finden lässt. Gerade diese Tatsache spiegelt sich auch im Unterschied der Vorgehensweise bei empiristischen und rationalistischen Denkweisen wider, da der Empirismus anders als der Rationalismus weniger Wert auf genaue Definitionen und mathematische Genauigkeit legt. Die Methodik des Empirismus orientiert sich an den zu der Zeit immer wichtiger werdenden Naturwissenschaften und hält sich an Beobachtungen sowie die intuitiven Schlüsse aus dem Erfahrenen. Der Empirismus geht somit nicht deduktiv, sondern induktiv vor, das heißt, vom Einzelnen hin zum Allgemeinen. Einzelne Erfahrungswerte werden unter allgemeinen Gesetzmäßigkeiten subsumiert. Er verzichtet dementsprechend auf die Annahme eingeborener Ideen und alle weiteren Elemente spekulativer Philosophien. Daher kann man ausgehend vom methodischen Vorgehen behaupten, dass Empirismus und Rationalismus verschiedene Antworten auf dieselbe Frage geben.[6]
Als wichtiger Vertreter des Empirismus gilt der englische Philosoph John Locke, der seine Erkenntnistheorie dem Leitsatz unterstellte: Nihil est in intellectu quod non prius fuerit in sensu (nichts ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war). Er vertritt ein Konzept, welches das Bewusstsein des Menschen vor aller Erfahrung als Tabula rasa, als ein leeres weißes Blatt, ansieht. Lockes Theorie argumentiert strikt gegen Erkenntnisse a priori, also vor aller Erfahrung, sondern zieht alle vorhandenen Daten aus der inneren und äußeren Wahrnehmung der Welt. Er unterscheidet einfache und komplexe Ideen, welche auf einander aufbauen, aber ihren Ursprung letztlich entweder in der Sensation (äußere Wahrnehmung) oder der Reflection (innere Wahrnehmung) haben.[7]
Ein weiterer einflussreicher Empirist war David Hume, von dessen Position aus der Bogen zur Transzendentalphilosophie Kants geschlagen werden soll. Hume geht genau wie Locke davon aus, dass die Daten, die einem Menschen zu Verfügung stehen, nur durch Sinneserfahrung bzw. die hinterlassenen Eindrücke dieser sowie durch die Erinnerung an die Eindrücke bzw. durch die Einbildungskraft in das Bewusstsein gelangen.
Da Hume, neben seiner empiristischen Forschungsmethodik, aber auch als Skeptizist zu betrachten ist, räumt er den aus einzelnen Beobachtungen gewonnenen Erkenntnissen keine unbedingte Gültigkeit ein. So erkennt er, dass unabhängig davon, wie oft er dieselbe Beobachtung macht, immer ein Restzweifel an der Schlussfolgerung bleibt, da die Natur sich dem Menschen nur als Gleichförmigkeit zeigt, ihm jedoch keine notwendigen Prinzipien offenbart. Von dieser Erkenntnis gelangt Hume zu seiner einflussreichen Kausalitätsthese, welche die Kausalität nicht als Naturprinzip, sondern als das Resultat
der gewohnten Wahrnehmung einer gleichförmigen Natur bestimmt[8]. Die Kenntnis eines Zusammenhangs von Ursache und Wirkung wird nicht durch ein Denken a priori geliefert, da der eine Begriff nicht im anderen enthalten sein kann. Einzig und allein aufgrund der Gewohnheit festigt sich beim Menschen ein Gefühl für mögliche Abläufe in der Welt, welches Hume Glaube (belief) nennt. Erkenntnis kann also, je nachdem wie stark der Glaube an sie ist, wahrscheinlich oder weniger wahrscheinlich zutreffend sein.
Der Vorteil der induktiven Methode und damit des auf Erkenntnissen aus der Erfahrung reduzierten Empirismus, liegt in seinem naturwissenschaftlichen Charakter. Ähnlich wie in der Physik können anhand von Einzelbeobachtungen oder Experimenten Gesetzmäßigkeiten gefiltert werden. Die Problematik des Empirismus ist einer der Punkte, die Kant als Anstoß zu seiner Transzendentalphilosophie genommen hat. Denn Erkenntnis bzw. wahrhaftiges Wissen zeichnet sich durch Notwendigkeit aus; ein Prinzip, das sich weder in der Beschaffenheit der Welt selbst, noch in den Schlüssen aus Erfahrungstatsachen wiederfinden lässt. Die Erfahrung lehrt „weder die Unmöglichkeit des Andersseinkönnens noch die Unmöglichkeit einer Ausnahme[9] “, wie Otfried Höffe treffend skandiert.
Immanuel Kants Empirismus-Verständnis findet sich in B 498 der Kritik der reinen Vernunft, er versteht den Empirismus als „ eine Maxime der Mäßigung in Ansprüchen, der Bescheidenheit in Behauptungen und zugleich der größest möglichen Erweiterung unseres Verstandes, durch [...] die Erfahrung[10] “.
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[1] Kant, Kritik der reinen Vernunft B 833
[2] Vgl. Steenblock, Theoretische Philosophie Bd. 1, 2003, S. 83
[3] Vgl. Ebd., S. 83
[4] Vgl. Ebd., S. 84
[5] Gawlick, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung Bd. 4. Empirimus, 1980, S. 12
[6] Ebd., S. 10f
[7] Vgl. Steenblock, Theoretische Philosophie Bd. 1, 2003, S. 86
[8] Vgl. Ebd., S. 87
[9] Höffe, Immanuel Kant [fortan zit. als Höffe, IK], 2004, S. 56
[10] Kant, Kr. d. r. V., B 498