Leseprobe
„Volkssouveränität und parlamentarisches System - Ideologiegeschichtliche Wurzeln einer aktuellen Debatte“
I. Inhaltsbeschreibung und kritische Auseinandersetzung
Der Sozialwissenschaftler Tilman Evers gibt sich in dem von ihm verfassten Text „Volkssouveränität und parlamentarisches System […]“ als Verfechter Verfahren direkter Demokratie zu erkennen.
Zu Beginn des Textes, in der Einleitung, weist der Autor auf die Bedenken der Gegner hinsichtlich direktdemokratischer Verfahren - in der Mehrheit Konservative - hin, auf deren Widerlegung - dies natürlich im Hauptteil - der Leser zu hoffen beginnt. Die Rede ist von Demagogie und Irrationalität, für die Verfahren direkter Demokratie laut Gegenpartei anfällig seien, während ihrer Auffassung nach allein das parlamentarische System legitimiert und imstande sei, das Gemeinwohl zu artikulieren. Was Evers im Hauptteil seines Textes dem zu entgegnen hat und ob er zu überzeugen vermag, wird der Essay im Folgenden zeigen.
Beginnend mit einem historischen Rückblick auf die Genese des Begriffs der Volkssouveränität, kommt der Autor zum Schluss, dass diese in der Geschichte einem gedanklichen Konstrukt gleicht, Volkssouveränität lediglich in vermittelter Form bestehe. Dennoch stehe das Verfahren der Volksabstimmung einer Partizipation des Volkes am politischen Prozess näher als repräsentative Verfahren, während das Ideal uneingeschränkter Volkssouveränität obsolet erscheint. So geht es dem Autor um eine direktdemokratische Ergänzung des parlamentarischen Systems.
Den Disput für oder wider direktdemokratische Elemente im Parlamentarismus sieht Evers als Analogie zum inneren Widerstreit des Liberalismus zwischen politischem und ökonomischem Freiheitsverständnis, wobei letzterer die Überhand habe. Doch was will der Autor damit zum Ausdruck bringen? Während der Liberalismus in seiner frühen Ausprägung sich gegen die Demokratie noch abgegrenzt hatte, gilt seit Tocquevilles berühmtem Reisebericht das demokratische Denken als Bestandteil liberaler Tradition. Die Folge dieses liberal-demokratischen Konglomerats war indes das Hineinziehen des demokratischen Elements in besagten innerliberalen Widerstreit. Und so lasse sich nach Evers auch in der Demokratietheorie ein Konflikt zwischen politischer und ökonomischer Tradition erkennen, bei der die besitzbürgerliche die Überhand habe. Wirft man nun den Blick auf die realen Demokratien, also die Praxis, wird eine Analogie zur Theorie evident. So bestehe dort zwar neben der wirtschaftsliberalen Komponente noch die zivilgesellschaftliche, die mittels Kommunikation und Interaktion der Bürger politisches Handeln derselben verwirkliche, diese sei aber - vor allem in den westlichen Demokratien - der wirtschaftsliberalen untergeordnet. Letztere sei durch die sogenannte Freiheit des Einzelnen charakterisiert. Mit besagter Freiheit ist das Heraushalten des Staates aus der wirtschaftlichen Geschäftigkeit der Bürger gemeint, während dieser der alleinige Ort des Politischen ist. Wir haben es in den westlichen Demokratien, so die Konklusion Evers, also mit einem Dualismus zwischen politisch passiven und unbeteiligten Wirtschaftsbürgern, die vom (Nachtwächter-)Staat unbehelligt wirtschaften können, und den Parteien, in denen sich das Politische im Staat manifestiert, zu tun.
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