Leseprobe
Gliederung
Einleitung
1 Klärung der Grundbegriffe
1.1 Der Raum
1.1.1 Der absolute Raum
1.1.2 Der abstrakte Raum
1.1.3 Der differentielle Raum
1.2 Die Gesellschaft
1.3 Die Produktion
2 Grundlegende Vorstellungen
2.1 Der Raum als soziales Produkt
2.2 Das Konzept der Produktion des Raumes
2.3 Die Ebenen des Raummodells
2.3.1 Die räumliche Praxis
2.3.2 Die Repräsentation des Raumes
2.3.3 Die Räume der Repräsentation
3 Wandel in der Produktion des Raumes
3.1 Der Raum als historisches Produkt
3.1.1 Die „erste Natur“
3.1.2 Die „zweite Natur“
3.2 Die Entwicklung vom absoluten zum abstrakten Raum
3.3 Die Weiterentwicklung zum differentiellen Raum
Fazit
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
Henri Lefèbvre (1901-1991), der 1974 das monumentale Buch „La production de l’espace“ veröffentlicht hat, gilt heutzutage als einer der bedeutendsten Soziologen und der vielleicht größte marxistische Denker seit Karl Marx, so dass sein Leben und Werk keiner langen Einleitung bedürfen (vgl. Schroer 2006).
Es gelang ihm, die Soziologie des Raumes, die bis zu diesem Zeitpunkt in der sozio- logischen Theorienbildung eine eher untergeordnete Rolle spielte, neu zu beleben und er hat somit grundlegend dazu beigetragen, dass in den 1990er Jahre die sogenannte „topo- logische Wende“ eingeleitet werden konnte.1 So entwickelte Lefèbvre analog zur Ana- lyse der Warenproduktion von Karl Marx eine Theorie der Produktion des Raumes, bei der er seine Erkenntnisse aus einer Analyse des fordistisch-kapitalistischen Raumes der Moderne entwickelte. Dadurch wurde Lefèbvre zum wichtigsten Impulsgeber der mar- xistischen Raumtheorie.
Um eine systematische Abhandlung des Themas zu ermöglichen, wurde die vorliegende Arbeit in drei Abschnitte unterteilt. Das erste Kapitel dient zunächst dazu, alle verwendeten Grundbegriffe im Sinne Lefèbvres zu erläutern. Im anschließenden Kapitel folgt eine Beschreibung seiner grundlegenden Vorstellungen, bevor im dritten Kapitel der Entwicklungsprozess vom „absoluten“ zum „differentiellen Raum“ aufgezeigt wird. Die Entscheidung zugunsten dieses Themas ist dem Umstand geschuldet, dass es über die soziologische Raumtheorie sowie die Denkmodelle von Henri Lefèbvre zwar mittlerweile eine Vielzahl von Artikeln und Diskussionspapieren gibt - dass aber in Bezug auf den Entwicklungsprozess zum „differentiellen Raum“ noch immer nur sehr wenige Texte existieren und somit weiterer Forschungsbedarf besteht.
1 Klärung der Grundbegriffe
Um die grundlegenden Vorstellungen Lefèbvres sowie den Wandel seines Begriffes vom „absoluten“ zum „differentiellen Raum“ besser verstehen zu können, sind zunächst die in diesem Kontext verwendeten Begrifflichkeiten zu klären. Hierbei liegt der Fokus insbesondere auf dem Begriff des Raumes und seiner verschiedenen Klassifikationen. Was aber ist ein oder der Raum?
1.1 Der Raum
Lefèbvre wendet sich bei der Definition des Raumes einerseits gegen eine ausschließlich gedankliche Konzeption, die ihn mathematisch definiert bzw. zum Raum philosophischer Theoriebildung erhebt, als auch andererseits gegen eine rein ästhetische Auffassung, wobei der Raum als „bloßer Behälter“ betrachtet wird, der seinem Inhalt gegenüber gleichgültig ist (vgl. Lefèbvre 2002, S. 7).
Er beschreibt den Raum vielmehr als ein gesellschaftliches Produkt und als etwas durch Produktionsverhältnisse und die darin involvierten Subjekte Hergestelltes (vgl. ebd., S. 3). Für ihn ist der Raum, im Gegensatz zu anderen Waren, somit sowohl selbst ein Produkt als auch ein Medium, in dem andere Produkte hergestellt werden. Demzu- folge beinhaltet der Raum die Möglichkeit, auf den Prozess seiner Herstellung sowie auf die damit verbundenen gesellschaftlichen Verhältnisse verändernd einzuwirken (vgl. ebd., S. 7).
1.1.1 Der absolute Raum
Der „absolute Raum“ (l’espace absolu) wird als ein religiös-politischer Raum betrach- tet, der aus heiligen bzw. verdammten Orten besteht. Er wird erlebt und nicht konzipiert und ist demnach weniger an den Intellekt als vielmehr an den Körper gebunden. Seinen „absoluten“ Charakter erhält der Raum, weil er auf rituelle Weise mit irgendeinem Ort verbunden werden kann und dafür lediglich eine Markierung benötigt, die diesen identi- fiziert (vgl. Schmid 2005, S. 253). Neben Markierungen können auch Ortsbestimmun- gen oder dergleichen, angelehnt an den Eigenarten des natürlichen Umfelds, dazu die- nen, den Naturraum zu kennzeichnen. So bringt der „absolute Raum“ Formen hervor und fügt sich in Formen ein, die das Universum zusammenfassen. Hierbei stellt der Kreis oder das Kreuz beispielsweise ein rationales Volumen dar, das durch ein göttli- ches Prinzip besetzt wird (vgl. ebd., S. 253).
1.1.2 Der abstrakte Raum
Der „abstrakte Raum“ (l’espace abstrait) ist insbesondere aufgrund der Gleichzeitigkeit seiner Homogenisierung und Fragmentierung gekennzeichnet (vgl. Lefèbvre 2002, S. 15). So ist dieser Raum ein Ort des Tausches mit seiner Implikation der Austauschbarkeit, die dazu tendiert, den Gebrauch zu absorbieren. Hier entfaltet sich die Welt der
Ware. Er ist weiterhin ein Raum der Akkumulation, der Kalkulation und der Planung, in dem aufgrund der globalen Reichweite der Produktionskräfte sowie der wissenschaftlichen Erkenntnis eine starke Tendenz zur Homogenisierung besteht.
Allerdings ist er zugleich aufgrund administrativer Einteilungen oder spezialisierter Techniken fragmentiert und hat somit nichts Homogenes an sich, so dass Lefèbvre ihn als „homogen-zerbrochen“ bezeichnet. Der „abstrakte Raum“ ist eher polyskopisch, d. h. er zwingt unterschiedliche Elemente zu einer Einheit (vgl. Schmid 2005, S. 261).
1.1.3 Der differentielle Raum
Während der „abstrakte Raum“ auf die Einebnung von Differenzen sowie die Absorpti- on nicht-kapitalistischer Produktionsweisen abzielt, eröffnet der „differentielle Raum“ (l’espace différence) hingegen Möglichkeiten zur Produktion alternativer Räume aus den Widersprüchen des gegenwärtigen Raumes heraus (vgl. Lefèbvre 2002, S. 19). Le- fèbvre ist davon überzeugt, dass dieser „Raum der Gegensätze“ bzw. der „gegensätzli- che Raum“ jenes wieder zusammenfügen wird, das der „abstrakte Raum“ getrennt hat, sprich die Elemente und Momente der sozialen Praxis (vgl. Goonewardena/Kipfer/Mil- grom 2008, S. 9).
Da der „differentielle Raum“ in seinem Wesen nichts anderes als ein urbaner Raum ist, lässt sich seine konkrete Utopie als allgemeine Formulierung der verschiedenen Versuche Lefèbvres verstehen, das Urbane zu fassen.
1.2 Die Gesellschaft
Die Gesellschaft bedeutet für Lefèbvre weder eine raum-zeitliche Gesamtheit von „Körpern“ bzw. „Materie“ noch die Summe von Handlungen oder Praktiken. Im Zent- rum seiner materialistischen Theorie stehen stattdessen die Menschen in ihrer Körper- lichkeit und Sinnlichkeit, mit ihren Empfindungen und Imaginationen sowie ihrem Denken und ihren Ideologien. Demnach begreift Lefèbvre Gesellschaft eher als eine Ansammlung von Menschen, die aufgrund ihrer Aktionen und Praktiken miteinander in Beziehung treten und ihren eigenen Raum mit ihrer eigenen Raumpraxis produzieren (vgl. Schmid 2005, S. 315).
Zusammenfassend betrachtet ist Gesellschaft etwas, das im Raum existiert, diesen formt und zugleich von diesem auf unterschiedliche Weise geformt wird (vgl. Lefèbvre 2002, S. 3).
1.3 Die Produktion
Die Produktion wird von Lefèbvre als Handlung mit Möglichkeiten des Widerstandes bzw. als affirmative Reproduktion der Verhältnisse bezeichnet (vgl. ebd., S. 3). Für ihn besteht die Produktion im Wesentlichen aus einem materiellen und mentalen Prozess (vgl. Elden 2004, S. 184).
„Production in Lefebvre’s sense [...] needs to be grasped as both a material and mental process. An analysis of production in the mo- dern world shows that ‘we have passed from the production of things in space … to the production of space itself’. (Elden 2004, S. 184)
Damit differenziert sich Lefèbvre von Theoretikern wie Marx, Nietsche oder Hegel. Bei Karl Marx beinhaltet die Produktion neben der ökonomischen Komponente beispielsweise auch die Produktion von Gesellschaft, Kenntnissen oder Institutionen.
2 Grundlegende Vorstellungen
Nach der Erläuterung der Grundbegriffe sollen in diesem Kapitel nun die grundlegen- den Vorstellungen Lefèbvres dargestellt werden. Im Fokus steht dabei insbesondere seine Theorie der Produktion des Raumes, die einzigartig ist und sich damit grundle- gend von den Ansätzen anderer Wissenschaften abgrenzt, etwa der Ökologie oder Ge- schichte.
2.1 Der Raum als soziales Produkt
Der Begriff des Raumes, der bereits im ersten Kapitel definiert wurde, ist an dieser Stelle erneut aufzugreifen, um ihn weiterführend zu konkretisieren.
Während der Raum in der Erkenntnistheorie des 20. Jahrhunderts vorwiegend als „mentaler Ort“ betrachtet wird, bezeichnet Lefèbvre den Raum als ein Produkt, das
nicht aus dem begrifflichen Denken entstanden ist und keine unmittelbare produktive
Macht darstellt. Für ihn ist Raum vielmehr, wie im Kapitel 1.1 beschrieben, das Ergeb- nis der Produktionsverhältnisse, welche die vorherrschenden Herrschaftsverhältnisse widerspiegeln. Der Raum unterliegt somit den marktlichen Gegebenheiten bzw. den Gesetzen des Marktes. Der Umstand, dass der Raum ein Produkt der sozialen Arbeit ist, lässt ihn zum „Objekt der Produktion“ werden, wodurch ein Mehrwert geschaffen wird.
Obwohl der Raum in gewisser Hinsicht auf Materialität beruht, kann er dennoch nicht eindeutig als Objekt bzw. Subjekt bezeichnet werden, so dass er eher als eine gesellschaftliche Wirklichkeit verstanden werden kann, die das Ergebnis des konkreten Produktionsprozesses ist (vgl. Schmid 2005, S. 203). Demzufolge basiert Lefèbvres Theorie auf einer Analyse der Aktionen bzw. Situationen der Subjekte und ihrer sozialen Beziehungen, die den Raum produzieren:
„Der soziale Raum ist ein soziales Produkt.“ (Lefèbvre 1974, S. 35).
Mit dieser Hypothese hat Lefèbvre die Grundvoraussetzung für eine neue raumbezogene Gesellschaftstheorie gelegt. Doch auf welche Art wird der Raum konkret produziert und worin liegt die Relevanz des Konzepts der Produktion des Raumes?
2.2 Das Konzept der Produktion des Raumes
Die Bedeutung des Konzepts liegt insbesondere darin, dass es die Kategorien „Stadt“ und „Raum“ in eine übergreifende raum-zeitliche Theorie gesellschaftlicher Praxis integriert und zugleich einen perspektivischen Wechsel von der Stadt als solcher zum Prozess der Urbanisierung darstellt.
Der philosophische Ausgangspunkt des Konzeptes ist die Dualität von Subjekt und Objekt, von Geistigem und Materiellem sowie von „mentalem“ und „physischem Raum“. Um diese Dualität zu überwinden, benötigt Lefèbvre einen dritten Begriff. Aus diesem Grund entwickelte er eine Triade von Feldern („champs“), die aus dem „physi- schen Feld“, „mentalen Feld“ und „sozialen Feld“ besteht (vgl. Schmid 2005, S. 205).
Das „physische Feld“, also die Natur, der Kosmos und die Materialität, entspricht dabei dem „physischen Raum“. Dieser zeichnet sich vor allem aufgrund seiner Materia- lität aus, ohne jedoch ein materielles Objekt zu sein. Das „mentale Feld“ hingegen schließt die Logik bzw. die formale Abstraktion und folglich den „mentalen Raum“ ein, der durch Philosophie und Mathematik definiert wird. Vervollständigt wird die Triade vom „sozialen Feld“, einem Feld der Projekte, Projektionen, Symbole sowie Utopien, das den „sozialen Raum“ bildet. Dieser enthält nun drei Aspekte, die sich auf die Moda- litäten seiner Produktion beziehen: das Wahrnehmen (materiell), das Konzipieren (men- tal) sowie das Erleben (sozial). Allerdings darf keine Vermischung mit dem „physi- schen Raum“ oder dem „mentalen Raum“ stattfinden, da ansonsten diese Eigenarten nicht sichtbar werden können. Diese Dreiheit soll verdeutlichen, dass der Raum einen komplexen Charakter hat und in die gesellschaftlichen Beziehungen auf allen Ebenen eindringt (vgl. Lefèbvre 2002, S. 23).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Die erste Triade (Quelle: in Anlehnung an Grönlund 1998)
Um eine einheitliche Theorie zu schaffen und die drei Felder bzw. Räume, die bisher getrennt erfasst worden sind, wieder zusammenzuführen, entwickelte Lefèbvre eine zweite konzeptionelle Triade, welche die erste verstärkt.
2.3 Die Ebenen des Raummodells
Die Ebenen des Raummodells, in Form einer zweiten Triade, bestehen aus der „räumli- chen Praxis“ (pratique spatiale), der „Repräsentation des Raumes“ (représentation de l’espace) und den „Räumen der Repräsentation“ (espaces de représentation). Diese drei Aspekte des Raumes durchdringen sich wechselseitig (vgl. Löw/Steets/Stoetzer 2008, S. 53 ff.). Sie können sich gegenseitig verstärken oder widersprechen und sind dennoch immer gleichzeitig wirksam. Diese Dreiheit darf jedoch nicht als abstraktes Modell betrachtet werden, da sie nur als Einheit einen vollständigen Sinn ergibt.
Abbildung 2 veranschaulicht die drei Ebenen des Raummodells. Hierbei geht die erste Zeile vom Raum in physischer Form aus, der erzeugt und benutzt wird.
[...]
1 Bei diesem Begriff handelt es sich um einen Perspektivwechsel, der besagt, dass bestimmte gesellschaftliche Veränderungen ohne die Berücksichtigung der räumlichen Komponente nicht ausreichend erklärt werden können.