Leseprobe
INHALT
Einleitung
1. Das Verhältnis zwischen Himmel und Erde
1.2. Das Naturbild der zweiten Strophe und die besondere Stellung der Sternenklarheit
2. Himmel - Natur - Seele - Himmel
2.1. Die Beziehungen zwischen Seele, Natur und Himmel
2.2. Die Bildung der Erkenntnis in der Seelenlandschaft des lyrischen Ich
3. Die Bedeutung der Poesie
4. Die religiöse Symbolik in der "Mondnacht"
5. Die Bedeutung des Irrealis
Literaturverzeichnis
Einleitung
Joseph von Eichendorffs Gedicht "Mondnacht" entstand in den dreißiger Jahren und wurde erstmals unter der Abteilung "Geistliche Gedichte" in der Gedichtausgabe von 1837 veröffentlicht.
Eichendorffs Bekanntheitsgrad als einer der geläufigsten romantischen Dichter im deutschen Sprachraum basiert weitestgehend auf den Vertonungen (oft durch Schuhmann) seiner Lyrik. Von seinem Gesamtwerk erschienen immer wieder Neuauflagen seiner Gedichte und Erzählungen, insbesondere die Erzählung "Aus dem Leben eines Taugenichts", während dem übrigen Schaffen weitestgehend die Aufmerksamkeit fehlte.
Als meistvertonter deutscher Dichter haben, wie auch die "Mondnacht", viele seiner Gedichte eine weitgehend anonyme Popularität erreicht. Doch Eichendorff galt als naiver Volksdichter. Seine Dichtung als unmittelbarer Ausdruck von Natur und Volksseele wurde auf bloße Stimmung und Atmosphäre reduziert. Der Kunstwert und Bedeutungsgehalt ihrer Bildsprache wurden übersehen.
Anhand dieses Gedichts soll in der folgenden Ausführung ersichtlich werden, daß Eichendorff nicht auf diese Position gedrängt werden darf.
Mit erstaunlich leisen, unaufdringlichen Mitteln gelingt es ihm, das Ineinander von Naturbild und religiöser Bedeutung zu erzielen. In "Mondnacht" thematisiert er die Sehnsucht des Menschen nach göttlicher Gnade, vermittelt durch das symbolisch und gleichnishafte Wesen seiner Poesie, der öffnenden Sprache der Natur.
Da Eichendorff zu den Spätromantikern gehört, übernahm er bereits bekannte Bilder und Topoi, die er jedoch abwandelte. Das zunehmend Unzeitgemäße seines Schreibstils in einem zu Ende gehenden Zeitalter waren dem Wandel der Zeit nicht angepaßt, was Eichendorff durchaus bewußt gewesen sein muß, da das Motiv des 'zu spät' häufig in seinem Werk auftritt.
Eichendorff verstand es jedoch mit verschiedenen Anordnungen der beschränkten Anzahl szenischer Bilder und Gestaltungen im Leser bestimmte Assoziationen zu evozieren, da seine "Formeln" traditionellen Quellen entsprangen.
Wie andere Romantiker schuf er Bilder, die aufgrund ihres Symbolcharakters über sich hinaus auf eine hinter ihnen liegende Sinnhaftigkeit verweisen. Doch unterscheidet sich Eichendorff von den anderen Dichtern seiner Epoche durch seine Vorstellungswelt, die überwiegend christlich-katholisch ausgerichtet war.
Eichendorffs scheinbar unzeitgemäßes Werk und das nicht unwesentliche Motiv des "zu spät" wirft die Frage auf, welchen Stellenwert das Gedicht "Mondnacht" heute überhaupt noch einnehmen könnte, welchen Bezug es zu unserer Weltanschauung hat, in einer Zeit, in der seine Ideale und Vorstellungen noch viel weniger Platz haben als zu seiner Zeit. Müßte man nicht viel eher annehmen, er sei ein Angehöriger einer aussterbenden Art gewesen, die ungeachtet des Wandels im 19. Jahrhundert weiter ihren überholten Vorstellungen nachhingen?
Diese Arbeit will versuchen zu zeigen, daß die "Mondnacht" trotz seiner trivial anmutenden Bilder, der scheinbaren gedanklichen Anspruchslosigkeit und der auffälligen Formelhaftigkeit, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu dem hohen dichterischen Rang der Verse zu stehen scheint, durch seine subtile Diktion mit unerwarteter Qualität überrascht und als eines der schönsten und zeitlosen Gedichte herausragt.
1. Das Verhältnis zwischen Himmel und Erde
"Es war, als hätt' der Himmel / Die Erde still geküßt"[1]: mit dieser Bewegung der Zuwendung, dessen Übernatürlichkeit durch den vergleichenden Irrealis ausgedrückt wird, beginnt Eichendorffs Gedicht "Mondnacht".
Dieses Verhältnis zwischen Zuneigung und Trennung, Einheit und Geschiedenheit durchzieht, inhaltlich wie auch formal, das ganze Gedicht.
Der Himmel, von dem in der ersten und letzten Zeile der ersten Strophe die Rede ist, umrahmt die Erde in der zweiten und dritten Zeile. Jedoch sind Himmel und Erde durch die einzelnen Verse getrennt. Diese Geschiedenheit wird aber durch Enjambements am Ende der ersten und dritten Zeile abgeschwächt, so daß Übergänge innerhalb der vom Versende markierten Trennung zwischen Himmel und Erde entstehen. Diese Übergänge gehen vom Himmel (1. Zeile) wie auch von der Erde (3. Zeile) aus, was eine gegenseitige Bewegung der Zuneigung darstellt.
Die ursprüngliche Aktivität bezüglich der Zuwendung geht jedoch vom Himmel aus; die Erde nimmt eine eher passive Rolle ein, die ihr nur ein bewegungsloses Träumen ermöglicht.
In diesem Zusammenhang fällt auch die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks "still geküßt" in der zweiten Zeile auf.
Die erste Möglichkeit besagt, daß der Himmel in einer stillen Art und Weise die Erde geküßt hat, während die zweite Lesart ausdrückt, daß der Himmel die Stille bei der Erde bewirkt hat (so entstehen dann auch die "stillen Lande" in der dritten Strophe).
Da sich diese beiden Möglichkeiten in einem Ausdruck wiederfinden, wird ein Bild geschaffen, in dem der Himmel beruhigenden Einfluß auf die Erde ausübt und diese im Begriff ist, seine Eigenschaften zu übernehmen und wiederzuspiegeln. Doch die Gegensätze bleiben gewahrt, während sich die Erde einer starken Ausrichtung zum Himmel unterzieht.
Daß sie nur Abglanz seiner sein kann, wird deutlich durch das hingebungsvolle Träumen der Erde vom Himmel und weiterhin durch den Blütenschimmer, der nicht der Erde allein entspringt, sondern des Mondlichtes bedarf, was wieder auf den zum Passiven neigenden Charakter der Erde verweist.
Desweiteren findet der Himmel in der ersten Zeile seinen Reim nur durch die Assonanz (Blüten-) Schimmer: ein formaler Hinweis, daß die Erde allenfalls annähernd dem Himmel entsprechen kann, daß alles Irdische nur Abglanz Gottes ist, daß ein Streben nach dem Göttlichen herrscht, jedoch kein Erreichen erfolgen kann.
Diese Deutung des Himmels als unerreichbar Göttliches scheint zunächst etwas hoch gegriffen, findet jedoch, wie noch zu sehen sein wird, weitere Entsprechungen im Gedicht und erhält auch durch die Biografie des katholischen Eichendorff seine Rechtfertigung[2].
Der stärkste Hinweis liegt jedoch in der Überschrift Geistliche Gedichte, in die Eichendorff seine "Mondnacht" eingereiht hat.
Die nach Hause fliegende Seele in der dritten Strophe ist es dann auch, die diese religiöse Deutung unterstützt:
Denn daß Eichendorffs "nach Haus" nur vordergründig die durch Mißwirtschaft verlorene schlesische Heimat Lubowitz meint, dann - auf einer ersten Transformationsstufe - die stets von neuem anzutretende Heimkehr zu jugendlich-poetischer Lebensfreude, und schließlich die ewige Heimat des Menschen, wird durch zahlreiche Parallelen aus dem Werke des Dichters belegt, [...] von denen die bildkräftige Parallele im Gedicht Die Flucht der heiligen Familie (1839) nur die deutlichste ist.[3]
Die Deutung, daß das nach Haus dem Himmel, der erst nach dem Tod erreichbaren Heimat entspricht, findet ebenfalls eine formale Entsprechung. Am Gedichtanfang sind nacheinander in der ersten Zeile der Himmel und in der zweiten Zeile die Erde und das Wort "still" aufgeführt. Spiegelbildlich dazu erscheinen diese Begriffe in umgekehrter Reihenfolge im vorletzten Vers des Gedichts (der Begriff "stillen" und die durch das Wort "Lande" bezeichnete Erde) und in der letzten Zeile (der Begriff "nach Haus", der dann mit dem Himmel gleichzusetzen ist).
Zusätzlich erkennt man durch diese Spiegelbildlichkeit eine weitere Bewegung der Zuneigung und der Umarmung. Ein in diesem Zusammenhang ähnliches Bild der Umarmung hat FRÜHWALD herausgearbeitet:
Die sprachliche Bewegung führt [...] in der ersten Strophe von oben nach unten, vom Himmel zur Erde, in der letzten Strophe aber wechselt die Perspektive, es ist, als ob die Seele aus der dunklen Welt auf zum Himmel flöge. In der zweiten Strophe begegnen sich die beiden gegenläufigen Bewegungen im Bild des Nachtwindes: Der Blick des impliziten Betrachters
führt über die wogenden Felder, die Ähren, die rauschenden Bäume des Waldes hinauf zum Himmel einer sternklaren Nacht, [während] der Wind aus den Weiten des Himmels herabzukommen [scheint].[4]
1.2. Das Naturbild der zweiten Strophe und die besondere Stellung der Sternenklarheit
Eine weitergehende Analyse der zweiten Strophe offenbart noch einen anderen Aspekt, der schon einmal angetroffen wurde: der des der die Erde betreffenden Aktivitätenrückganges.
In der ersten Zeile geht die Luft durch die Felder; dies allein stellt schon eine recht sanfte, ruhige Aktivität dar (im Gegensatz zu z.B. wehendem Wind). Das daraus resultierende Wogen der Ähren hat einen noch geringeren Bewegungscharakter als das Gehen der Luft, während es gleichfalls nur dessen Reaktion ist, genauso wie das darauffolgende Rauschen der Wälder, in dem die Bewegung minimiert wird. Weiterhin wird das Waldesrauschen an das Versende gestellt und durch das Pronomen es eingeleitet, was einen weiteren Schritt zur Passivität ausdrückt. Dasselbe grammatische Prinzip wird noch einmal in der letzten Zeile der Strophe benutzt, in der keine Bewegung mehr stattfindet, sondern nur die durch das Partikel so eingeleitete Sternenklarheit erwähnt wird, die also aus dem Vorangegangenen zu resultieren scheint.
[...]
[1] wie hier im folgenden zitiert nach Eichendorff: Gedichte, S.382
[2] Vgl. Frühwald: Joseph von Eichendorff
[3] Frühwald: Die Erneuerung des Mythos, S. 401
[4] ebd. S. 397f.