Leseprobe
Inhaltsverzeichnis:
I. Einleitung: Goethes «Faust» als philosophisches Werk
II. Die Baccalaureus-Szene
II.I. Die Figurenkonstellation in der Baccalaureus-Szene
II.II. Die Rolle des Mephisto
II.III. Die Figur des Baccalaureus
III. Der erkenntnistheoretische Disput zwischen Baccalaureus und Mephisto
III.I. Fichte oder Schopenhauer?
IV. Goethe als Kritiker des Deutschen Idealismus
IV.I. Philosophische Ansichten Goethes
V. Bibliographie
I. Einleitung: Goethes «Faust» als philosophisches Werk
Dass die Tragödie um Faust einer philosophischen Auslegung unterzogen werden und dabei Einiges über die Weltanschauung von deren Autor verraten mag, wurde bereits von Friedrich Schiller bemerkt, der in seinem Brief an Goethe vom 22. Juni 1797 feststellte, dass die Anforderungen an den «Faust» sowohl philosophisch, als auch poetisch seien, und dass die Natur des Gegenstandes eine philosophische Betrachtung geradezu erforderlich mache. Konrad Pfeiffer, Autor einer ausführlichen Publikation zu diesem Thema, sieht den Zusammenhang zwischen Poesie und Philosophie in Bezug auf Goethe darin, dass die beiden großen Bereiche menschlicher Kultur aus derselben Quelle entspringen und deshalb als ein Ganzes zu verstehen sind. Diese holistische Auffassung ist unter anderem auf die Ablehnung der „trockenen“ Erkenntnistheorie zugunsten einer lebensnahen und lebenswahren Epistemologie zurückzuführen, die in der anschaulichen Auffassung der Welt ihren Ausgangspunkt hat. Dieser Ausgangspunkt gilt für die Kunst und die Philosophie gleichermaßen, denn die beiden haben ein gemeinsames Ziel, nämlich die Enthüllung des Ewigen. Der Unterschied zwischen ihnen besteht lediglich darin, dass unterschiedliche Sprachebenen jeweils vorherrschend sind: Der Dichter spricht die „naive und kindliche Sprache der Anschauung“, der Philosoph hingegen „die abstrakte und ernste Sprache der Reflexion“.[1] Goethes «Faust» lässt sich aber als eine Art Verknüpfung von den beiden sehen und somit als ein lebendiges Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie deuten. Pfeiffer zufolge sollte die philosophische Auslegung des Dramas dessen poetischen Wert in keiner Weise schmälern: Die abstrakt-philosophische Erkenntnis drängt sich „nicht an die Stelle der vom Dichter intuitiv-poetisch behandelten Menschheitsfragen und des eben hierdurch gegebenen Kunstgenusses“.[2] Vielmehr stehen Philosophie und Kunst in einem gegenseitig sich erläuternden Verhältnis.
Inhaltlich lassen sich in Goethes Werk zahlreiche Verweise und Anspielungen auf philosophische Fragestellungen finden, dies betrifft sowohl den ersten, als auch den zweiten Teil des Dramas. Die Gelehrtentragödie betrifft im Allgemeinen das Problem der Erkenntnisfähigkeit des Menschen sowie die Frage nach der Möglichkeit, dem menschlichen Leben einen höheren und festen Sinn im kosmischen Spiel zwischen dem Guten und dem Bösen zu verleihen. Einzelne Episoden des «Faust» betreffen aber auch ganz spezielle philosophische Probleme. In «Faust II» beziehen sich diese Probleme hauptsächlich auf die Erschaffung der Welt – die ‚Genesis’ ist dessen thematischer Schwerpunkt. In genuin philosophischer Hinsicht ist der zweite Akt von besonderem Interesse, denn darin wird nach dem Ursprung der Welt im menschlichen Geist gesucht, und zwar am Beispiel eines Jünglings, der sich zum Zentrum der Welt erklärt, sowie am Beispiel der Erschaffung künstlicher Intelligenz, des Homunkulus. Die Baccalaureus-Szene, in der ein junger Student einen erkenntnistheoretischen Disput mit Mephisto führt und dabei die Bedeutung des Subjekts für die Erkenntnis stark hervorhebt, ist nicht nur für das Gesamtkonzept des Dramas von Bedeutung, sondern wirft auch zahlreiche textexterne Fragen auf. Als besonders brisant erscheint die Frage, inwiefern Goethe eine bestimmte erkenntnistheoretische Position kritisieren wollte. Diesen Problemstellungen wird in der folgenden Arbeit nachgegangen.
II. Die Baccalaureus-Szene
Das Gespräch zwischen Baccalaureus und Mephisto ist ein wesentlicher Teil der ersten Szene des zweiten Aktes, welche die Überschrift „Hochgewölbtes enges gotisches Zimmer, ehemals Faustens, unverändert“ trägt. Schon auf den ersten Blick erscheint dem Leser der Zusammenhang dieser Szene mit der Rahmenhandlung des ersten Teils der Tragödie als offensichtlich, denn es ist darin sofort eine Reminiszenz an den Teufelspakt zu erkennen, der in der Studierstube des Faust geschlossen wurde. In derselben Studierstube sieht nun alles wie vormals aus („Blick’ ich hinauf, hierher, hinüber / Allunverändert ist es, unversehrt“).[3] Der Auftritt des Baccalaureus, der dann erfolgt, wird bereits in der Schülerberatungsszene im ersten Teil des Dramas angekündigt, als der Schüler sagt: „Dürft ich euch wohl ein andermal beschweren / Von eurer Weisheit auf den Grund zu hören?“. Die in «Faust I» angekündigte Rückkehr des Schülers wird allerdings nur zum Teil verwirklicht: Dieser taucht zwar tatsächlich bei Mephisto wieder auf, ist jedoch an dessen Weisheit nur wenig interessiert. Der verlegene und schüchterne Schüler von damals, der von Mephistos umfangreichem Wissen sichtlich überwältigt war („Kann euch nicht eben ganz verstehen“; „Mir wird von alle dem so dumm / als ging’ mir ein Mühlrad im Kopf herum“), tritt nun als ein hochmütiger und frecher Bursche auf und erdreistet sich gegen Mephisto auf vielerlei Art und Weise.
In der Tat lassen sich viele Gemeinsamkeiten zwischen dem Schüler und dem Baccalaureus feststellen: Der jugendliche Optimismus, der dem Baccalaureus wesentlich ist, wird auch in der Schülerberatungsszene zum Ausdruck gebracht („Ich komme mit allem guten Mut / leidlichem Geld und frischem Blut“); genauso ist dort auch das Streben nach dem Wissen sichtbar („Ich möchte recht gelehrt zu werden / und möchte gern was auf Erden und in dem Himmel ist erfassen / die Wissenschaft und die Natur“). Dass der Baccalaureus eine ältere Erscheinung des Schülers aus dem ersten Teil des Dramas darstellt, wird durch weitere Quellen deutlich. So stellt Johann Eckermann nach einem Gespräch mit Goethe entschlossen fest, dass der Baccalaureus „derselbige [sei], den wir vor einigen Jahren als schüchternen jungen Studenten gesehen [haben], wo Mephistopheles, in Fausts Rocke, ihn zum besten hatte. Er ist unterdes ein Mann geworden und so voller Dünkel, daß selbst Mephistopheles nicht von ihm auskommen kann (...).[4]
Es stellt sich die Frage, wie die Baccalaureus-Szene in das Gesamtdrama eingebunden ist, und welche Rolle sie für die Rahmenhandlung spielen soll. Julius Frankenberger ist der Meinung, dass die Baccalaureus-Szene keineswegs nur eine Episode bilde, die höchstens als eine Art Universitätssatire abgetan werden könnte.[5] Vielmehr tauche die Szene an dieser und nicht an einer anderen Stelle auf, weil sie einen notwendigen Ruhepunkt der Besinnung darstellen sollte, dessen Faust gerade in diesem Moment bedarf. Die Szene soll Frankenberger zufolge auf einen Einschnitt in der inneren Entwicklung des Faust zeigen, der sich seit der Zaubererscheinung Helenas träumend auf sie zubewegt. Die Baccalaureus-Szene steht da, wo sie steht, weil dem Leser mitgeteilt werden muss, was nun als endgültig erledigt hinter Faust zurückbleibt, der mit Helena ernst macht. Auffallend in dieser Hinsicht ist für den Leser die Abwesenheit des Faust in der gesamten Szene und vor allem das Fehlen des Hauptcharakters zu Beginn des sich in seiner alten Studierstube abhandelnden Geschehens.[6] Die Gipfelpunkte der inneren Entwicklung des Faust werden, wie Frankenberger bemerkt, immer durch kontemplative Monologe begleitet, welche jeweils eine Überleitung zu einer nachfolgenden Szene bilden.[7] Hier findet sich jedoch kein Selbstgespräch dieser Art, der Gipfelpunkt wird lediglich äußerlich durch den tiefen Schlaf des Helden markiert.
Einige Autoren stimmen mit der Ansicht, die Baccalaureus-Szene sei eine für die gesamte Handlung des Dramas wichtige und wegweisende Szene, nicht oder nur bedingt überein. So behauptet Karl May, dass die Szene lediglich einen Übergangscharakter habe und gerade aus diesem Grund künstlerisch nicht besonders reich ausgestaltet sei. Das führt May darauf zurück, dass den Grundton in der Szene wieder das vertraute madrigalische Faustversmaß gibt, und dass keine neuen metrischen Gestaltungsmöglichkeiten darin vorliegen.[8] Heinrich Rickert antwortet wiederum auf die Frage nach der Einbindung der Szene in das Gesamtdrama kurz und bündig: „[d]ramatisch wichtig ist der Baccalaureus nicht“.[9]
II.I. Die Figurenkonstellation in der Baccalaureus-Szene
Im Grunde lassen sich alle Charaktere des Dramas als Verkörperungen bestimmter Ideen oder Motive betrachten. Wie Dorothea Lohmeyer bemerkt, ist Goethes Dichtung „kein psychologisches, sondern ein kosmisches Drama, die Personen handeln nicht als Charaktere, sondern wirken als Allegorien von Kräften. Für dieses philosophische Weltspiel wurde von Goethe alle übernommene Form im eigenen Sinne umgewandelt (...)“.[10] Interessant ist es dabei, die verschiedenen Charaktere als Allegorien von bestimmten Weltbildern komparativ zu sehen. In diesem Fall handelt es sich um die Gegenüberstellung von Baccalaureus als einem Vertreter des Individualismus, Idealismus und der Jugendstärke mit anderen Figuren, die jeweils einen mehr oder minder deutlichen Kontrast zu ihm darstellen.
So bilden etwa Famulus und Baccalaureus in ihren Denkweisen einen scharfen Gegensatz, denn Famulus ist an ein theologisches Dogma gebunden, während Baccalaureus sein Ich autonom setzt. Die polaren Charaktere werden hier zu Bildern polarer Denkweisen, worin sich ein besonderes poetisches Verfahren feststellen lässt: „Der Dichter stattet jeden mit Merkmalen aus, die ihn in verschiedenen historischen Zeiten ansiedeln, und verdichtet dadurch in einem jeden eine ganze Geistesepoche zu ihrem idealen Subjekt. Es ist ein Prinzip der Personenbildung, das dem II. Faust überhaupt eigen ist (...).[11] Dabei ist Famulus eine Spiegelung des früheren Famulus und damit Bild des sich in der Wissenschaft erfüllenden Geistes. Ebenfalls lässt sich ein Unterschied zwischen Baccalaureus und Wagner erkennen. Der erstere proklamiert die Macht des spekulativen Geistes, und zwar dezidiert in Abgrenzung von den Erfahrungswissenschaften. Der apriorische Aspekt des menschlichen Denkvermögens wird von Wagner durch einen kühnen Entwurf experimenteller Naturforschung weitergedacht, womit der Erkundung der Außenwelt eine deutlich wichtigere Stellung eingeräumt wird als in Baccalaureus’ idealistischer Erkenntnistheorie.
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[1] Konrad Pfeiffer: Zum höchsten Dasein. Goethes Faust im Lichte der Schopenhauerschen Philosophie, Berlin 1949, S. 13.
[2] Ebenda, S. 15.
[3] Sämtliche Zitate aus der Baccalaureus-Szene stammen aus der folgenden Ausgabe: Goethe, Johann Wolfgang: Faust. Der Tragödie zweiter Teil, in: Ders. Faust. Texte, hrsg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt am Main 2003.
[4] Eintrag vom 6. Dezember 1829. Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzen Jahren seines Lebens, hrsg. v. H. H. Houben, Wiesbaden 1975, S. 283.
[5] Frankenberger, Julius: Faust und der Baccalaureus, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Frankfurt/Main 1927, S. 151-160.
[6] Man könnte dagegen argumentieren, dass Faust, der „hingestreckt auf einem altväterlichen Bette“ liegt, doch präsent ist. Seine Anwesenheit ist allerdings nur physisch und einzig und allein für die ersten Verse von Bedeutung.
[7] Das gilt insbesondere auch für die erste Szene des 2. Teils. Verdeutlichende Monologe Fausts fehlen außerdem noch an zwei Stellen: Nach dem ersten und dem vierten Akt des 2. Teils.
[8] May, Karl: Faust II. Teil. In der Sprachform gedeutet, München 1962, S. 93.
[9] Rickert, Heinrich: Goethes Faust. Die dramatische Einheit der Dichtung, Tübingen 1932, S. 329.
[10] Lohmeyer, Dorothea: Faust und die Welt. Der zweite Teil der Dichtung. Eine Anleitung zum Lesen des Textes, München 1975, Vorwort. Hervorhebung des Verfassers.
[11] Ebenda, S. 157.