Der vorliegende Text ist eine Überlegung, inwiefern die Theorien der Gewalt im Sinne der Moderne (nach Baumann) und der charismatischen Herrschaft (nach Weber) auf den Stalinismus anwendbar sind.
„Stalin und seine Gefolgsleute unterhielten ein unmittelbares […] Verhältnis zur Gewalt.“1
Dieser Satz Jörg Baberowskis charakterisiert Stalin und seine Herrschaft über die Sowjetunion und führt die Kernthesen der Texte Zygmunt Baumans und Max Webers zusammen. Zum einen benennt jenes Zitat sehr deutlich, Gewalt sei ein Mittel der stalinistischen Herrschaft gewesen, zum anderen drückt es aus, Stalin habe eine Gefolgschaft um seine Person versammeln können. Diese habe zudem nach denselben Mitteln gehandelt wie Stalin. Das legt zuerst einmal die Vermutung nahe, die Führungspersönlichkeiten haben sich um eine anziehende Persönlichkeit versammelt. Ausgehend von der Tatsache, dass diese eine Gefolgschaft darstellten und, so wie auch Stalin, Gewalt ausübten, scheint es sinnvoll, zu untersuchen, inwiefern Stalin eine charismatische Führungspersönlichkeit war, wie Weber sie charakterisierte.
Von dieser Überlegung ausgehend, soll im Folgenden erläutert werden, dass und inwieweit die Thesen Webers bezüglich der charismatischen Herrschaft und Baumans betreffend die Gewalt in der Moderne auf den Stalinismus angewendet werden können. An erster Stelle wird nun die Überlegung vorgenommen, Stalin in das Bild eines charismatischen Herrschers einzuordnen. Max Weber führt als charakteristisches Merkmal dieser Herrschaftsform eine quasireligiöse Überzeugung an, einen Glauben also, der „[von innen heraus die Menschen revolutioniert]“2. Es folgt daraus, dass die Menschen sich einem Charismaträger unterwerfen und ihre Werte und Orientierungen nach ihm ausrichten.3 So erweist es sich als möglich, eine Gesellschaft einerseits hinsichtlich solcher Normen zu untersuchen, um Rückschlüsse darauf ziehen zu können, ob dieses soziale Gefüge charismatisch beherrscht wird. Andererseits kann eine solche Herrschaftsform nicht ohne einen Charismaträger mit „einer in seiner Person verkörpert gedachten Sendung“ existieren4 ; es erscheint somit folgerichtig, auch die Person eines Herrschers und ihre Präsenz zu ergründen, um zu der Aussage zu gelangen, ob eine charismatische Herrschaft vorliegt. Diese letztgenannte Methode steht eher in der konservativen Tradition des Historismus und betreibt eine Geschichtsschreibung, die sich an großen Persönlichkeiten orientiert, dennoch ist sie auf Führungspersönlichkeiten, deren Präsenz und Darstellung gut anzuwenden, und führt im Folgenden zu einer kurzen Einordnung Stalins.
Es ist zunächst zu überlegen, wie Stalin innerhalb der sowjetischen Gesellschaft auftrat, welche Rolle er spielte und auf welche Weise(n) er präsent war. Die mediale Darstellung Stalins drängt sich dabei als wichtiger Aspekt auf.
In den 1930er Jahren zog sich der Generalsekretär zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück, Fotographien und Filmaufnahmen Stalins wurden rar und „im Radio verlasen […] Schauspieler Texte“ Stalins.5 Demnach ist es ein möglicher Interpretationsansatz, zu überlegen, ob eine mysteriöse Aura um Stalin geschaffen werden sollte, welche ihm das „absolut Einzigartige, deshalb Göttliche“6 zusprach und den pseudoreligiösen Glauben einer charismatischen Herrschaft stiftete. Angesichts der Tatsache, dass die sowjetischen Medien immer wieder die gleichen retuschierten Portraits und Fotografien veröffentlichten7, ist deutlich, dass der Rückzug Stalins aus der medialen Öffentlichkeit vor allem sein (unzureichendes scheinendes) Dasein als „ein kleinwüchsiger, […] behinderter und die wichtigste Landessprache nur mit starkem Akzent beherrschender“8 Mann verbergen sollte. Scheinbar war die Intention dieses Verhaltens, die Ausstrahlung, die Stalin beigemessen wurde, vor jeglichem Makel zu behüten.
Darüber hinaus ist festzustellen, dass während der Herrschaft Stalins eine „Umdeutung der sowjetischen Frühgeschichte“9 stattfand. Es mag - diese Vermutung drängt sich auf - Absicht gewesen sein, besonders jüngere Sowjetbürger, welche die Oktoberrevolution nicht erlebt hatten, aber auch die Bevölkerung an sich, zu belehren, Stalin habe sich in die Ereignisse der Revolution eingebracht. Deutlich wird dies an dem Film Lenin v oktjabrje (Lenin im Oktober), in dem Stalin als Begleiter und Berater Lenins erscheint.10 - Diese Szene ist beispielhaft für Darstellungen Stalins in Filmen, so erscheint er entweder als erfahrener Berater oder als jugendlicher „Revolutionär und Bürgerkriegsheld.“11 Die filmische und mediale Darstellung des Generalsekretärs ließe sich weiter untersuchen und gibt Aufschluss über die Versuche, Stalin charismatische Züge zu verleihen.
Dies trifft ebenso auf das Erscheinen Stalins in der Literatur zu.
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1 Baberowski, Jörg: Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 206.
2 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß, Teilband 4: Herrschaft , hg. v. Kommission für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Tübingen 2005, S. 481.
3 Ebd. S. 482.
4 Ebd. S. 483.
5 Hülbusch, Nikolas: Džugažvili der Zweite. Das Stalin-Bild im sowjetischen Spielfilm, in: Heller, Klaus, Plamper, Jan (Hg.): Personality Cults in Stalinism - Personenkulte im Stalinismus, Göttingen 2004, S. 208.
6 Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 482.
7 Hülbusch: Džugažvili der Zweite, S. 208.
8 Ebd.
9 Ebd. S. 211.
10 Vgl. Romm, Michail: Lenin v oktjabrje, Sowjetunion 1937.
Häufig gestellte Fragen
Worum geht es in diesem Textauszug?
Der Textauszug analysiert, inwieweit die Theorien von Max Weber zur charismatischen Herrschaft und von Zygmunt Bauman zur Gewalt in der Moderne auf den Stalinismus angewendet werden können. Im Fokus steht die Frage, ob Stalin als charismatische Führungspersönlichkeit betrachtet werden kann und wie seine Herrschaft durch Gewalt und Personenkult geprägt war.
Welche Rolle spielte Gewalt in Stalins Herrschaft?
Der Text zitiert Jörg Baberowski, der feststellt, dass Stalin und seine Gefolgsleute ein unmittelbares Verhältnis zur Gewalt pflegten. Dies wird als zentrales Mittel der stalinistischen Herrschaft hervorgehoben und mit den Thesen Baumans in Verbindung gebracht.
Inwiefern wird Stalin als charismatische Führungspersönlichkeit dargestellt?
Der Text untersucht, ob Stalins Auftreten, insbesondere seine mediale Darstellung, Merkmale einer charismatischen Herrschaft aufweist. Dabei wird analysiert, wie Stalin in Filmen und der Literatur inszeniert wurde, um ihn als erfahrenen Berater Lenins oder als jugendlichen Revolutionär darzustellen. Auch Stalins Rückzug aus der Öffentlichkeit, sowie die Retouchierung von Portraitaufnahmen wird analysiert, um zu untersuchen, ob Stalin eine mysteriöse Aura verleihen werden sollte.
Welche Rolle spielten die Medien bei der Darstellung Stalins?
Der Text beschreibt, dass Stalin sich in den 1930er Jahren zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückzog und seine Darstellung in den Medien sorgfältig inszeniert wurde. Es wird diskutiert, ob dies dazu diente, eine mysteriöse Aura um seine Person zu schaffen und seine körperlichen Unzulänglichkeiten zu verbergen.
Wie wurde die sowjetische Frühgeschichte umgedeutet?
Der Text erwähnt, dass während der Herrschaft Stalins eine Umdeutung der sowjetischen Frühgeschichte stattfand, um Stalin in den Ereignissen der Revolution als Begleiter und Berater Lenins darzustellen. Dies sollte insbesondere jüngere Sowjetbürger und die Bevölkerung an sich belehren.
Welche Quellen werden im Text zitiert?
Der Text zitiert unter anderem Jörg Baberowski, Max Weber und Nikolas Hülbusch. Außerdem wird auf den Film "Lenin im Oktober" von Michail Romm verwiesen.
- Arbeit zitieren
- Marc Siebert (Autor:in), 2011, Stalin und Stalinismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/172324