Kaum etwas Vergleichbares hat sich in den vergangenen Jahren so rasch entwickelt wie das Internet. Mittlerweile kann man im World Wide Web fast alles machen, was man auch im realen Leben machen kann – Geld verdienen, Musik hören, einkaufen, arbeiten, sich informieren, sich politisch betätigen, Filme schauen, spielen, sich unterhalten, flirten und Freunde finden. Somit ist die heutige virtuelle Welt zu einem unverzichtbaren, interkulturellen Raum herangewachsen.
Da Persönlichkeitsmerkmale für jene Aktivitäten im realen Leben eine Rolle spielen, liegt die Vermutung nahe, dass zumindest ähnliche Zusammenhänge bei der internetbasierten Kommunikation ebenfalls bestehen könnten. Aus welchen theoretischen Gründen das Internet persönlichkeitsverändernde Wirkungen entfalten könnte und ob es diese tatsächlich entfaltet, soll die zentrale Frage dieser Arbeit sein.
Die zunehmenden Warnungen über die allgemeinen Gefahren des Internets bis hin zum Verlust der Privatsphäre durch die virtuelle Selbstdarstellung in Internetgemeinschaften richten meine Konzentration auf die sich damit verändernden Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster von Jugendlichen. Durch die mediale Veränderung wurde die selbstreflexive Aufzeichnung eines Tagebuches oder das Austauschen von Poesiealben unter den besten Freunden nun längst durch das öffentliche Präsentieren von persönlichen Informationen via Internet abgelöst.
Diese Arbeit bezieht sich größtenteils auf die Auswertung und Verwendung von vielfältiger Fachliteratur und Studien, die sich mit den Themen über Jugend, Internet und Persönlichkeitsbildung sowie Identitätskonstruktionen auseinandersetzen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Fragestellung und Material
1.2 Aufbau der Arbeit
2 ÄDie Jugend“ - Eine Lebensphase oder nur ein Wort?
2.1 Was ist Ädie Jugend“?
2.2 ÄDie Jugend“ heute
3 Der Prozess der Identitätskonstruktion
3.1 Die Bedeutung von ÄIdentität“ und ÄKonstruktion“
3.2 Die humanistische Psychologie
4 Kommunikation im Wandel der Zeit
4.1 Tagebücher und Poesiealben - Kommunikation früher
4.1.1 Tagebuchforschung nach Siegfried Bernfeld (1931)
4.1.2 Tagebuchforschung der Moderne
4.1.3 Poesiealben
4.2 Das neue Medienzeitalter - Kommunikation heute
5 Die JIM-Studie (Jugend, Information, Multimedia)
6 Das Internet
6.1 Motive und Interessen der Nutzer
6.2 Online-Communities
6.2.1 Communities im Überblick
6.2.2 Entstehung und Aufbau
6.2.3 Studie zur Selbstdarstellung auf jugendnaher Plattformen
6.2.3.1 Gegenstand der Untersuchung
6.2.3.2 Durchführung und Analyse
6.2.3.3 Identitätsarbeit in Online-Öffentlichkeiten
6.2.3.4 Auszüge der Selbstdarstellungen
6.2.3.5 Zusammenfassung
6.3 Online-Spiele: Die zweite Identität
6.4 Konsument oder Produzent?
6.5 Potential oder Gefahr?
6.5.1 Studie zum Privatsphärenschutz
6.5.1.1 Gegenstand der Untersuchung
6.5.1.2 Komponenten der Datengenerierung
6.5.1.3 Zusammenfassung
6.6 Bildungs- und Jugendarbeit im Netz
6.7 Die Relevanz des sozialen Raumes
7 Die Rolle des Internets bei der Identitätskonstruktion
8 Fazit
9 Ausblick
10 Internet-Glossar
11 Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Internetverhalten Jugendlicher 2007-2009
Abbildung 1.1: Informationsquellen
Abbildung 1.2: Wichtigkeit der Medien 2009
Abbildung 1.3: Online-Nutzung
Abbildung 1.4: Internetaktivität von Mädchen und Jungen
Abbildung 1.5: Online-Communitys: Nutzungsfrequenz
Abbildung 2: Aufbau einer Online-Community
Abbildung 3: Profil einer Gruppe (studiVZ)
Abbildung 3.1: Fotoverknüpfung bei Facebook
Abbildung 3.2: Newsfeed-Anzeige bei Facebook
Abbildung 3.3: Kontaktliste bei Facebook
Abbildung 4: Wirkungsweise von Zugriffskontrollen
1 Einleitung
1.1 Fragestellung und Material
Kaum etwas Vergleichbares hat sich in den vergangenen Jahren so rasch entwickelt wie das Internet. Mittlerweile kann man im World Wide Web fast alles machen, was man auch im realen Leben machen kann - Geld verdienen, Musik hören, einkaufen, arbeiten, sich informieren, sich politisch betätigen, Filme schauen, spielen, sich unterhalten, flirten und Freunde finden. Somit ist die heutige virtuelle Welt zu einem unverzichtbaren, interkulturellen Raum herangewachsen.
Da Persönlichkeitsmerkmale für jene Aktivitäten im realen Leben eine Rolle spielen, liegt die Vermutung nahe, dass zumindest ähnliche Zusammenhänge bei der internetbasierten Kommunikation ebenfalls bestehen könnten. Aus welchen theoretischen Gründen das Internet persönlichkeitsverändernde Wirkungen entfalten könnte und ob es diese tatsächlich entfaltet, soll die zentrale Frage dieser Arbeit sein.
Die zunehmenden Warnungen über die allgemeinen Gefahren des Internets bis hin zum Verlust der Privatsphäre durch die virtuelle Selbstdarstellung in Internetgemeinschaften richten meine Konzentration auf die sich damit verändernden Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster von Jugendlichen. Durch die mediale Veränderung wurde die selbstreflexive Aufzeichnung eines Tagebuches oder das Austauschen von Poesiealben unter den besten Freunden nun längst durch das öffentliche Präsentieren von persönlichen Informationen via Internet abgelöst.
Diese Arbeit bezieht sich größtenteils auf die Auswertung und Verwendung von vielfältiger Fachliteratur und Studien, die sich mit den Themen über Jugend, Internet und Persönlichkeitsbildung sowie Identitätskonstruktionen auseinandersetzen.
1.2 Aufbau der Arbeit
Im nachfolgenden Kapitel meiner Arbeit werde ich zunächst auf die Jugend als Lebensphase eingehen. Auf der Bedeutung von Jugend im geschichtlichen Kontext und die Herstellung von Etikettierungsversuchen liegt dabei mein Hauptaugenmerk.
In Kapitel 3 fasse ich die Begrifflichkeiten von ÄIdentität“ und ÄKonstruktion“ zusammen, um den sozialgesellschaftlichen Prozess der Identitätsbildung unter Einbeziehung der humanistischen Psychologie zu verdeutlichen. Der Wandel von Kommunikation durch die Globalisierung und Industrialisierung ist Thema des 4. Kapitels. Die Tagebuchforschung soll im weiteren Kontext einen Aufschluss über die Beweggründe dieser Form der Selbstreflexion Jugendlicher geben, indem ich die Forschung Bernfelds (1931) mit der modernen Tagebuchforschung vergleiche (Kapitel 4.1), bevor ich die sich veränderte Kommunikation des heutigen Medienzeitalters thematisiere (Kapitel 4.2). Die JIM-Studie (Jugend, Information, Multimedia) findet ihre Ausführung im 5. Kapitel. Durch diverse Abbildungen veranschauliche ich innerhalb dieses Abschnittes die Veränderungen der Heranwachsenden in Bezug auf ihre derzeitige Medienaffinität.
Das Internet, als stetig wachsende Plattform zur barrierefreien Kommunikation, steht im Mittelpunkt des 6. Kaptitels der vorliegenden Arbeit. Zunächst gehe ich auf die Motive und Interessen der Nutzer ein (Kapitel 6.1), um im weiteren Verlauf die Online-Communities, deren Aufbau sowie eine Studie zur Selbstdarstellung auf sozialen Plattformen (Kapitel 6.2) genauer zu erläutern. Die zweite Identität innerhalb virtueller Räume bezeichnet sogenannte Rollenspiele, welche ich im darauffolgenden Kapitel 6.3 vorstelle.
Die verschwimmenden Grenzen zwischen Medienproduzenten und Medienkonsumenten im Zeitalter des Web 2.01 sind Bestandteil des darauffolgenden Abschnittes (Kapitel 6.4). Desweiteren stelle ich die Gefahren und Potentiale (Kapitel 6.5) für die Entwicklung der Heranwachsenden durch das Internet, unter Einbezug einer weiteren Studie gegenüber und zeige die damit verbundenen Möglichkeiten zur Bildungs- und Jugendarbeit im Netz auf (Kapitel 6.6). Abschließen werde ich das 6. Kapitel mit einer Darstellung zur Relevanz sozialer Räume innerhalb der virtuellen Welten, unter Einbezug zweier Szenarien von Wolfgang Hünnekens zur aktuellen Bedeutsamkeit von sozialen Plattformen im Alltag.
Kapitel 7 befasst sich mit der Ausgangsfrage zur Herstellung von Identität innerhalb des Lebensabschnittes von Heranwachsenden.
Zum Abschluss führe ich meine Ergebnisse aus den vorgestellten Studien und fachliterarischen Medien zusammen, um die Bedeutung und Rolle des Internets bei der heutigen Identitätskonstruktion Jugendlicher darstellen zu können (Kapitel 8). Die im Text auftauchenden, computerbezogenen Begrifflichkeiten werden nachträglich in einem extra angelegten Internet-Glossar beschrieben.
2 „Die Jugend“ - Eine Lebensphase oder nur ein Wort?
In diesem Kapitel gehe ich unter anderem auf die Frage ein, was Ädie Jugend“ bedeutet und ob diese durch die stetige Entwicklung unseres Sozialsystems überhaupt zweifelsfrei zu definieren ist; ob sie eine Zeitspanne für eine Lebensphase darstellt oder ob Ädie Jugend“ nur ein Wort für eine nicht festlegbare Gruppierung verschiedenster Individuen unterschiedlichsten Alters bedeutet, bedarf es festzustellen, bevor ich die heutige Struktur von ÄJugend“ näher beschreibe.
2.1 Was ist „die Jugend“?
Das Jugendalter, auch Adoleszenz genannt, bezeichnet eine Lebensphase des Übergangs der Kindheit bis hin zum Erwachsenensein. ÄDie Tatsache, dass vieles vom jugendeigenen Brauchtum, das wir als der Gegenwart zugehörig betrachten - studentischer Radikalismus, Boheme2, Bandenwesen, Jugendkriminalität - wenigstens zweihundert Jahre zurückverfolgt werden kann, reizt den Historiker, Fragen sowohl der Kontinuität als auch des Wandels im Jugendleben nachzugehen“ (Gillis 1980, S.11). Die wissenschaftliche Erforschung steht damit eng verbunden mit dem geschichtlichen Werdegang der Heranwachsenden, die im Prozess ihrer Sozialisation von den Erwachsenen verstanden und definiert werden will: ÄDie Geschichte der Jugend wurde üblicherweise aus der Sicht der Erwachsenen geschrieben. Sie zeichnete nach, was Eltern und Erzieher, Lehrer und Vertreter der öffentlichen Meinung von den jungen Leuten erwarteten […]“ (ebd., S.7).
Ausgelöst durch den Generationskonflikt beschreibt Pierre Bourdieu (1993, S.137), Ädass Jugend und Alter keine festen Größen sind, sondern sich sozial konstituieren, im Kampf zwischen Jungen und Alten“.
Die Entwicklung seines eigenen Selbst ist somit nicht nur auf die inneren, sondern insbesondere auf äußere Einflüsse abzuleiten, womit es der Aufgabe bedarf Ädie Entwicklungskraft des Körpers und der Persönlichkeit zu beschreiben, die die sozialen und kulturellen Verhältnisse verändern und die von ihnen verändert werden und die das individuelle Schicksal mitbestimmen“ (Bühler 1975, S.7).
Da ich mich in meinen nachfolgenden Ausführungen auf die Identitätskonstruktionen Heranwachsender beziehe, möchte ich zunächst die Definition der Jugend im geschichtlichen Kontext erläutern. ÄIm ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit gab es in Deutschland noch keine eigene Bezeichnung für diejenigen, die sich altersspezifisch in den Lebensjahren zwischen Kindheit und Erwachsenensein befanden. Und erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde begrifflich ein ganz geringer Teil des männlichen Nachwuchses als ‚junge Herrn‘ bezeichnet. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts tauchte dann der Begriff ‚Jüngling(e)‘ auf, die ebenfalls nur eine verschwindend kleine Gruppe von jungen Männern umfasste“ (Ferchhoff 2007, S.27). Gegen Ende des 18. Jahrhunderts und während des gesamten 19. Jahrhunderts kam es immer wieder zu verschiedenen Jünglingskonzeptionen. So tauchte Äder Begriff des ÄJugendlichen“ […] gegen Ende des 19. Jahrhunderts erst in der Semantik der Juristen auf, und er identifizierte dort die potentiell kriminellen und verwahrlosten jungen Menschen“ (Dudek 2002, S.336). Zwischen 1911 und 1914, zu Beginn der staatlichen Jugendpolitik, wandelte sich das Bild des delinquenten Heranwachsenden in Äeine <<ins Positive gewendete Konzeption vom jungen Menschen, den es für den Staat und Gesellschaft zu gewinnen gilt>>“ (ebd., S.336). So generierte sich aus dem Etikett der straffälligen Jugendlichen eine Gruppierung Äfür Gesellschaftserneuerung und für einen neuen Lebensstil, der sich sowohl in der politischen Propaganda wie in der Werbung für den expandierenden Konsumgütermarkt einen festen Platz eroberte“ (ebd., S.337). Darüber hinaus begann am Anfang des 20. Jahrhunderts ein regelrechter ‚Kampf um die Jugend‘ von Verbänden, Parteien, Kirchen und Staat (vgl. Ferchhoff 2007, S.35). Dank dieser Entwicklungen avancierte Ädie Jugend“ zum Potential der Zukunft und wurde für die Wissenschaft unentbehrlich.
ÄWir wissen heute: Das gesellschaftliche Sozialsystem begrenzt historisch jeweils auch die Lebenshorizonte Heranwachsender, bestimmt ihre soziale Lage, das Spannungsfeld verschiedenen Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Arbeitswelt, peer-groups3 ) und variiert die zeitliche Dauer, den Verlauf, die Struktur, die Autonomie und selbst die biologischen Determinanten (Geschlechtsreife, Körperwachstum) jener Lebensphase, die wir Jugend oder Adoleszenz nennen“ (Dudek 2002, S.334). Der Eintritt in die Lebensphase, die wir als Jugendalter bezeichnen, ist also zeitlich nicht präzise einzugrenzen.
Zwar versteht man die ÄJugend […] als eine Zeit der Ideal-Bildung, in der der junge Mensch seine Zukunftspläne entwirft, seine sexuelle Reifung erfährt, Mitmenschlichkeit und Verantwortung ausbildet. Sie ist andererseits auch die Zeit eines sozialen Moratoriums, an dessen Ende mit der Familiengründung die ökonomische Selbstständigkeit steht“ (ebd., S.336). Dennoch ist eine stringente Unterteilung einer Kindheits-, Jugend- und Erwachsenenphase durch die Umstände von dem Wandel der Bildungssysteme oder Pubertätsverlagerung unscharf geworden. ÄJugendzeit bedeutet für den einen, nach frühem Schulabgang schon im Berufsleben stehen zu müssen, während der andere noch Schüler oder Student ist; während der eine den Militär- oder Ersatzdienst absolviert, sucht der andere vielleicht verzweifelt nach einem Ausbildungs- oder Arbeitsplatz und ein dritter geht unbeschwert von Zukunftssorgen seinen Interessen und Neigungen nach“ (Gillis 1980, S.7).
Abschließend sei also zu bemerken, dass Ädie Jugend“ nur ein Wort ist und Äwer sich mit Jugend beschäftigt, der weiß, dass es Ädie Jugend“ nicht gibt, dass begrifflich damit eine Alterskohorte, eine ontogenetische4 Entwicklungsphase oder eine soziale Gruppe gemeint sein kann, dass aber auch zwischen Land- und Stadt-, Arbeiter- und Bürgerjugend, zwischen Schülern und Auszubildenden, Jungen und Mädchen unterschieden werden muss“ (Dudek 2002, S.333).
Diese und viele weitere Faktoren tragen dazu bei, dass die Lebensphase Äder Jugend“ unterschiedliche Formen annimmt, Äunterschiedlich erlebt wird, zu unterschiedlichen Verhaltensweisen der Jugendlichen führt, nämlich in direkter Abhängigkeit von der Organisation des Schulbesuchs und der beruflichen Arbeit, der Freizeitgestaltung, von den Möglichkeiten der eigenen Familiengründung, den Beteiligungsformen am geselligen politischen Leben, abhängig von den Erwartungen der Erwachsenen an die junge Generation“ (Gillis 1980, S.7). Wenn ich im weiteren Kontext dieser Arbeit also von ÄJugend“ oder ÄJugendlichen“ spreche, beschränke ich mich dadurch nicht auf eine konkrete Kohorte5 von Menschen einer bestimmten Altersgruppe, anstelle ist die Rede von der sich entwickelnden Generation Heranwachsender, unabhängig von Alter und Geschlecht.
2.2 „Die Jugend“ heute
Verschiebungen im Rahmen der gesellschaftlichen Altersgruppenverteilung haben nicht nur auf die jugendspezifischen Lebensbereiche ihre Auswirkungen. Da Ädie Jugend“ gerade auch durch die Generation der Erwachsenen, sowie der sozialen, äußeren Einflüssen konstruiert wird, unterliegen die Forschungen um die Rolle der Heranwachsenden, auf Grund des stetigen Wandels, keiner kausalen Regeln. ÄIn Deutschland sind nur noch zirka 20% der Bevölkerung unter 20 Jahre alt. Und ihr Anteil wird in den nächsten Jahren noch weiter sinken. Jugendliche werden immer mehr zu einer Minderheit in einer alternden Gesellschaft“ (Ferchhoff 2007, S.277). Die fortlaufende Umstrukturierung innerhalb unserer Gesellschaft geknüpft an Anforderungen und Pflichten, Bedürfnissen und Regeln haben dazu beigetragen, dass Normen und Werte ebenfalls einer permanenten Wandlung erliegen. Was für die vorhergegangene Generation noch als Recht und Selbstverständlich angesehen wurde, ist auf Grund einer enormen Wechselhaftigkeit nicht generationsübergreifend zu verallgemeinern.
Die Industrialisierung, Globalisierung, Individualisierung und Veränderung der Lebensstile, Lebensbedingungen, Lebenslagen und Lebensformen ermöglichen die Chance und Attraktivität von selbstgestalteten Freiräumen und selbstgesteuerter Integration Äallerdings im dichten Geflecht von Institutionen und strukturellen Vorgaben und Restriktionen. […] Lebensführung, Moral, Sexualität, Kultur, Medien, Musik, Sport und Mode - sie kennen alle zumindest keine allgemeinverbindlichen kanonischen6 Vorschriften und Zurichtungen mehr. Statt dessen kommt es zu einer Selbstthematisierung und Biographisierung der eigenen Lebensplanung und -führung. Lebensform Lebensplanung, soziales Milieu, Stand, Beruf, Wohnort, Konsum, Partner, Kinderkriegen usw., alles das, worüber wir heute mehr oder wenig persönlich befinden dürfen/müssen, lag in früheren Zeiten - ohne Wahl-, Einflussmöglichkeiten und Selbstbestimmung - weitgehend fest“ (ebd., S.77).
Jugendlichen wird mittlerweile durch die beschriebenen gesellschaftsstrukturellen Veränderungen eine deutlich höhere Kompetenz zur Eigenverantwortlichkeit zugestanden, da eine breitere Vielfalt an Möglichkeiten für ein Leben in eigener Regie zur Verfügung stehen. ÄSie können bspw. Relativ früh soziale Beziehungen aufnehmen und gestalten und erproben selbst, welche soziale Beziehungen, Gemeinschaften und Netzwerke für sie geeignet und gut sind“ (ebd., S. 79f).
Ein Zeichen für die heutige Selbstständigkeit der Jugendkultur sind die neuerworbenen Traditionen, Ädie die Jugendlichen unter sich aufbauen und in denen sie ihre Bräuche, Verhaltensmuster, Moden und Leitgedanken weitergeben“ (Gillis 1980, S.8). Die mediengestützten Kommunikations- möglichkeiten tragen dazu bei, dass Ädie Freiheitsgrade des Handelns und die individuell zu verantwortenden Lebensentscheidungen und Sinnfindungen weltweit nahezu in allen jugendlichen Lebensmilieus freilich in unterschiedlichen Graden zugenommen [haben]“ (Ferchhoff 2007, S.82). Die vorzeitige Selbstständigkeit und damit verbundene Selbstorganisation innerhalb gesellschaftlicher Lebensbereiche, rufen eine immer frühere Partizipation Jugendlicher innerhalb der Lebensplanung hervor. ÄSchulform, Berufsfindung, Sexualität, Medien, Sport, Technik, Konsum und Genuss hat zwar einerseits zu einem hohen Maß der persönlichen Selbstverwirklichung, der Verfügbarkeit und Machbarkeit des eigenen Lebens geführt: Andererseits bedeutet dieses Projekt der ‚Selbstsozialisation‘, der Selbstfindung bzw. des Individualisierungsschubs, dass Jugendlichen, oftmals auch schon Kindern lebensaltersspezifisch sehr früh auch jenseits wärmespendender Schonräume und sozialer Bindungstraditionen und jenseits sicherheitsgewährender sozialmoralischer Lebensmilieus ein hohes Maß an Selbstverantwortung, Selbstbehauptung und damit auch klare Visionen der Erfüllung und des Versagens bzw. der Scheiternsrisiken aufgebürdet werden“ (ebd., S.82). Die daraus entstehende Unsicherheit gegenüber seiner Selbst- aber auch Fremderwartungen veranlasst die heutige Generation der Heranwachsenden zu gemeinsamen Zusammenschlüssen, um aus einer gemeinschaftlichen Stärke zu profitieren. In der Geschichte der Jugend gab es vergleichsweise auch früher schon Äeine Vielzahl mehr oder weniger loser Zusammenschlüsse vorwiegend männlicher Jugendlicher in Banden, Cliquen oder Freundschaftsgruppen, die nicht selten das Objekt sozialpädagogischer Jugendarbeit waren. Entstanden im proletarischen Milieu der Großstädte entwickelten diese Jugendlichen Verhaltensmuster und Formen der Freizeitgestaltung, die von den Pädagogen besorgt als Einstieg in die Verwahrlosung und Kriminalität wahrgenommen wurden, ihnen als Projektionsfolie eines negativen Jugendlichen dienten und die Debatten über die Grenzen der Erziehbarkeit belebten“ (Dudek 2002, S.344). Die heutigen, virtuellen Zusammenschlüsse von Jugendlichen finden in den sozialen Räumen des Internets statt. Gemeinsamkeiten und Anerkennung werden angestrebt, in der Hoffnung sich dem Dilemma der Selbstverantwortung und dem damit verbundenen, möglichen Scheiterns entziehen zu können. So beschreibt auch Böhnisch (2009, S.28),
Ädass Jugend gesellschaftlich wieder als Risikogruppe, denn als Experimentierphase interpretiert [wird]“, da die Möglichkeiten der selbstgesteuerten Werteübernahme durch die Angebote des Internets als gänzlich grenzenlos erachtet werden können: ÄEs ist eine Tendenz zur Selbstindividualisierung mit viel Spielraum für individuelles Handeln oder anders ausgedrückt eine Tendenz zur Biographisierung der Jugendphase zu beobachten […]“ (Ferchhoff 2007, S.84).
Die Jugend ist geprägt durch die technische Modernisierung, Ädeshalb etikettiert man die heutigen, von den virtuellen Oberflächen, der multimedialen Realität und vor allem der Digitalisierung der Medien- und der Entmaterialisierung der Musikkultur faszinierten Jugendlichen in diesem Sinne pointiert etwa als ‚Mediengeneration‘ oder als ‚Generation Internet‘ […]“ (ebd., S.166).
Das Internet ist mittlerweile sogar zu einem nötigen kulturellen Raum geworden (siehe Kapitel 6.7), um sich innerhalb der Gesellschaft der Heranwachsenden behaupten zu können. Es scheint, als habe Ädie Jugend“ die heutige Signifikanz des Internets verstanden, um sich individuell, selbstprägend auszubilden. Im nachfolgenden Abschnitt gehe ich daher auf den Prozess der Identitätskonstruktion detaillierter ein, um im späteren Anschluss das Zusammenwirken der Werteübernahme und Identitätsausprägung durch den virtuellen Medienkonsum darstellen zu können.
3 Der Prozess der Identitätskonstruktion
3.1 Die Bedeutung von „Identität“ und „Konstruktion“
ÄWiewohl der Prozess der Identitätsbildung heute als ein lebenslanger angesehen wird, sind die meisten Theorien, die sich damit auseinandersetzen, auf Kindheit und Jugend bezogen. Dies liegt an der bislang vorherrschenden Annahme der Entwicklungspsychologie, dieser Prozess gehe einher mit dem Erwachsenwerden, sei also auf eine bestimmte Lebensphase begrenzt, an deren Ende sich eine Persönlichkeit bzw. eine Identität herausgebildet hat. Wenngleich sich die Annahme einer Finalität der Identitätsbildung im Erwachsenenalter als nicht haltbar erwiesen hat“ (Schorb 2009, S.82), beziehe ich mich in den nachfolgenden Ausführungen auf die Identitätsarbeit Heranwachsender, da Ädie besondere Bedeutung der Identitätsfindung für das Jugendalter hervorzuheben [ist]“ (ebd., S.82).
ÄIdentität wird nicht einmal und nicht ein für allemal ausgebildet“ bemerkt Helga Theunert im Bezug auf die Identitätsarbeit Jugendlicher und fügt gleichbedeutend hinzu: ÄEs ist ein komplexes, flexibles und unabgeschlossenes Gefüge, an dem wir in Interaktion mit der sozialen Umwelt kontinuierlich und lebenslang feilen“ (Theunert 2009, S.9). Begabungen und Verhaltensweisen sind somit einem stetigen Wandlungsprozess unterstellt, den es zu verstehen gilt. ÄNach außen Sichtbares wird ebenso modelliert wie Eigenschaften, Fähigkeiten und Talente, Werthaltungen und Positionierungen im sozialen Umfeld und in der gesellschaftlichen Welt. Zwar ist Identitätsarbeit ein lebensbegleitender Prozess, besonderes Gewicht hat sie jedoch im Jugendalter, denn in diesem Lebensstadium markiert die Ausformung einer tragfähigen Identität eine der zentralen Entwicklungsaufgaben“ (ebd., S.9). Unterstützung erfährt diese Aussage von Maren Würfel (2009, S.101), die wie folgt formuliert: ÄIm Jugendalter […] stellt sich die Frage nach Identität nach wie vor besonders drängend“.
Nach Heiner Keupp (2009, S.53) lässt sich die Identitätsfrage Äsehr einfach formulieren: ÄWer bin ich?“ Diese Frage kann man in Bezug auf die Inhalte beantworten: Was nennen Menschen für Themen, Merkmale, Eigenschaften, Gefühle oder Handlungen, über die sie erkennbar werden in ihrer unverwechselbaren Eigenart“. Die neueren Ansätze der modernen Identitätsforschung sehen den Identitätsprozess nicht mehr nur als ein Mittel, um am Ende der Adoleszenz ein gewisses Niveau an starr konstruierter Identität zu erreichen, sondern beschreiben diesen Prozess als lebenslangen Motor für die Entwicklung und Prägung, auch im Erwachsenenalter (vgl. Keupp 1999, S.190). Das Identitätsthema Äenthält ein hohes zeitdiagnostisches Potential. Die gesellschaftliche Verbreitung, die dieses Thema erfahren hat, kann nicht als Indikator für ein gesichertes Terrain gesellschaftlichen Wissens gedeutet werden, sondern als Reaktion auf Umbruch-, Befreiungs- und Verlusterfahrungen“ (ebd., S.8). Die Erforschung der Identität und ihrer Herstellung ist deshalb so verbreitet und wichtig, weil Äinnerhalb der gesellschaftlichen Durchschnittserfahrung nicht mehr selbstverständlich ist, was Identität ausmacht“. Somit ist Änicht die Analyse einzelner historischer oder individueller Lösungen der Identitätsfrage […] das Bedeutsame, sondern die Erforschung der Gesetzmäßigkeit des innerpsychischen Apparats, der sie ermöglicht“ (ebd., S.64).
Das Lernen durch Imitation, das Übernehmen neuer Ideen und das Annehmen von Ratschlägen bilden und prägen einen Menschen durch diese Art der äußeren Beeinflussung. Durch diesen Aspekt stellt sich die Frage Ävom Verhältnis zwischen Identität und Alterität, von unserer Selbstbezogenheit und unserem Bezug zu anderen Menschen. Der lateinische Begriff des <<alter>> als Bezeichnung des <<anderen>>, des Mitmenschen, hat in der abendländischen Ideengeschichte eine lange Tradition. Hier verweist er darauf, dass wir unsere Identität, unsere unverwechselbaren Eigenheit nur in engem Zusammenwirken mit <<den anderen>>, mit unserem sozialem Umfeld entwickeln und bewahren können. Identität und Alterität stehen in einem unauflösbaren Zusammenhang“ (ebd., S.67).
Aus dieser Sicht ist die Identität ein Konzept, das vom Konzept der Alterität abhängig ist. Deshalb ist es trefflicher die Identitätsfrage nicht als: <<Wer bin ich?>> zu deklarieren, sondern: <<Wer bin ich im Verhältnis zu den anderen und wer sind die anderen im Verhältnis zu mir?>> (vgl. ebd., S.95). ÄSo sehr jeder Blickwinkel für sich plausibel erscheint, so klar ist andererseits, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Gesellschaft ist nicht etwas, das hinzuaddiert wird, sondern konstitutiv7 für die Person und ihre Entwicklung“ (ebd., S.67f). Insgesamt sei also zu bemerken, dass es bei der Identität, Äimmer um die Herstellung einer Passung zwischen dem subjektiven ‚Innen‘ und dem gesellschaftlichen ‚Außen‘, also um Produktion einer individuellen sozialen Verortung [geht]“ (Keupp 2009, S.54).
ÄMenschen werden nicht mehr in ‚Identitäten‘ hineingeboren, sondern sehen sich einer Vielzahl an möglichen Lebenszielen und -stilen gegenüber“ (Würfel 2009, S.101). Dieser Fakt resultiert daraus, Ädass wir uns in vielen unterschiedlichen sozialen Rollen erleben. Wir stellen uns in ihnen auch jeweils anders dar, zeigen andere Seiten von uns“ (Keupp 1999, S.67). Die Identität wird also heute als eine komplexe Struktur wahrgenommen, Ädie aus einer Vielzahl einzelner Elemente besteht (Multiplizität), von denen in konkreten Situationen jeweils Teilmengen aktiviert sind oder aktiviert werden (Flexibilität)“ (Döring 2003, S.325). Sherry Turkle (1998, S.426) beschreibt den neumodischen Facettenreichtum der Identitätsausprägung, indem sie sagt:
ÄSolange Identität noch als einheitlich und fest definiert wurde, war es relativ leicht, Abweichungen von einer Norm zu erkennen und zu sanktionieren. Das Konzept eines eher wandlungsfähigen Selbst erlaubt es hingegen, die eigene innere Vielfalt offener und in größerem Maße zu erkennen“.
Als Rahmenkonzept einer Person verstehen wir also die individuelle Identität als ein Interpretationsraum eigener Erfahrungen, die durch diesen Prozess als Basis für die alltägliche Identitätsarbeit dient. ÄIn dieser Identitätsarbeit versucht das Subjekt, situativ stimmige Passungen zwischen inneren und äußeren Erfahrungen zu schaffen und unterschiedliche Teilidentitäten zu verknüpfen“ (Keupp 1999, S.60).
Bernd Schorb (2009, S.84) bezeichnet die Identitätsarbeit gleichbedeutend als eine ÄAuseinandersetzung mit der eigenen Biografie, mit den ‚Entwicklungsaufgaben‘, die das soziale Umfeld stellt, und in Interaktion mit anderen. Hier findet das Subjekt die Quellen, aus denen es die Mittel seiner Identitätsarbeit schöpft“. Auch wenn die Identitätsentwicklung ein Prozess ist, der im Inneren eines Subjekts stattfindet, Äentsteht [Identität] als Passungsprozess an der Schnittstelle von Innen und Außen.“ (ebd., S.191).
Neben jenen wechselhaften Identitätsaspekten gibt es sicherlich auch unveränderliche Kriterien, die uns weitgehend einzigartig machen: ÄDaten (Geburtstag), biologische Unveränderlichkeiten des Körpers (Augenfarbe, Geschlecht, genetischer Code) und relativ unveränderliche Zugehörigkeiten zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, den Deutschen etwa, den Katholiken, den Verheirateten“ (ebd., S.65). Derartige soziale Zuordnungen konstruieren unter Einbezug unbeständiger Verhaltensweisen veränderbare Identitätsmonumente, deren prägenden Zuweisungen Äin der Summe über einen langen Zeitraum hinreichen, um eine Person unverwechselbar zu machen. Das ist uns allen vertraut: Kollektive Zugehörigkeiten wechselt man nicht wie das Hemd, und manche kann man nie mehr ungeschehen machen: Wer einmal verheiratet war, kann nie mehr ledig sein, allenfalls geschieden. Seine Staatsangehörigkeit kann man zwar verändern, nicht jedoch sein Geburtsland“ (ebd., S.65). Gesellschaftlich konstruierte Werte und Normen, Etiketten und Kategorien werden zeitweise bis lebenslang an Individuen haften.
ÄDemgegenüber steht die Identität als ein Werden, als ein Sichselbst-Finden. Identitätsarbeit, -suche, -findung, -bildung: All diese Begriffe betonen den Entwicklungsaspekt von Identität. Identitätsprobleme hat man dann, wenn dieser Weg steinig wird. Identität so verstanden ist nicht etwas, was man von Geburt an hat, sondern was man entwickelt, ein Weg, der viele Verläufe nehmen kann und vielen Einflüssen ausgesetzt ist. Identität als ein Projekt, das den Menschen zu sich selbst führt, ein Entfaltungs- und Entwicklungsbegriff“ (ebd., S.65).
Eine weitere Notwendigkeit Äzur individuellen Identitätskonstruktion verweist auf das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und Zugehörigkeit“ (Keupp 2009, S.54), weshalb die ansteigende Existenz innerhalb sozialer Netzwerke nachvollziehbar erscheint. ÄIn den sozialen Netzwerken wird die Vielfalt von Informationen, Produkten, aber auch Lebensformen bewertet und dadurch Ausschlusskriterien auf ein individuell verkraftbares Maß beschränkt. Was man kauft, welche Filme man sieht, wohin man geht oder in Urlaub fährt und was man über Politik denkt, wird im wesentlichen Kontext dieser sozialen Netzwerke gefiltert und gegebenenfalls interpretiert, natürlich auch, wie man sich beruflich positioniert und was man in der Liebe für normal hält“ (Keupp 1999, S.154). Das dabei entstehende Bild eines Heranreifenden, Äder aus dem Markt der Freizeitangebote entsprechend seinen Bedürfnissen und Möglichkeiten auswählt und dabei höchstens kurzfristige und wenig verbindliche soziale Beziehungen eingeht […], hängt eher von aktuellen Interessen und Begegnungen ab als von übergreifenden Einstellungen und Orientierungen“ (Keupp 1999, S. 156). Identität konstruiert sich also dort, wo die Kommentierung, Kritik und Anerkennung aus der Umwelt erfahren wird. Die Identität der heutigen Jugendkultur benötigt demnach soziale Netzwerke, da sie
Ämaterielle, emotionale und soziale Ressourcen zur Verfügung stellen, Optionen für Identitätsentwürfe und -projekte eröffnen und die Komplexität der sozialen Welt durch die Vermittlung von Relevanzstrukturen reduzieren. Sie braucht sie auch deshalb, weil die einmal darin entwickelten Identitätsprojekte weiter auf soziale Anerkennung und Unterstützung angewiesen sind“ (ebd., S.169).
Der dadurch entstehende Drang nach alltäglichem Austausch innerhalb derartiger virtueller Welten, zur Befriedigung seines Selbst, scheint ein Prozess der Selbstprägung zu sein. Äußere Einflüsse und der innere Drang nach Verständigung und sozialer Rückmeldung bilden die Motive der Online-Aktivität Jugendlicher (siehe Kapitel 6.1). Nach Keupp (2009, S.63), stehen Äim Zentrum der Anforderungen für eine gelingende Lebensbewältigung […] die Fähigkeiten zur Selbstorganisation, zur Verknüpfung von Ansprüchen auf ein gutes authentisches Leben mit den gegebenen Ressourcen und letztlich die innere Selbstschöpfung von Lebenssinn“. Dadurch stellen Personen Zugehörigkeiten innerhalb eines Netzwerkes her, Äsie positionieren sich in Beziehungen zu anderen und andere in Beziehungen zu sich. Sie stellen Nähe und Distanz her, pflegen Beziehungen oder brechen sie ab, ordnen sich unter, über oder ein, sie erweitern Netzwerke oder isolieren sich, sie investieren in die Pflege individualisierter Freundschaftsbeziehungen oder verlassen sich auf tradierte Familienbeziehungen“ (Keupp 1999, S.170). Die Relevanz dieser computerbasierten Vereinigung von Individuen ist demnach für die Identitätsforschung von sehr großem Interesse, da soziale Netzwerke Änicht nur im Maß seiner Differenziertheit den Stand der Identitätsentwicklung einer Person [ausdrücken].“ (ebd., S.170). Die Relation zwischen der Person und seiner sozialen Welt, gilt es zu ergründen, um den Vorgang der Identitätsentwicklung durch die Mediennutzung der heutigen Jugend verstehen zu können.
ÄSoziale Netzwerke werden so gestaltet, dass die Identitätsprojekte einer Person darin Einbindung, Anerkennung und Unterstützung finden“ (ebd., S.170). Die Selbstdarstellung und das äußere Bild, geprägt durch die Rückmeldungen der anderen Nutzer, erschaffen je nach themenorientierter Rolle bestimmte Teilidentitäten. Der User8 mutiert auf diesem Wege in ein wandelbares Subjekt im Wechselbad seiner Analogie und entwickelt neue Formen von Identitäten. Der Auslöser Äsolcher neuen <<kulturellen Identitäten>> sind oftmals Situationen von Benachteiligung und Diskriminierung. Die stigmatisierten Gruppen wenden die negativen Zuschreibungen in positive Qualitäten. Sie verweisen auf die Möglichkeit alternativer Erfahrungen in einer Minoritätenkultur9 und die dabei entwickelten Kompetenzen und setzen dabei häufig einen Entwicklungsprozess der herrschenden Kultur in Gang“ (ebd., S.180).
Die lebenslang andauernde Aneignung von Identitätsfacetten beschreibt Keupp daher als ‚Konstruktion von Identität‘, Äweil es sich nicht um fertige Ergebnisse, sondern um ständig sich weiterentwickelnde Produkte des Identitätsprozesses handelt. Zum anderen bevorzugen wir den <<Konstruktionsbegriff>>, weil er deutlich macht, dass das, was im Akt der Selbstreflexion entsteht (beispielsweise eine Vorstellung einer bestimmten Teilidentität), sich mit dem selbstreflexiven Akt bereits wieder zu verändern beginnt, man sich also in und mit seiner Selbsterzählung ständig <<neu konstruiert>>“ (ebd., S.189). Die dargestellte Form der Selbstreflexion ruft einen Prozess innerhalb des Subjekts hervor, Ädiese vielfältigen und komplexen Selbstthematisierungen unter bestimmten Identitätsperspektiven zu bündeln. Dieser Verknüpfungsschritt alltäglicher Identitätsarbeit (Reflexionsprozess) ist stark kulturell und narrativ geprägt“ (ebd., S.193). Die Selbstthematisierung innerhalb der vernetzten Medienwelt steigert die Ausprägung von Identitätsperspektiven. Ä[Sie] formulieren quasi den Erzählrahmen und fokussieren die Sicht auf die eigene Person unter bestimmten Rollen, lebensphasischen Themen oder übergreifenden Sichtweisen. Indem Erfahrungen (sich und anderen) erzählt werden, werden sie nicht nur zusammengefasst, sondern auch sortiert, angeordnet und oftmals (entsprechend sozialer Vereinbarungen) umgeschrieben. Innerhalb dieser Identitätsperspektiven erfolgt als weiterer Reflexionsschritt der Vergleich aktueller Erfahrungen mit vergangenen (unter jeweils bestimmten Identitätsperspektiven). So werden vor allem <<bekannte>> (so wie immer) und <<neue>> (anders als sonst) Erfahrungen unterschieden (ebd., S.193). Der gegenseitige Austausch von Informationen, Erfahrungen und Verhaltensweisen tragen zu einer Identitätsausprägung bei, die sich durch die investierte Selbstdarstellung und dem äußeren Einfluss der Interaktionspartner entwickelt: ÄDie unter bestimmten, zumeist kulturspezifisch geprägten Identitätsperspektiven gebündelten Erfahrungen werden in aller Regel retrospektiv (narrativ) weiter verdichtet zu verschiedenen
Identitätskonstruktionen, lebensbereichs- bzw. lebensphasisch spezifischen Teilidentitäten oder zu übergreifenden Konstrukten, den biographischen Kernnarrationen oder/und dem Identitätsgefühl“ (ebd., S.193). Interessant ist es demnach, Äwie den einzelnen die Konstruktion von Identität gelingt angesichts vielfältiger Selbsterfahrungen in unterschiedlichen sozialen Lebenswelten und Rollen und angesichts der Erwartungen der sozialen Umwelt“ (ebd., S.95).
Abschließend sei also zusammenfassend formuliert: ÄSozialpsychologische Theorien unterteilen Identität in zwei Komponenten, eine soziale (gemeinschaftliche) und eine personale (individuelle). Subsumiert wird dies auch unter dem Begriff ‚Selbst‘ bzw. ‚Selbstkonzept‘. […] Während die personale Identität die idiosynkratischen10 Aspekte einer Person, wie intellektuelle Fähigkeiten oder persönliche Einstellung, umfasst, steht die soziale Identität für die Summe der sozialen Identifikationen einer Person, die sich durch deren Zugehörigkeit zu sozialen Gemeinschaften, wie z.B. Gruppen und Familien, ergeben“ (Renner 2005, S.252). Beide Anteile dieser Identitäten werden durch die internetbasierte Kommunikation berührt, ausgeprägt oder weiterentwickelt. Wenn in der nachfolgenden Arbeit der Begriff des ‚Selbst‘ oder der ‚Identität‘ verwendet wird, sind daher prinzipiell dessen beide Seiten in Betracht zu ziehen. ÄIdentität im psychologischen Sinne ist [also] die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit für eine lebensgeschichtliche und situationsübergreifende Gleichheit in der Wahrnehmung der eigenen Person und für eine innere Einheitlichkeit trotz äußerer Wandlungen“ (Keupp 2009, S.54). Im Anschluss dieses Kapitels verdeutliche ich daher die psychologische Herangehensweise im Bezug auf die Identitätskonstruktion Heranwachsender, indem ich die Ansätze der humanistischen Psychologie im weiteren Verlauf vorstelle.
3.2 Die humanistische Psychologie
Die Bezeichnung Ähumanistische Psychologie“ wurde im Jahre 1962 von einer Gruppe Psychologen gewählt, um eine Organisation zu gründen, die charakteristische Verhaltensmerkmale und die emotionale Dynamik eines erfüllten und gesunden menschlichen Lebens erforscht (vgl. Bühler 1983, S.7).
ÄEin zentrales Anliegen ist die Aufrechterhaltung von Wert und Würde des Menschen, und das Interesse gilt der Entwicklung der jedem Menschen innenwohnenden Kräfte und Fähigkeiten. In dieser Sicht nimmt der Mensch in der Entdeckung seines Selbst, in seiner Beziehung zu anderen Menschen und zu sozialen Gruppen eine zentrale Stellung ein“ (ebd., S.7).
Die damals neue Vereinigung der humanistischen Psychologie versammelte verschiedenste Vertreter unterschiedlichster Disziplinen, Äum der wachsenden sozialen und kulturellen Krise und dem Gefühl der Entmenschlichung und der Vermassung des Individuums im zwanzigsten Jahrhundert wirksam entgegentreten zu können“ (ebd., S.6).
Die Fragen <<Wer bin ich?>> und <<Wohin geht mein Weg?>> sind nach wie vor zwei zentrale Aspekte, Äin denen so viel Zweifel über sich selbst, Furcht und Ungewissheit über Ziel und Weg zum Ausdruck kommen. [Sie sind] nichtmehr nur auf das Jugendalter beschränkt, sondern [sind es Fragen,] die Menschen bis weit ins Erwachsenenalter hinein verfolgen, manchmal, in tragischer Konsequenz, bis in die letzte Phase des Lebens, bis zum Tod“ (ebd., S.66). Diese ständige Art der Unsicherheit Ähinsichtlich Überzeugungen, Werten und des eigenen Selbst macht aus dem heutigen Erwachsenen einen Heranwachsenden, der sich über die Zeit hinaus, in der man ihm zugesteht, ein Heranwachsender zu sein, einsam fühlt. Dieses Phänomen wird heute Identitätsmangel oder Identitätsverlust genannt und ist als ein Charakteristikum unserer Zeit und unserer Gesellschaft bezeichnet worden. Tatsächlich ist es eher ein Mangel als ein Verlust, denn >Verlust< heißt, dass man voraussetzt, dass ein Gefühl der Identität einmal da war“ (ebd., S.66). Die Einsamkeit und die damit verbundenen Ausflüchte der Heranwachsenden in mediale Welten, um auf Zuspruch und Gemeinsamkeit zu stoßen, liegt demnach auf der Hand.
Die Frage nach der Existenz oder Entstehung von Identität ist die zentrale Frage der Wissenschaft: ÄEs gab keine Wissenschaft vor dem Menschen; sie wurde erst vom Menschen geschaffen. So spiegeln sich in ihren Entwicklungen und Wandlungen die Veränderungen der Menschen, die allmählichen Wandlungen ihres Weltbildes und ihrer Lebensstile. […] Der Mensch erforscht die Umwelt - und sich selbst in der Umwelt -,um die wesentlichen Voraussetzungen seiner eigenen Existenz zu begreifen“ (ebd., S.10). In der Deutung des menschlichen Lebens bezieht sich die humanistische Psychologie auf die innere Freiheit, den Selbstausdruck und die Selbstentfaltung. Wer aber hätte damals gedacht, dass sich fast 50 Jahre später die heutige Form der Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung, ermöglicht durch das Internet, mit den Gedanken der humanistischen Psychologie assoziieren lässt. Demnach ist es nämlich so, Ädass die humanistische Psychologie an die persönliche Würde des Individuums und an die Kreativität als eine grundlegende Fähigkeit glaubt und auch die Entwicklung zur Selbstverwirklichung betont, jener Zuständlichkeit, die eine Transzendenz des eigenen Selbst erfordert, in die der Einzelne seine Mitmenschen mit einbezieht“ (ebd., S.8).
Weiterführend beschreibt Bühler, dass die humanistische Psychologie sich erhofft, Ädass ihr tiefer Glaube an die Fähigkeit des einzelnen Menschen, Sinn aus dem Absurden heraus zu schaffen, im Leben der Gegenwart eine positive Kraft darstellen kann“ (ebd., S.9). Diese 1983 von Charlotte Bühler dargestellte Definition der humanistischen Psychologie scheint für die heutige Zeit eine treffliche Umschreibung für das moderne Internetverhalten vieler Jugendlicher zu stehen, die sich über soziale Netzwerke und darin enthaltenen Nebensächlichkeiten identifizieren. Ein fundamentales Prinzip der humanistischen Psychologie ist es, Änach Werten zu leben, die als innere menschliche Bedürfnisse angesehen werden. Diese Wertorientierungen werden vom Selbst gesteuert, das, als ein zentrales System, im Keim schon vom Beginn des individuellen Lebens an immer vorhanden ist. […] Die humanistischen Psychologen glauben, dass ein von bestimmten Werten geleitetes Handeln die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten fördert und zur Erfüllung der innersten Bedürfnisse beiträgt. Um seine spezifischen Fähigkeiten zu entdecken, braucht der einzelne wohlmöglich Hilfe. […] Nachdem der einzelne eine Leitlinie für sich selbst gefunden hat, kann er ein zweites wichtiges Ziel verfolgen; nämlich sinnvolle Beziehungen zu anderen Menschen anknüpfen. […] Viele junge Leute und auch manche ältere bemühen sich, neue Methoden zu finden, die Menschen befähigen, einander besser zu verstehen und zu tolerieren“ (ebd., S.69f). Als eine solche heutige, neue Methode zur barrierefreien Verständigung ist ohne Zweifel das Medium Internet zu zählen: Die weltweite Echtzeitkommunikation, der Austausch von Gedankengut, die Gestaltung von Beziehungen und die gemeinsame Herstellung von Lebenswissen.
Die Identitätskonstruktion nach Keupp sowie die Bedeutsamkeit der humanistischen Psychologie zur Identitätsentwicklung, beziehen sich im Allgemeinen auf die selbstreflexive Ausprägung des Individuums in Bezugnahme seiner Umwelt. Beide Faktoren unterliegen dabei einem stetigen Wandel und bewirken somit einen andauernden Prozess der Konstruktion von Identitätsfacetten. Auf den Ausdruck seiner Selbst im kommunikativen Austausch mit Anderen und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Identitätsausprägung Heranwachsender gehe ich im nachfolgenden Kapitel ein.
[...]
1 Zur Erläuterung siehe Internet-Glossar S.99
2 Der Begriff Boheme bezeichnet eine Randgruppenerscheinung des 19. und 20. Jahrhunderts. Verbreitet in den Künstlerkreisen unter Malern, Dichtern, aber auch bei Studenten. Motive des Lebensstils werden in Gesellschafts- und Kulturkritik, als auch in der jugendlichen Auflehnung gegen die Elterngeneration, begründet.
3 Gleichbedeutend für eine Gruppe Gleichaltriger bzw. einer Gruppe Gleichgestellter. Der Fachbegriff aus Pädagogik und Soziologie geht auf Charles H.Coonley (1864-1929) zurück. Er entwickelte das Konzept von Primärgruppen, dass im Kinder- und Jugendalter die Prägung von Menschen im direkten Umfeld, beobachten lässt. (Quelle: http://agso.uni-graz.at/lexikon/klassiker/cooley/09bio.htm) Stand: August 2010
4 Die ontogenetische Entwicklungsphase beschreibt in der Entwicklungspsychologie die individuelle psychische Ausprägung eines Individuums.
5 In der Soziologie werden Kohorten als Jahrgänge oder Gruppen von Jahrgängen beschrieben. Sie dienen der Abgrenzung von Bevölkerungsgruppen. Hier: die Jugendlichen
6 Kanonisch steht für „dem Kanon entsprechend“ und beschreibt die Normen und Regeln der gesellschaftlichen Werte.
7 Gesellschaft ist konstitutiv (lateinisch für: festsetzend, bestimmend ). Bezeichnet in diesem Zusammenhang die prägende Bestimmtheit der Gesellschaft bei der Identitätskonstruktion von Individuen.
8 Zur Erläuterung siehe Internet-Glossar S.99
9 Die Minoritätenkultur beschreibt eine Minderheit, die sich durch kulturelle und/oder psychische Merkmale vom Rest der Gesellschaft unterscheidet und so von der gesellschaftlich normierten Gruppe als minderwertig angesehen wird.
10 Die Idiosynkrasie bezeichnet die eigentümlichen Merkmale einer Person oder Gruppe.
- Arbeit zitieren
- Dominik Pohl (Autor:in), 2010, Vom Tagebuch und Poesiealbum zum virtuellen Selbstdarsteller, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/173026
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