Gedanken zur Heilserwartung

Physikalische und theologische Aspekte


Essay, 2011

20 Seiten


Leseprobe


ABSTRACT

People live in this world and expect salvation in the world to come. Therefore, thoughts about eschatology have to cope with God’s overall creation. From a mental point of view, the understanding of timeliness is most important because the hope of salvation has to postulate a deep secret behind temporal progression. Indeed, quantum physics provides a completely unexpected picture of what history means on a fundamental level. Some features of the consistent-history interpretation of quantum physics are highlighted. From our reasoning, two main conclusions can be drawn: (i) The belief in salvation is no less a rational expectation than the atheistic world view. (ii) Even if the hope in salvation would be justified, nevertheless, its promises would be entirely ambiguous.

Keywords: Heilserwartung, Zeitlichkeit, Vernunft, Quantenphysik

1. EINLEITUNG

”Ich komme, ich weiß nicht woher, Ich bin, ich weiß nicht wer, Ich sterb’, ich weiß nicht wann, Ich geh’, ich weiß nicht wohin, Mich wundert’s, daß ich fröhlich bin.”

Überdie Jahrtausende hinweg, in allen Kulturen, beschäftigte die Aussage dieser Verse in der einen oder anderen Form die Menschen. Aus den Zeilen spricht eine Beunruhigung, die in gesteigerter Form in Ängstlichkeit übergehen kann, angesichts der Verlorenheit des menschlichen Daseins in der Welt. Die Gedankenvielfalt zur Beantwortung dieser drängenden, existen- tiellen Fragen ist unübersehbar. Was sich als gemeinsamer Bezugspunkt in der langen Menschheitsgeschichte immer und immer wieder als Heilmittel anbot, war die Verkündigung einer frohen Botschaft.0 Doch der Weg, den die Heilsverkünder weisen konnten, war von Anfang an steinig, ja ausgesprochen unwegsam, so dass ihn kaum jemand tapfer und frohen Mutes betreten mochte. Schließlich geht es um nicht weniger, als jenseits der sinnlichen Welt, jenseits dessen, was sich aufdrängt und handgreiflich ist und von niemanden bestritten werden kann, nicht nur große Geheimnisse, sondern heilsversprechende Wunderwelten in einem fernen Jenseits zu vermuten. Wer wagt sich an solche schwindelerregende Spekulationen schon heran? Zumal selbst große Philosophen bekennen: ”Wenn der persönliche Gott nicht da ist; wenn das Schweigen bedeutet, daß nicht etwa jemand schweigt, der auch reden könnte und auch reden wird, sondern wenn dieses Schweigen zur Tran- szendenz überhaupt gehört; wenn das Sprechen durch die Chiffern notwendig vieldeutig bleibt; wenn diese Chiffern zwar eine ungemein ernste Sprache führen, aber niemals leibhaftig greifbar das sind, was der sinnlich endliche Mensch, was wir alle haben möchten, um sicher zu sein: ist dann das Ende des Gottesglaubens oder vielmehr umgekehrt der Anfang der vollkommenen Reinheit des Glaubens an die Transzendenz?”1 Ein tiefer, unüberwindlicher Abgrund klafft zwischen dem festen Boden, auf dem sich der Alltag abspielt und gemeistert werden will, in den die Pfeiler der Sehnsüchte getrieben und die Hochhäuser des verwertbaren Wissens errichtet werden und den Luftschlössern, in denen ein schwärmerisches Gemüt sein Heil finden darf. Da sich die Heilserwartung an das ganz Andere, Unfassbare, nicht Vorzeigbare richtet, kann ihr mit einer abfälligen Handbewegung die Luft zum Atmen genommen werden. Und so sehen wir ein höchst ungleiches Kräftepaar im Ring stehen: In der einen Ecke macht sich warm die knallharte Handgreiflichkeit der Dinge, die Befriedi- gung diesseitiger Sehnsüchte, die Überzeugungskraft naturwissenschaftlicher Fakten und in der anderen Ecke hockt ein schwächliches Fabelwesen, das nichts hat, nichts kann und nur verzweifelt stammelt: ich hoffe. Allenfalls finden sich bei ihm noch Rest kläglicher Märchen aus längst vergangenen Zeiten, in denen es um eine postmortale Geborgenheit in Gott oder um eine ewige Teilhabe der Seele am absoluten Weltgeist geht. Alles Kinderkram. Wir wissen: In allen Dingen und

Erscheinungen waltet ein ewiges Werden und Vergehen, denn nur in der Zeitlichkeit verwirklicht sich das Dasein. Dementsprechend ist der Tod das harte Ende und dem Menschen ist die erdrückende Aufgabe aufgetragen, den Gedanken an ihn mit Würde zu ertragen. Selbst wenn alles tiefe Wissen auf ewig bruchstückhaft, unzureichend, ja selbst nebelhaft bliebe, wären die nüchternen atheistischen Glaubensbekenner dennoch fest davon überzeugt, wenigstens die eine Wahrheit ohne wenn und aber, ganz sicher erkannt zu haben, nämlich dass der Tod das absolute Ende darstellt, über das hinaus sich kein Hoffnungshorizont auftut. Diese Immanenzdoktrin beansprucht kompromisslos und stur, ihre naturalistischen Spekulationen felsenfest mit wissenschaftlicher Strenge untermauern zu können.

Diese Unerschrockenheit ist nicht jedermanns Sache. Erst recht, wenn der Tod eines nahestehenden Menschen schwe- res Leid und tiefe Trauer hervorruft. Niemand kann sich mit der Unabänderlichkeit der Tragödie abfinden und zur Tages- ordnung übergehen. Innerlich bäumt sich alles gegen den Verlust, gegen die Erbarmungslosigkeit des ewigen Werde und Vergehe auf. Doch niemals wurde auch nur ein Gebet erhört. Niemals kehrte ein Verstorbener zurück. Am Tod zerbricht jede Hoffnung, jede Zuversicht, jeder Glaube an einen letzten Sinn. Vielmehr steht am Ende die Einsicht: ”Der Tod ist die höchste Wirklichkeit der negativen Weltordnung.”2 So gewichtig ist dieser sinnlose Schlusspunkt, dass er uns im tiefsten Innern verzweifeln lässt. Nietzsche forderte eindringlich, dieser harten Wahrheit unbeugsam ins Gesicht zu sehen: ”Die Natur ansehen, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretieren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei; das ist nunmehr vor be , das hat das Gewissen gegen sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Feminismus, Schwachheit, Feigheit,...”3 Ein Gottesglaube, der sich gegen die Übermacht des Augenscheins wehrt und halsstarrig an ein ”Alles wird am Ende gut” festhält, sei letztlich untragbar, feige, abgeschmackt. Es geht um den festen Stand auf festem Boden und um das Ertragen der existentiellen Quintessenz: Am Ende wird nicht alles gut, sondern alles wird zunichte. Gott ist tot - hilf dir selbst.

Und weiter werden wir gefragt: Wer ist er denn euer Gott? Nur eine einzige Antwort scheint sich anzubieten: ”Gott ist der, dessen Werke auf einen üblen Charakter deuten. Er hat den Menschen gescheit genug gemacht, um auf den Mond zu fliegen und mit den vertracktesten Methoden die verborgensten Gesetze und Zusammenhänge der Natur zu erschließen. Klug genug, um die kompliziertesten Verhältnisse der Mathematik zu entdecken. Aber so dumm, daß er für Ziel und Sinn seines Lebens oft weniger Interesse aufbringt als für Fußball, Schlager und Geld. So bös, daß er die offenbarsten Rechte seines Nachbarn weglügt und mißachtet. So schwach und verführbar, daß seine Habgier, Eitelkeit und Genußsucht ihn zu jedem Unrecht hinreißen Gott fühlt sich übel an. Die Theologie unseres Gefühlsdenkens folgt einer einfachen Formel: Eine böse Schöpfung muß einen bösen Schöpfer haben. Ein böser Gott ist unerträglich und absurd. Also kann es keinen Gott im alten Sinn geben; er ist leider mit Recht verstorben.”4

Diese Schlussfolgerung ist starker Tobak und provoziert den Gegenentwurf, der ähnlich radikal und zwanghaft ist. Hier haben wir es mit ”moderner” Religiosität zu tun. Die Bühne betreten Transzendenzfanatiker, mystische Schwärmer und bornierte Rechtgläubige, die sich von der Vernunft grimmig abwenden und die rabiat alle Andersdenkenden, alle Gottlosen verwünschen und verteufeln. In dieses bittere Freund-Feind-Korsett gezwängt, glaubt der egozentrische Dogmatiker Trost und Ruhe zu finden bei keinem anderen als seinen eigenen, höchstpersönlichen Gott.

Trotz der offensichtlichen Endgültigkeit des Todes und der damit verbundenen Sinnlosigkeit des Weltzusammenhangs, widerspricht eine im Menschen tief verwurzelte Hoffnung der von ihm selbst zur Schau getragenen und auf Beifall hei- schenden Gleichgültigkeit gegenüber der Heilsbotschaft. Ganz tief im Herzen wehrt sich der Mensch gegen den Heroismus der Aufgeklärten und die Naivität der Fanatiker. Er erklärt die Nüchternheit des Naturalismus und die Vernunftswidrigkeit des Schwärmers für ganz und gar falsch. Durch den Tod kommt kein Sinn in die Welt. Vielmehr wird durch ihn die Sinn- losigkeit auf die Spitze getrieben. Tief innerlich sträubt sich deshalb jeder Mensch gegen die angeblich überwältigende Beweiskraft des Augenscheins, gegen einen gesunden Menschenverstand, der sich ausschließlich an greifbare Tatsachen vorne hält und der sich nicht wundert, dass hinten der ganze Sinnzusammenhang der grandiosen Schöpfung wegbricht. Das naturalistische Weltbild ist einfach nicht rund. Es ist unerträglich wegen seiner Zerrissenheit und primitiv, weil es den Menschen auf ein schlaues Bedürfnistier reduziert. Dem geheimnisleeren Bild vom Menschen, das ihn als ein verlorenes, kurioses Zufallsprodukt in einer unendlichen Wüstenlandschaft zeigt, steht die Hoffnung auf Gott gegenüber. ”Sie ist es,

die in uns immer neu den Hunger nach Sinn, das Dürsten nach Gerechtigkeit für alle, für die Lebenden und die Toten, die Kommenden und Gewesenen weckt und die es uns verwehrt, uns ausschließlich innerhalb der verkleinerten Maßstäbe unserer Bedürfniswelt einzurichten.”5 Diese Textstelle der katholischen Synode verdeutlicht, worum es im Kern geht. Die Banalisierung des Todes hat weitreichende Konsequenzen und dient letztlich der Dehumanisierung der gesamten Lebens- welt. Die Auferstehungshoffnung ist nicht einfach nur ein Teilaspekt der Theologie, sondern sie spannt einen weiten Bogen und gilt zurecht als das Zentrum einer jeden religiösen Lebenseinstellung. Denn ”das Christentum ist nicht nur ein Schrei gegen die Not, es ist ein Schrei gegen den Tod und die Leere und setzt in beide den Menschensohn ein.”6

Doch dieser Schrei muss sich rechtfertigen, insbesondere vor sich selbst. Wie kann er das? Tatsächlich ist diese Auf- gabe so überwältigend unlösbar, dass man ihr geschwind ausweichen möchte. Kant, um einen bedeutenden Vertreter der klassischen deutschen Philosophie zu befragen, stellte genau diese Scheu vor der Selbstrechtfertigung in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er beschränkte das Erkenntnisvermögen auf die Erscheinungswelt und isolierte somit das Wissen vom Glauben dergestalt, dass die Religion ihre Quellen nicht in rationalen Argumenten, sondern ausschließlich in irratio- nalen Gefühlen hat. Der Kern des Glaubens, so schlussfolgerte Kant, findet sich in einer postulatorischen Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit, die sich als Gottesbotschaft offenbaren mag, jedoch streng von allem Wissen und Wollen abzu- grenzen sei. Folglich sind die im Alltäglichen erprobten Sprachmittel unbrauchbar zur Artikulation der auf ein jenseitiges Reich gerichteten Heilserwartung. Da die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod weder empirisch aufweisbar, noch rational begründbar ist, fehlt es in Strenge an Ausdrucksmöglichkeiten für ein Reden über die letzten Dinge.

Doch ungeachtet der Kantsche Deduktion befassen sich die Gläubigen in aller Welt mit einer wortreich ausgestaltete Eschatologie. Traditionell umfasst sie vier Schwerpunkte, die durch die Begriffe Tod, Auferstehung, Gericht und Vollen- dung aller Dinge benannt werden. Das Christentum lehrt, dass der Tod nicht ins Dasein gekommen wäre, wenn der erste Mensch den Anruf Gottes in freier Entscheidung entsprochen hätte. ”Durch den einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen und durch die Sünde der Tod, und so hat sich der Tod auf alle Menschen ausgebreitet ...”7 Die Umkehr aus der Verirrung in Sünde und Tod bewirkt das Gericht, das den Menschen aus der Verschlossenheit seines irdischen Daseins vor Gottes Angesicht bringt. Das Urteil, das der Mensch entgegen nehmen muss, ist endgültig und bedeutet entweder Annahme oder Verwerfung. Das Interessante und Wesentliche an dieser Prophezeiung ist das Personenhafte des gesamten Vorgangs. Das alles Entscheidende, das letzte große Geheimnis findet sich dementsprechend nicht in irgend einer Wesensform, nicht in einer besonders hohen Gestalt des Lebens, sondern ausschließlich in einem Urverhältnis zwischen kommunizierenden Personen. Dieser zentrale Punkt potenziert natürlich die Verständnisschwierigkeiten, die sich auf der Basis des Naturalis- mus ergeben, über alle Grenzen hinaus.

Und dabei taumelt die naturalistische Weltsicht trunken von Triumph zu Triumph. Vom Mikro- bis zum Makrokosmos reicht die moderne, mathematisch fundierte, einheitliche Naturbeschreibung, die hauptsächlich im vorigen Jahrhundert erarbeitet wurde. Die Erfolge der theoretischen Physik sind so überwältigend, dass sich einige Forscher die ehrgeizige Aufgabe stellen, nach einer abschließenden Theorie für ”Alles” zu suchen. Bedeutungen, Sinnzusammenhänge, oder gar Personalität kommen natürlich in diesen mathematischen Naturentwürfen nicht vor. Aber auch im weiten Kosmos um uns herum finden sich tatsächlich keine Anzeichen für Intelligenz. Einzig auf der im kosmischen Maßstab verschwindend kleinen Erde bricht das seltene oder sogar einmalige Lebensphänomen hervor. Und ausgerechnet dessen höchstgezüchtete, fragilste Gestalt, nämlich die menschliche Personalität, sollte der Quellpunkt aller Wirklichkeit hier und überall auf der Welt sein? Welch irrwitziger Gedanke! Gibt es überhaupt irgendwelche Argumente, die für diese schwindelerregende Spekulation sprechen?

Dass sich etwas Geheimnisvolles und gleichzeitig Fundamentales hinter einer wesenlose, aber aufdringlichen Vorder- gründigkeit verbergen kann, zeigt sich eindrucksvoll am Beispiel der Quantenphysik. Die Konturen der Gesetze dieser Basiswissenschaft werden erst jenseits der alltäglichen Erfahrungswelt sichtbar, nämlich im empirisch nicht zugänglichen Mikrokosmos und bei exotischen makroskopischen Quantenphänomenen, die nur der Mensch mit hohem technischen Aufwand im Labor hervorbringen kann. Daher blieben in der langen Geistesgeschichte der Menschheit die wesentlich- sten naturphilosophischen Erkenntnisse der Quantentheorie gründlich unerkannt. Es fehlte der Anhaltspunkt, den es in der Fülle der empirischen Daten einfach nicht gab. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde man auf das Verborgene, auf das ganz Unvorstellbare aufmerksam und erkannte in ihm nicht irgendeine, sondern die grundlegende Naturgesetzlichkeit. Nun steht das Gedankengebäude in einer dermaßen ausgearbeiteten Form vor uns, dass selbst deren technologische Relevanz buchstäblich begreifbar geworden ist. Vielleicht, so ließe sich eingedenk dieser Erfahrung vorsichtig, mittels eines Analogieschlusses einräumen, könnte auch die unbestreitbare Existenz des Menschen etwas Unerwartetes ans Licht bringen, das jemand, der selbst mit äußerstem Scharfsinn nur auf die Dingwelt achtet, keineswegs erkennen kann.

Jedenfalls bleibt festzuhalten, dass der Glaube an einen Schöpfergott aus innerer Logik heraus alle Facetten der Wirk- lichkeit gebührend in Augenschein nehmen muss. Es hieße den Gottesbegriff beschneiden, wenn man meint, dass im Schöpfungsakt zwar alle Wirklichkeit hervorgebracht wurde, jedoch schließlich das Eine oder das Andere aus dem großen Entwurf heraus bricht, unwichtig wird, oder wegfällt, weil Gott sich launisch davon abwendet. Gegen diese Verkürzung, sei es das Ausklammern von Sinn, Geist und Bewusstsein aus dem Gesamtzusammenhang oder sei es das Herausnehmen des dinglichen Kosmos aus der Vollendungshoffnung, stellt sich das Glaubensbekenntnis, dem es immer um das sinnvolle Ganze gehen muss.

Die Heilserwartung ist die drängendste Hoffnung aller Menschen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass ein weitgefächertes Spektrum von Meinungen, Erzählungen und Gedanken zu diesem Thema vorliegt. Alle Schätze dieses Gedankenreichtums zusammenzutragen ist nicht möglich. Im vorliegenden Beitrag werden Gedanken zur Heilserwartung zur Diskussion gestellt, die ganz bewusst die theologischen und naturwissenschaftlichen Kompetenzbereiche verwischen, um auf einige, neuartige Gedanken, wenn auch nur ganz grob skizzenhaft, hinweisen zu können.

2. DASEIN UND ZEITLICHKEIT

”Einzig ein Denken, welches an den Grund geht, d.h. an den Anfang aller Zeit rührt, kann Auskunft geben über einen Ausweg, der über den Abgrund des Chronos und die Macht des annihilierenden Todes hinausführt.”8 Denn wäre die Zeit durch einen Schöpfergott in die Welt gesetzt, so träfe uns am Ende der Zeit, im Tod also, nicht der tiefe Absturz ins Nichts, sondern der Schöpfer selbst, an dessen Barmherzigkeit die Heilserwartung sich richtet. Das Heil kann nur derjenige verantwortlich erhoffen, wer eine Tiefendimension der Zeit für möglich hält. Denn für die Auferstehungshoffnung ist der Tod zwar Bestandteil der Schöpfung, aber keine Kraft, die das sinnvolle, selbstbezügliche Schöpfungswerk zunichte machen kann.

Welche grundsätzliche Gedanken aber können das scheinbar Unmögliche bewerkstelligen, worum es im Grunde geht, nämlich die offenbar alternativlose Vorstellung von der Zeit bis in ihre Tiefen zu erschüttern? Nicht weniger ist erforderlich für vertretbare Überlegungen zur Heilserwartung als eine vertiefte Naturanschauung, in dessen Zentrum ein radikal neues Zeitverständnis stehen muss. Ist ein Umdenken in diesem Ausmaß überhaupt möglich? Die Zeitlichkeit, der wir den Boden entziehen müssten, drängt sich wuchtig jedem Menschen in jedem Augenblick seines Lebens mit einer erdrückenden Überzeugungskraft auf, dass jeder Zweifel daran auf Unverständnis stoßen muss. Und dennoch ist eine Tiefendimension der Zeit nicht nur denkbar, sondern in Gestalt der Quantenphysik in allen Einzelheiten bereits herausgearbeitet worden. Besonders eindrucksvoll zeigt sich in dieser bestens bestätigten Theorie der enge Zusammenhang zwischen Dasein und Zeitlichkeit. Es sind nämlich die überraschend neuen Erkenntnisse zur Quantenontologie für eine radikale Neubewertung der Zeitlichkeit verantwortlich. Welches unerwartete, geheimnisvolle Phänomen gilt es in der Quantenwelt zu bedenken? Zur zielgenauen Beantwortung dieser Frage stützen wir uns auf eine Formulierung der Quantentheorie, die geeignet ist, den Kosmos als eine geschlossene Gesamtheit aufzufassen, die gleichermaßen Messobjekte und Messgeräte umfasst. Die consistent-history interpretation der Quantenmechanik9 befriedigt diesen Anspruch. Gleich zu Beginn der Umorientierung geht es in die Tiefe, wenn nämlich das Sein der Dinge auf unanschauliche Weise neu aufgefasst werden muss.

Zur allgemeinverständlichen Illustration des Grundgedankens betrachten wir eine Skizze eines Gesichts bestehend aus Ohren, Augen, Mund und Nase. Im Laufe der Zeit schließe oder öffne die Karikatur Mund oder Augen, wie es die Bilder- serie in Abb. 1 zeigt. Gemäß der klassischen Auffassung können zu jedem Zeitpunkt sämtliche Eigenschaften des Objekts kenntlich gemacht werden. Eine beliebige Anzahl wahrheitsgemäßer Aussagen über einen handgreiflichen Gegenstand oder ein augenscheinliches Phänomen der wahrnehmbaren Welt kann deshalb zusammengefasst werden zu einer noch bes- seren Beschreibung dessen was geschieht. Am Schluss, wenn das gesamte Faktenmaterial zur Verfügung steht, müssen über alle Eigenschaften des Objekts wahre Auskünfte erteilt werden, um das zu erfassen, was in der Wirklichkeit tatsächlich vor sich geht. Eine klassische Historie beinhaltet dementsprechend die vollständige Charakterisierung des Geschehens durch die Angabe aller Fakten in Abhängigkeit von der Zeit.

[...]


0 E-mail: kl@pdi-berlin.de

1 K. Jaspers, Chiffren der Transzendenz , R. Pieper u. Co. Verlag, München (1970), S. 66

2 E.M. Cioran, Von Tränen und von Heiligen (Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1988).

3 F. Nietzsche, Zur Genealogie der Moral , Reclam, Stuttgart, 1988, S. 162

4 Wer ist das eigentlich-Gott? , Hrg. H.J. Schultz, Kösel-Verlag, München, 1969, A. Görres Gesichtspunkte der Tiefenpsychologie , S. 28-29

5 Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Herder, Freiburg, Basel, Wien, 1976

6 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung , Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1982, S. 582

7 Paulus in: R. Guardini, Die letzten Dinge Werkbund Verlag Würzburg, 1952, S. 13

8 K. Appel, Zeit und Gott - Mythos und Logos der Zeit im Anschlu ß an Hegel und Schelling , Ferdinand Schöningh, Paderborn, München, Wien, Zürich, 2008, S.137

9 R.B. Griffiths, Consistent Quantum Theory , Cambridge University Press, 2003

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Gedanken zur Heilserwartung
Untertitel
Physikalische und theologische Aspekte
Autor
Jahr
2011
Seiten
20
Katalognummer
V173043
ISBN (eBook)
9783640932306
ISBN (Buch)
9783656044055
Dateigröße
520 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gedanken, heilserwartung, physikalische, aspekte
Arbeit zitieren
Peter Dr. Kleinert (Autor:in), 2011, Gedanken zur Heilserwartung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/173043

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