Die auf den ersten Blick mitunter an Tierfabeln oder phantastische Literatur erinnernden Texte Kafkas bieten stets eine Vielzahl von Deutungs- und Interpretationsmöglichkeiten an. Niemals sind sie einsinnig oder parabolisch auf eine einzige Lesart reduzierbar. In Bezug auf diese in ihrer vielfachen Wertigkeit nicht festlegbaren, daher letztlich wieder hermetischen Texte, scheint es in besonderem Maße aussichtsreich, sehr unterschiedliche, auch nicht-literaturwissenschaftliche, Konzepte zu ihrer Deutung heranzuziehen. Eine solche quasi ausschnitthafte Annäherung an ihr Bedeutungspotential bedeutet zwar im Einzelfall immer Verlust bzw. Ausgrenzung anderer Ebenen, gleichzeitig ist eine derartige Herangehensweise aus den genannten Gründen hilfreich, um die Texte in ihrer Vielschichtigkeit zu erschließen.
Lange nachdem Kafkas „Verwandlung“ entstand, entwickelte sich im Kontext der Allgemeinen Systemtheorie das psychotherapeutische Konzept der Systemischen Familientherapie. Interpersonelle Dynamiken, Konflikte und psychische Erkrankungen innerhalb einer Gruppe bzw. Familie werden im Rahmen dieses therapeutischen Ansatzes mit Blick auf Diagnose und Therapie untersucht. Dieses systemische Denkmodell kann, auf Kafkas Text bezogen, einen Blick über rein linear-kausale Zusammenhänge innerhalb der erzählten familiären Anordnung hinaus auf ein komplexeres Beziehungsfeld, mit darin enthaltenen Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen sowie Delegierungen und Rollenzuschreibungen, die alle Figuren - in teilweise paradoxer Weise - determinieren ermöglichen. Betrachtet man Kafkas Erzählung aus dieser Perspektive, so beschreibt sie an der Oberfläche einen radikalen Umbruch, mit späterer Neugewichtung bzw. gar: Gesundung eines zunächst hochgradig dysfunktionalen familiären Systems.
Das Bedeutungspotential, das der Text unter diesem spezifischen Aspekt entfaltet, soll in dieser Arbeit - unter anderem - mithilfe des computerphilologischen Tools DEXTER sichtbar gemacht werden. Das rechnergestützte Verfahren bildet dabei wohlgemerkt einen Teil der Analyse. Angestrebt wird also eine sowohl folgerichtige als auch dem Text und der konkreten Fragestellung gerecht werdende Synthese aus herkömmlichem, analogen Textanalyseverfahren und einer entsprechenden rechnergestützten Bearbeitung des Textes bzw. seiner digitalen Repräsentation in Form von Textdaten. Das erwähnte Tool wird, ebenso wie das konkrete Vorgehen, in Kapitel drei näher erläutert.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Erzählung und Hypothese
- Arbeit am Text mit DEXTER
- Die Figuren und ihre Entwicklungen
- Vater
- Mutter
- Grete
- Gregor
- Zusammenfassung der Analyseergebnisse
- Interpretation
- Schlussbemerkung
- Literatur
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der computergestützten Analyse von Franz Kafkas "Verwandlung" im Hinblick auf interaktionspsychologische Dynamiken innerhalb des fiktiven Familiensystems. Ziel ist es, die Veränderungen innerhalb der Familienstruktur durch Gregors Verwandlung anhand des Textes zu untersuchen und daraus Erkenntnisse über die komplexen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse sowie die Rolle jedes Familienmitglieds zu gewinnen.
- Die Verwandlung Gregors Samsa als Auslöser für die Umstrukturierung des Familiensystems
- Die Analyse der Interaktionspsychologischen Dynamiken zwischen den Figuren (Vater, Mutter, Grete, Gregor)
- Die Rolle der Verwandlung Gregors als Flucht aus unterdrückenden und ausbeutenden Verhältnissen
- Die Untersuchung von "Double-bind"-Situationen und ihren Auswirkungen auf das Familienleben
- Die Anwendung des computerphilologischen Tools DEXTER zur Analyse des Textes
Zusammenfassung der Kapitel
- Einleitung: Die Einleitung stellt die Thematik der Arbeit vor, die sich mit der Analyse der interaktionspsychologischen Dynamiken in Kafkas "Verwandlung" beschäftigt. Der Fokus liegt dabei auf der Verwandlung aller Familienmitglieder, nicht nur auf Gregor Samsa.
- Erzählung und Hypothese: Dieses Kapitel befasst sich mit der Darstellung der Ausgangssituation, der Verwandlung Gregors und der damit verbundenen Veränderungen innerhalb der Familienstruktur. Der Fokus liegt auf den Auswirkungen der Verwandlung auf die Machtverhältnisse und die Interaktionen innerhalb der Familie. Die Hypothese der Arbeit wird hier vorgestellt, die davon ausgeht, dass Gregors Verwandlung ein Ausweg aus unterdrückenden Verhältnissen darstellt, den er mit dem Preis seiner eigenen Vernichtung bezahlt.
- Arbeit am Text mit DEXTER: Dieses Kapitel beschreibt die Methodik der Analyse, die sowohl herkömmliche Textanalyse als auch die Verwendung des computerphilologischen Tools DEXTER umfasst. Es werden die Vorbereitungen für die Anwendung von DEXTER erläutert, wie beispielsweise die Digitalisierung des Textes und die Anpassung der Textdaten.
- Die Figuren und ihre Entwicklungen: In diesem Kapitel werden die einzelnen Familienmitglieder und ihre Entwicklungen im Verlauf der Geschichte analysiert. Es werden die komplexen Rollenverhältnisse, Konflikte und Veränderungen in den Interaktionen der Familienmitglieder untersucht. Der Fokus liegt auf den individuellen Veränderungen und der Anpassung an die neue Situation.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit den Themen der interaktionspsychologischen Dynamiken, der Familientherapie, "Double-bind"-Situationen, der computergestützten Textanalyse, Keyword-in-Context-Analysen, der Verwandlung, dem Familiensystem, der Macht, den Abhängigkeitsverhältnissen und der Entwicklung der Figuren in Franz Kafkas "Verwandlung".
- Arbeit zitieren
- Silke Voß (Autor:in), 2009, Eine computergestützte Erzähltextanalyse zu Franz Kafkas "Verwandlung", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/174383