Am 9. Juli 1998 wurde Willy Voet, Masseur und Betreuer des Radrennteams „Festina“, an der französisch-belgischen Grenze von Zollbeamten gestoppt. Sein Firmenwagen wurde durchsucht, und es wurden 80 Ampullen Wachstumshormone, 234 Fläschchen Erythropoietin, 160 Einheiten Testosteron und diverse andere Dopingmittel gefunden.
Voet war auf dem Weg zu seinem Team, das an der berühmten und zugleich berüchtigten „Tour de France“ teilnahm. Die nachfolgenden Untersuchungen der französischen Justiz brachten einen Skandal ans Licht, der die Dopingvorfälle aus den letzten Jahrzehnten in den Schatten stellte.
Im Profi-Team „Festina“ wurde systematisch und flächendeckend gedopt. Fast ausnahmslos alle Fahrer erhielten die Dopingmittel, die sie benötigten. Die Beschaffung und Dosierung wurde vom Mannschaftsarzt Dr. Erik Rijckaert kontrolliert. Beim Transport half unter anderem Willy Voet. Die Teamleitung mit Bruno Roussel als Teamchef förderte und unterstützte dieses Vorgehen.
Damit wurde nicht nur eine „Spitze des Eisberges“ offengelegt, sondern es wurde zum ersten Mal erkennbar, wie Doping im Sport funktionieren kann und wie weit verbreitet dieses Phänomen tatsächlich ist.
Der Fall „Festina“ war nicht der erste Dopingskandal in der Geschichte des Sports, und er war auch nicht der letzte. Doping ist kein neues Phänomen, sondern eine soziale Tatsache, die seit der Entstehung des modernen Sports existiert.
In den letzten Jahrzehnten gab es kaum ein großes Sportereignis, das nicht von Dopingfällen überschattet worden ist. Fast täglich kann man in die Tageszeitungen schauen und entdeckt Meldungen über Athleten, Trainer, Mediziner und Funktionäre, die in einem Zusammenhang mit Doping stehen. Verstärkte Kontrollen, alarmierende Appelle an das Sportlergewissen oder Verweisungen auf den olympischen Gedanken konnten das Problem nicht eindämmen.
Dabei ist kaum abzusehen, wie groß der Schaden ist, den das Doping anrichtet. Die Autorität und Autonomie, die der Sport von der Gesellschaft erhalten hat und das Vertrauen, das der Sport genießt, um seinen sozialen Auftrag zu erfüllen, sind bedroht. Es besteht also Handlungsbedarf.
Das Phänomen Doping erweist sich als eine sehr komplexe Tatsache, welche präzise erfasst und analysiert werden muss. Simple Ursache-Wirkung-Formeln sind hier genauso unangebracht, wie einzelne Personalisierungen (meist von den Massenmedien produziert), die das Doping als Verfehlung von wenigen Personen beschreiben. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Zur Methode
3. Begriffsbestimmung des Untersuchungsgegenstands
3.1 Probleme der Definition des Sportsystems
3.2 Doping als abweichendes Verhalten
4. Systemtheoretische Überlegungen
4.1 Sport als gesellschaftliches Teilsystem
4.2 Der Sieg/Niederlage-Code im Sport
4.3 Der Sieggedanke beim Sportler
5. Doping und strategische Rationalität
5.1 Zur Theorie rationalen Handelns
5.2 Der Sportler als „REMM“
5.3 Das Gefangenendilemma-Spiel
5.3.1 Doping als strategisches Spiel
5.3.2 Ein weiteres Dilemma: Informationsdefizit
5.3.3 Exkurs: Vertrauen
5.4 Self-fulfilling prophecy
5.5 Biographische Bestimmung
5.6 Doping in der Realität des Hochleistungssports
6. Auswege aus dem Dilemma?
Schlussbemerkung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Am 9. Juli 1998 wurde Willy Voet, Masseur und Betreuer des Radrennteams „Festina“, an der französisch-belgischen Grenze von Zollbeamten gestoppt. Sein Firmenwagen wurde durchsucht, und es wurden 80 Ampullen Wachstumshormone, 234 Fläschchen Erythropoietin[1], 160 Einheiten Testosteron und diverse andere Dopingmittel gefunden.
Voet war auf dem Weg zu seinem Team, das an der berühmten und zugleich berüchtigten[2] „Tour de France“ teilnahm. Die nachfolgenden Untersuchungen der französischen Justiz brachten einen Skandal ans Licht, der die Dopingvorfälle aus den letzten Jahrzehnten in den Schatten stellte.
Im Profi-Team „Festina“ wurde systematisch und flächendeckend gedopt. Fast ausnahmslos alle Fahrer erhielten die Dopingmittel, die sie benötigten. Die Beschaffung und Dosierung wurde vom Mannschaftsarzt Dr. Erik Rijckaert kontrolliert. Beim Transport half unter anderem Willy Voet. Die Teamleitung mit Bruno Roussel als Teamchef förderte und unterstützte dieses Vorgehen.
Damit wurde nicht nur eine „Spitze des Eisberges“ offengelegt, sondern es wurde zum ersten Mal erkennbar, wie Doping im Sport funktionieren kann und wie weit verbreitet dieses Phänomen tatsächlich ist.
Der Fall „Festina“ war nicht der erste Dopingskandal in der Geschichte des Sports, und er war auch nicht der letzte. Doping ist kein neues Phänomen, sondern eine soziale Tatsache, die seit der Entstehung des modernen Sports existiert.
In den letzten Jahrzehnten gab es kaum ein großes Sportereignis, das nicht von Dopingfällen überschattet worden ist. Fast täglich kann man in die Tageszeitungen schauen und entdeckt Meldungen über Athleten, Trainer, Mediziner und Funktionäre, die in einem Zusammenhang mit Doping stehen. Verstärkte Kontrollen, alarmierende Appelle an das Sportlergewissen oder Verweisungen auf den olympischen Gedanken konnten das Problem nicht eindämmen.
Dabei ist kaum abzusehen, wie groß der Schaden ist, den das Doping anrichtet. Die Autorität und Autonomie, die der Sport von der Gesellschaft erhalten hat und das Vertrauen, das der Sport genießt, um seinen sozialen Auftrag zu erfüllen, sind bedroht. Es besteht also Handlungsbedarf.
Das Phänomen Doping erweist sich als eine sehr komplexe Tatsache, welche präzise erfasst und analysiert werden muss. Simple Ursache-Wirkung-Formeln sind hier genauso unangebracht, wie einzelne Personalisierungen (meist von den Massenmedien produziert), die das Doping als Verfehlung von wenigen Personen beschreiben.
Das Problem muss wissenschaftlich angegangen und mit Methode behandelt werden. Fruchtbare Ergebnisse haben Sportwissenschaft, Sportpsychologie und Sportmedizin geliefert. Es lohnt sich aber, diese wissenschaftlichen Denkweisen um eine soziologische Perspektive zu ergänzen. Die systemeigenen Strukturen des Sports müssen offenbart werden, damit geklärt werden kann, aus welchen Motivationen oder Zwängen heraus der Sportler zu Dopingmitteln greift. Einen Beitrag zur Erhellung dieses Problems soll diese Arbeit leisten.
Der Titel der vorliegenden Arbeit lautet “Doping im Sport – Anpassung durch Abweichung.“[3] Damit soll bereits ein
Wesensmerkmal des Dopingphänomens klar herausgestellt werden. Der zu Dopingmitteln greifende Sportler ist kein einzelner, isolierter Abweichler. Vielmehr passt er sein Verhalten an das der Mehrheit an. Und die Mehrheit der Sportler dopt. Somit wird aus einem illegitimen Verhalten (Anwendung von Dopingmittel) eine Anpassungsleistung, da die Mehrzahl der Sportler dieses eigentlich abweichende Verhalten an den Tag legt.
Die in dieser Arbeit produzierten Ergebnisse sollen vor allem zeigen, dass Doping nicht aus der kriminellen Energie eines fehlgeleiteten Individuums erwächst. Der „erwischte“ Athlet wird oft als jemand gebrandmarkt, der ein irrationales und sinnentleertes Verhalten gezeigt hat. Das Gegenteil ist der Fall.
Der dopende Sportler verfolgt ein Ziel mit seiner Handlung. Er fällt seine Entscheidung unter Berücksichtigung seiner Umwelt bzw. Interaktionspartner, der aktuellen Situation und seiner Alternativen bzw. Mittel. Die Mechanismen, die hier wirksam sind und dazu führen, dass sich das abweichende Verhalten stabilisiert und institutionalsiert, werden in den anstehenden Kapiteln analysiert und erklärt.
Zunächst folgen einige Ausführungen zur Methode. Unter anderem wird hier erläutert, warum eine Verquickung von Makrotheorie (Systemtheorie) und Mikrotheorie (Rational Choice) sinnvoll sein kann. Im anschließenden Kapitel wird der wichtige Begriff Doping definiert.
Danach wird eine Beschreibung des gesellschaftlichen Teilsystems Sport erfolgen mit Schwerpunkt auf den sogenannten Sieg/Niederlage-Code. Der systemtheoretische Gedanke wird hier in seinen Grundzügen dargestellt. Eine ausführliche Beschreibung wird nicht angestrebt.
Im nächsten Kapitel steht der Athlet im Mittelpunkt. Die Konsequenzen seiner strategischen Entscheidungen konstruieren einen Moment, der der Ausgangssituation des bekannten Gefangenendilemmas sehr ähnlich ist. Die Analyse des Problems mit Hilfe dieses Modells füllt das sich anschließende Kapitel. Danach folgen Überlegungen zu Informationsdefiziten im Sport, zu der sich selbst erfüllenden Prophezeiung und zur biographischen Bestimmung des Sportlers. Im letzten Kapitel wird nach einem Ausweg aus dem Dilemma gesucht.
2. Zur Methode
Die wissenschaftliche Vorgehensweise in dieser Arbeit findet sich im Modell des linearen Forschungsprozesses wieder. Die vorliegenden Analysen und Ergebnisse sind als Vorüberlegungen zu sehen, aus denen sich Hypothesen generieren lassen könnten. Im weiteren Forschungsverlauf folgten Operationalisierung, Stichprobe, Erhebung, Auswertung und anschließende Überprüfung der Annahmen.
In den nächsten Kapiteln wird die theoretische Auseinandersetzung mit dem Phänomen geleistet. Verwendet wird dafür die systemtheoretische Sicht eines Niklas Luhmanns, der Rational Choice Ansatz und ein schon bestehendes, abstraktes Modell (Gefangenendilemma).
Die Überlegungen, die gemacht werden, sollen nicht den Bezug zur Wirklichkeit verlieren. Deshalb werden regelmäßig illustrative Beispiele angeführt, die das Theoretische veranschaulichen sollen.
Bei den Beispielen ist anzumerken, dass viele aus dem Bereich des Radsports4 sind. Die Auswirkungen des „Festina-Skandals“ von 1998 hatten einige Radsportler dazu gebracht, sich offen zum Dopingproblem zu äußern. Deren Aussagen sowie die Enthüllungen von den Ex-Radprofis Paul Kimmage und Rolf Järmann sowie vom ehemaligen Festina-Betreuer Willy Voet sollen verstärkt in die Kapitel einfließen. Dennoch kommen auch andere Vertreter aus anderen Disziplinen zu Wort.
Um zu einer umfassenden soziologischen Konstruktion von Wirklichkeit zu gelangen, erscheint ein erkenntnistheoretischer Pluralismus in einer pluralistischen Sozialwissenschaft sinnvoll, da jede Theorie ihren individuellen und unverzichtbaren Beitrag zu leisten vermag.5
In dieser Arbeit wird deshalb nicht nur mit einer soziologischen Perspektive gearbeitet. Vielmehr soll der reichhaltige Fundus an Theorien in der Soziologie angezapft werden, um den Blick auf den Untersuchungsgegenstand zu erweitern. Der Versuch einer Verknüpfung von makrotheoretischen Überlegungen mit mikrotheoretischen wird hier angestrebt.
Um mit dem Bild von Theorien als Scheinwerfern im Sinne Karl Poppers zu sprechen, wird ein Ausschnitt der Wirklichkeit mit Hilfe eines „Theorie-Scheinwerfers“ ausgeleuchtet und zugleich eine andere Perspektive gewählt, die die Umwelt dieses Ausschnitts erhellt.
Dabei macht es nur Sinn, wenn beide „Scheinwerfer“ in verschiedene Richtungen gehalten werden, so dass ein Minimum an Blickfeldüberschneidung und ein Optimum an Ausleuchtungskapazität erreicht wird.6
Die systemtheoretische Perspektive Niklas Luhmanns und eine durch Rational Choice geprägte akteurtheoretische Sichtweise werden herangezogen, um mit ihren „Erkenntnis-Scheinwerferkegeln“ Licht in das theorielose Dunkel um das Phänomen Doping zu bringen.
3. Begriffsbestimmung des Untersuchungsgegenstandes
Am Anfang einer wissenschaftlichen Bearbeitung eines Phänomens steht die Definition. Das zu behandelnde Problem muss in seinen Ausprägungen beschrieben werden, um es klar von anderen Gegenständen abzugrenzen. Die festgelegten Merkmale bilden das Fundament, auf dem die Analysen aufgebaut werden. Im folgenden wird der Begriff Doping in all seinen Ausprägungen genauer untersucht.
3.1 Probleme der Definition des Sportsystems
Mit dem etymologischen Ursprung beginnend leitet sich das Wort Doping vom Wort „dope“ ab, welches aus der Sprache der weißen Buren aus Südafrika, dem Afrikaans, stammt. Damit wurde ein stark anregender Schnaps bezeichnet, den die schwarzen Einheimischen tranken.7
In der gegenwärtigen Öffentlichkeit wird Doping als ein Verhalten aufgefasst, welches als unfair und ungerecht gilt, da der Sportler zu unerlaubten Substanzen und Methoden greift.
Eine weitere Definition liefert die Medizinische Kommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOK). Deren Ausführungen lauten:
„Doping ist die Anwendung von Substanzen aus den verbotenen Wirkstoffgruppen und die Anwendung verbotener Methoden.“8
In der Erklärung des IOK folgt eine Liste, in der zahlreiche Wirkstoffe aufgeführt sind, deren Einnahme und Anwendung verboten sind. Diese Liste erfüllt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, da ständig neue Mittel „auftauchen“, die von den Sportlern ausprobiert werden. Wenn sich entsprechende Verdachtsmomente der leistungssteigernden Wirkung erhärten, wird das jeweilige Mittel in diese Liste aufgenommen.
Der Sanktionsapparat des IOK stützt sich auf diese Regeln und spricht bei Verstoß entsprechende Strafen (Bußgelder oder Sperren) aus.
Die Definition ist allerdings problematisch. Substanzen, von denen die leistungssteigernde Wirkung wissenschaftlich belegt ist, werden auf diese Liste gesetzt. Der Sportler sieht sich jedoch in seiner Laufbahn mit vielen Stoffen und Substanzen konfrontiert, bei denen unklar ist, ob sich eine Anwendung leistungssteigernd auswirkt.. Es existieren Ernährungszusätze, substitutive9 Mittel oder Medikamente, die kontrovers unter Experten diskutiert werden.
Während das sogenannte Höhentraining10 erlaubt ist, gehört EPO zu den unerlaubten Mitteln. Anabolika steht auf der Dopingliste des IOK. Das Mittel Kreatin ist erlaubt, obwohl es die dieselbe muskelaufbauende Wirkung zeigt.
In zahlreichen Medikamenten sind Stoffe enthalten, die verboten sind, weil sie eine leistungssteigernde Wirkung entfalten. Kann der Sportler aber ein Attest vorlegen, das eine medizinische Indikation anzeigt, darf der Sportler das Medikament benutzen. In diesem Zusammenhang stimmt die Tatsache, dass es sehr viele Asthmatiker unter Radsportlern gibt, die bestimmte Medikamente (mit unerlaubten Inhaltsstoffen) nehmen dürfen, nicht mehr verwunderlich.
Ein weiterer problematischer Punkt ist die sogenannte Substitution, die bei Clasing et al. folgendermaßen definiert und begründet wird:
„Die Gabe von (zusätzliche) Nährstoffen bzw. energieliefernden Substanzen, Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen wird als Substitution bezeichnet.“11
„In der ärztlichen Betreuung von Sportlern ist es vielfach erforderlich, fehlende oder verausgabte Stoffe möglichst rasch zu ersetzen, um so optimale Arbeitsbedingungen zu erhalten, die Ausschöpfung der körperlichen Reserven nicht zu tief werden zu lassen, die Erholungsphase abzukürzen und anderes mehr.“12
Im Sinne dieser Definition bedeutet eine Nichtanwendung der Substitution, eine Verschlechterung der sportlichen Leistung. Setzt ein Sportler Dopingmittel ab, lassen seine Leistungen auch nach. Wo ist demnach der Unterschied zwischen erlaubter Substitution und unerlaubtem Doping zu sehen ?
Paul Kimmage (Ex-Radprofi, Irland) beschreibt das Problem:
„Riding six hours a day for twenty-three days was not possible without vitamin supplements, mineral supplements, chemicals to clean out the liver, medication to take the hardness out of rock-hard leg muscles. […] A syringe did not always mean doping. In a perfect world it would be possible to ride the Tour without taking any medication, so long as everyone else did the same. But this was not a perfect world. We were not doping, we were taking care of ourselves, replacing of what was being sweated daily out of our bodies. The substances taken were not on the proscribed list, so how could we be doping? And yet one thing was becoming clear to me: as soon as you started playing, as soon as you accepted the taking of medication, the line between what was legal and what was illegal, between taking care of yourself and doping grew very, very thin.”13
Die Trennungslinie zwischen dem, was Doping ist und dem, was Doping nicht ist, wird noch unschärfer, richtet man den Blick auf Stoffe, die im Körper gebildet werden und wo eine zusätzliche „Einfuhr“ von außen verboten ist.
Das männliche Sexualhormon Testosteron zum Beispiel soll den Muskelaufbau begünstigen. Damit lassen sich Trainingsumfang und –intensität steigern. Bei Verletzungen ist eine verkürzte Regenerationszeit festzustellen. Das IOK hat deshalb einen Grenzwert für die Testosteronkonzentration im Urin festgelegt. Mit der entsprechenden medizinischen Betreuung ließe sich aber die Zufuhr von Testosteron so dosieren, dass sich der Sportler an diesen Grenzwert gewissermaßen „herandopt“.
Ähnlich verhält es sich bei der Anwendung von EPO. Der menschliche Organismus hat eine von Individuum zu Individuum schwankende Konzentration von festen Bestandteilen im Blut, den sogenannten Hämatokritwert. Mit EPO lässt sich die Ausdauerleistung steigern, der eigene Hämatokritwert steigt jedoch an. Um Doping mit EPO einzudämmen, hat der internationale Radsportbund 1997 einen Höchstwert eingeführt. Demnach darf im Blut die Hämatokritgrenze von 50% nicht überschritten werden. Wie aber unter anderem der Festina-Skandal zeigte, war es Sportlern durchaus möglich, genau so viel EPO einzunehmen, dass sie die vorgeschrieben Höchstgrenze nicht überschritten. Bei einer Dopingkontrolle hatten sie nichts zu befürchten.
Hinzu kommt, dass Dopingbestimmungen von Nation zu Nation und von Sportverband zu Sportverband variieren. Im amerikanischen Baseball ist die Verwendung von Androstenedion erlaubt, welches den vom IOK festgelegten Testosterongrenzwert erhöht.14 Während der amerikanische Hochschulsportverband (NCAA) 1,5 mcg/ml Koffein im Blut als Höchstgrenze festschreibt, einigte sich das IOK mit anderen internationalen Spitzenverbänden auf den Wert 1,2 mcg/ml15.
Ein anderes Problem sind die Stoffe und Substanzen, die von der Pharmaindustrie entwickelt, von Ärzten als leistungssteigernd befunden und an Sportler weitergegeben werden. Der Sportler bedient sich dieser Mittel, um seine Siegchancen zu verbessern und gilt im strengen Sinne der Dopingliste als nicht gedopt. Somit erscheint es nachvollziehbar, dass Sportler der Überzeugung sind, dass die Verwendung von leistungsfördernden Mitteln, die nicht auf dem Doping-Index stehen, auch nicht als Doping zu gelten habe.
Dieser Gedanke steigert sich bis zur Vorstellung nicht gedopt zu sein, falls man bei Kontrollen nicht auffällig war. Vor diesem Hintergrund ist die Aussage des französischen Radprofis Richard Virenque sehr aufschlussreich:
„Ich habe keine anderen Fahrer betrogen. Im Fahrerfeld benutzen wir niemals das Wort Doping, wir sagen „medizinische Hilfe“ dazu. Gedopt ist man nur, wenn man erwischt wird.“16
Die Sportler wissen um diese Lücke zwischen neuentwickelten Produkten und dem Zeitpunkt, ab dem sie wieder verboten werden. Ex- Radprofi Eddy Merckx sagte dazu:
„Auf Amphetamine folgte Cortison, Anabolika, dann die Verschleierungspräparate. In den Laboratorien hat man immer das eine Produkt Vorsprung vor dem Reglement.“17
Die sportliche „Regelkultur“ hinkt der technischen und naturwissenschaftlichen Entwicklung hinterher. In diesem Sinne kann man von einem „culture lag“ im Sport sprechen. Die zeitliche Versetztheit verursacht ein Ungleichgewicht zwischen den beiden Bereichen. Die so entstandene Fehlanpassung beeinflusst die Sportler in ihrem Unrechtsbewusstsein. Willy Voet, Ex-Betreuer im Radteam Festina, meint dazu:
„Niemandem in der Szene kam es in den Sinn an Betrug, Mauschelei oder Risiko zu denken. [...] Eine Tour de France konnte einen solchen pharmazeutischen Turbo-Betrieb nicht stoppen. Ganz im Gegenteil“18
„Was die damals nicht nachweisbaren Substanzen anbetraf, war die Szene der Dopinganalytik immer einige Längen voraus.“19
„Für das Rundstreckenrennen in Charade sah die >Marschtabelle< pro Mann wie folgt aus: 1 intramuskuläre Cortison-Injektion sowie ins Gesäß gespritzte 10mg Kenacort. Beide Substanzen sind im Urin nicht nachweisbar. Bei Blutkontrollen kann der Mediziner zwar eine Anomalie feststellen, aber nicht mit Bestimmtheit nachweisen, dass es sich um exogenes oder endogenes Cortison handelt, weil die Nebendrüsen natürliches Cortison produzieren. Das ist mit ein Grund, weshalb die Profis schwören, dass sie sauber sind. Am Ende glauben sie es sogar. Sie lügen sich in die eigene Tasche getreu dem Motto: Nicht nachweisbare Dopingeinnahmen können gar nicht stattgefunden haben.“20
Das IOK als größte und einflussreichste Instanz des Sports hat mit der Doping-Liste ein Regelwerk geschaffen, das Verhaltenssicherheit herstellen sollte. Der Verstoß gegen die Richtlinien gilt als unsportliches und unfaires Verhalten. Dieses wird sanktioniert, um zukünftige Abweichler abzuschrecken. Mit solchen Verbotslisten sollte jeder Beteiligte wissen, woran er ist.
Zudem existiert in vielen Dopingdefinitionen der Zusatz, dass Doping gerade deswegen verboten sein sollte, weil es die Gesundheit gefährde und gegen das Prinzip der Fairneß bzw. Chancengleichheit verstoße.
Betrachtet man den Sport genauer, fällt auf, dass die Chancengleichheit nur unvollständig verwirklicht worden ist. Zwischen den Sportler bestehen prinzipielle Unterschiede hinsichtlich ihrer körperlichen und psychischen Verfassung. Trainer, Trainingsstätte, Betreuungspersonal, finanzielle Unterstützung, sind nur einige Punkte, die die Ausgangslage der Sportler als höchst different definieren. Von einer Chancengleichheit zu sprechen, hieße die Wirklichkeit zu verkennen.
Den Gesundheitsaspekt zur Begründung eines Dopingverbots heranzuziehen erscheint ebenfalls fragwürdig. Gerade im Spitzensport wird der Körper einer Dauer- und Überbelastung ausgesetzt. Die Gefährdungen des Körpers durch Verschleiß und Verletzungen beeinträchtigen den Organismus nicht weniger als Dopingmittel. Gesundheitsfördernd sind Dopingsubstanzen zwar nicht, aber Hochleistungssport ist es auch nicht.
Wie gezeigt worden ist, existieren eklatante Schwächen in dieser Form der Definition. In ihr stecken Regellücken, die die implizite Aufforderung enthalten, die bestehenden Verbote kreativ zu umgehen.21
Die aufgestellten Normen des Sportsystems zeigen Defizite in ihrem Wirkungsgrad. Hinzu kommt, dass der Sanktionsapparat in seiner Bereitschaft zu kontrollieren, von den Sportlern nicht ernst genommen wird.22 Die Regeln tragen Grundzüge einer „Pseudonorm“, von der nur noch ihre Normsender überzeugt sind.23
Die unklare Bestimmung dessen, was als Doping zu gelten hat, beeinflusst die Athleten in ihrer Wahrnehmung dieser Regeln.
Was ist Doping, was ist noch Substitution, was ist Ernährungszusatz, wo fängt Betrug an und wo hört Manipulation auf, was ist geschickte Regelauslegung sind Fragen, auf die niemand im Sport eine allgemein verbindliche Aussage treffen kann. Helmut Digel spricht deshalb auch von moralischer Diffusität, die im Sport herrscht.24
Das Resultat ist Verhaltensunsicherheit bei allen Beteiligten und das Fehlen eines Unrechtsbewusstseins. Das Etikett des Verbotenen, das Dopingmitteln üblicherweise anhaftet, hat bei den Sportlern längst seine Wirkung verloren.
3.2 Doping als abweichendes Verhalten
Eine passende Definition von Doping aufzustellen, erweist sich schwieriger als angenommen. Der Sport hat es nicht geschafft, eine geeignete Begriffsbestimmung zu liefern. Deshalb lohnt der Versuch, das Phänomen aus einer soziologischen Perspektive zu betrachten.
Sportliches Treiben orientiert sich an Regeln und Normen. Diese
Regeln und Normen legen die Möglichkeiten fest, die der
Sportler ergreifen kann, um sein Ziel (Sieg) zu erreichen.
Grundsätzlich stehen dem Sportler zwei Wege offen, auf denen er seinem Ziel näher kommt. Er verhält sich den Sportregeln entsprechend konform, oder er weicht davon ab. Der Sportler kann den Wettkampf mit erlaubten Mitteln bestreiten oder er greift zu verbotenen Mitteln, die ihm einen Vorteil verschaffen. Doping stellt sich auch im Sport als eine potentielle Handlungsalternative dar.
Der Sportler wird bei der Interpretation seiner Situation diese Möglichkeit in Betracht ziehen, wenn er der Auffassung ist, Dopingmittel verbessern die Chance, zum Erfolg zu gelangen. Doping ist somit kein sinnentleertes oder irrationales Verhalten. Vielmehr stellt es ein subjektiv sinnhaftes Handeln dar.
Es bietet sich dem Sportler als Realisierbarkeitschance an, um das angestrebte Ziel wahrscheinlicher werden zu lassen.
Konformität und Abweichung sind im soziologische Sinne als zwei qualitativ gleichwertige Sachverhalte aufzufassen.25
Normen legen lediglich fest, was als sportliches und faires Verhalten zu gelten hat. Ein Sanktionsapparat sorgt dafür, dass abweichendes Verhalten die Ausnahme bleiben soll.
Um den Sanktionsapparat zu entlasten existiert ein Toleranzbereich, in dem es Verhaltensspielräume gibt. In diesem sind Verhaltensweisen mehr oder weniger konform, aber immer noch geduldet.26
Erst außerhalb des Toleranzbereichs greifen die Sanktionen ein. Dazu ergänzend wirkt eine eingeschränkte Verhaltenstransparenz. Die Nichtaufdeckung von Normbrüchen spielt im Sport eine große Rolle. Die Athleten, die an den Start gehen, scheinen alle die gleichen Grundvoraussetzungen mitzubringen. Doping findet jedoch heimlich statt. Es lässt sich in der Tiefe des Körpers verstecken und entzieht sich einer direkten Kontrolle.27
Dopende Sportler errichten nach außen eine Scheinwelt, die Normalität bezeugen soll. Die anschließende überlegene körperliche Leistung wird vom Beobachter (Zuschauer, Journalisten, Trainer, Gegner, usw.) auf optimales Training und ausgewogene Ernährung zurückgeführt.
Doping besitzt eine zudem soziale Komponente. Der Athlet, der erwägt, Doping anzuwenden, tut dies immer in Bezug auf das erwartbare Verhalten seiner Mitkonkurrenten. Doping ist demnach soziales Handeln, welches seinen von dem Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seiner Abfolge orientiert ist.28
Der dopende Sportler handelt rational, wenn er mit Hilfe leistungssteigernder Mittel seine Erfolgsaussichten erhöhen will. Doping ist gekennzeichnet durch Rationalität. Der Sportler glaubt, er tut das, was für ihn das Beste ist. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen stehen dabei die ihm verfügbaren Mittel.
Wie noch gezeigt wird, handelt der dopende Sportler ohne Rücksicht auf die vorauszusehenden Folgen und im Dienste seiner Überzeugung.29 Der in Aussicht stehende Sieg oder Gewinn stellt einen höchsten Wert dar, an dem sich der Sportler orientiert. Das Handeln des Sportlers kann in seiner Orientierung als wertrational im Sinne Max Webers gekennzeichnet werden.
Zur Zielerreichung stehen ihm legitime und illegitime Mittel zur Verfügung. Nach Interpretation einer Situation und der Antizipation des Verhaltens seiner Mitkonkurrenten wählt der Sportler eine illegitime Verhaltensweise. Seiner Überzeugung nach stellt die Anwendung von Dopingmitteln die optimalste und rationalste Möglichkeit zur Zielerreichung dar. Sein Handeln ist in den Mitteln zweckrational.
Herausgearbeitet wurden vier zentrale Merkmale des Dopings:
1. Doping ist subjektiv sinnhaftes Handeln.
2. Doping geschieht verborgen, jenseits des Sanktionsapparates.
3. Doping ist soziales Handeln, orientiert am Verhalten anderer.
4. Doping ist rationales Handeln, als Mischform von Wertrationalität und Zweckrationalität.
Es soll in weiteren Schritten geklärt werden, welche Motivation den Sportler begleitet und wie die Situation beschaffen ist, die ihn zum Doping verleitet. Der Auslöser für Doping wird gesucht, und es wird der Frage nachgegangen, warum Doping in zeitlicher Hinsicht stabil ist.
4. Systemtheoretische Überlegungen
Grundannahme der systemtheoretischen Perspektive30 ist die Komplexität von Welt. Das bedeutet, es werden zu jedem Zeitpunkt immer mehr Möglichkeiten angeboten, als realisiert werden können. Das einzelne Bewusstsein ist mit der Aufgabe, aus den Möglichkeiten auszuwählen, überfordert. Die Wirklichkeit gestaltet sich als zu komplex, als dass sie in ihrer Gesamtheit wahrgenommen werden könnte. Daher besteht die Notwendigkeit der Reduktion von Komplexität.
Soziale Systeme sind in der Lage, dies zu leisten. Ihr Zweck ist die Entlastung und Sicherung des Handelns von Menschen. Erwartet wird eine Leistungssteigung von sozialem Handeln, da das System die Umwelt bereits reduzierend, selektivierend und spezifizierend bearbeitet hat.
Eine Gesellschaft ist umso höher entwickelt, je höher ihr Grad an funktioneller Differenzierung ist. Mit Hilfe funktioneller Differenzierung wird Komplexität reduziert. Es bilden sich ungleichartige und deshalb gleichwertige Teilsysteme31 heraus, die jeweils eine spezifische Funktion übernehmen. Alle Funktionssysteme sind in dem Sinne gleich, dass die moderne Gesellschaft auf keines ohne negative Folgen verzichten kann.32 Kein Teilsystem kann die Aufgabe des anderen Systems übernehmen, weil es sich streng entlang der Funktion gebildet und strukturiert hat. So kann z.B. das Teilsystem Wirtschaft nicht die Funktion des Teilgebiets Medizin erfüllen oder das Rechtssystem die Aufgabe des Wissenschaftssystems übernehmen.
[...]
[1] Kurz EPO: natürliches und künstlich herstellbares Hormon, das die Bildung von roten Blutkörperchen anregt; rote Blutkörperchen sind verantwortlich für den Sauerstofftransport im Körper; je größer der Anteil dieser Stoffe ist, desto größer ist die Ausdauerleistung des Sportlers;
[2] Die „Tour de France“ gilt als das schwerste Radrennen der Welt. Allein zu Starten, ohne eine Chance auf Erfolg, gilt bei vielen Radprofis als der Saisonhöhepunkt.
[3] Diesen Titel habe ich übernommen von K. H. Bette und U. Schimank,, die ihr Buch „Doping im Hochleistungssport. Anpassung durch Abweichung“ 1995 herausbrachten. Bette und Schimank setzen inhaltlich andere Schwerpunkte. Der Hauptkern dieser Arbeit ist das Gefangenen-Dilemma, welches bei den genannten Autoren am Rande behandelt wird. Die Gemeinsamkeiten liegen in der Interpretation der Bedeutung des binären Codes im Sportsystem.
4 Der Radsport gilt unter Experten als eine Disziplin, die vom Doping „verseucht“ zu sein scheint. Deswegen ließen sich hier fruchtbare Aussagen finden.
5 Vgl. Klinkmann, 1981, S. 255
6 Vgl. Schimank, 1995, S. 75
7 Vgl. Krauß, 2000, S.6
8 Vgl. Röthig, 1992, S.126 ff
9 Als Substitution bezeichnet man die Versorgung der Körpers mit Stoffen, die der Sportler im Training oder Wettkampf verbraucht hat. Als substitutive Mittel gelten Mineralien, Eiweiß- oder Vitaminpräparate.
10 Beim Höhentraining trainiert der Athlet in höheren, geographischen Lagen und atmet dort „dünnere Luft“. Der Körper reagiert mit einer verstärkten Produktion von Erythrozyten, was denselben Effekt hat wie eine EPO-Kur.
11 Clasing et al., 1992, S. 107
12 Clasing et al., 1992, S. 109f
13 Kimmage, 2001, S. 94
14 Vgl. Krüger, 2000, S.20
15 Vgl. Krüger, 2000, S.20f
16 Virenque zit.n. http://www.spiegel.de/sport/sonst/0,1518,99597,00.html,2000
17 die tageszeitung, 20.Juli 1998
18 Voet, 1999, S.56f
19 Voet, 1999, S. 66
20 Voet, 1999, S. 17
21 Vgl. Bette/Schimank, 1995, S. 160
22 Wie an späterer Stelle gezeigt wird, sind potentielle Kontrollen für die Sportler keine „Gefahr“. Es gibt Möglichkeiten, sie zu umgehen. Zudem ist das Kontrollnetz nicht sehr stark ausgeprägt.
23 Vgl. Lamnek, 1996, S. 22
24 Vgl. Digel, 1997, S. 287
25 Vgl. Lamnek, 1996, S.15
26 Vgl. Lamnek, 1996, S. 24
27 Vgl. Bette, 1999, S. 223
28 Vgl. Weber, 1984, S.1
29 Vgl. Weber, 1984, S. 45
30 Behandelt wird im Besonderen die Luhmannsche
31 Vgl. Schimank, 2001, S.13
32 Vgl. Hohm, 2000, S. 43
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