Leseprobe
Inhalt
1. Vorwort zur überarbeiteten Fassung
2. Aktuelle Einleitung: Zur Entwicklung der Stricherszene am Bahnhof Zoo
3. Thesenübersicht
4. These 1
5. These 2
6. These 3
7. Literatur
1. Vorwort zur überarbeiteten Fassung
Der vorliegende Text ist ein überarbeitetes Diskussionspapier. Anlass der Überarbeitung ist, dass eine Beschäftigung mit der Thematik auch rückblickend interessant erscheint und zu Erkenntnissen beitragen kann. Zum anderen sind es in 2011 jetzt 30 Jahre her, dass der Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ in den Kinos anlief.
Die ursprüngliche Fassung wurde 1994 anlässlich eines Kolloquiums an der Alice-Salomon-Fachhochschule in Berlin formuliert und vorgestellt. Es entstand nach einem sechs Monate dauernden Berufspraktikum zur staatlichen Aner-kennung als Sozialarbeiter. Dieses absolvierte ich im damals so genannten „Drogen- und Stricherbus“; ein vom Bezirksamt Charlottenburg finanzierter, nahe dem Bahnhof Zoo geparkter, nicht mehr fahrender und umgebauter Bus. Stricher und Junkies hatten darin die Möglichkeit, sich zu bestimmten Zeiten unter pädagogischer Betreuung zu treffen oder lebenspraktische und medi-zinische Unterstützung zu erhalten. Den sozialpädagogischen Fachkräften diente der Bus auch als Ausgangspunkt für ihre Kontaktgänge im Bahnhof.
Die Thesen wurden seinerzeit auf Basis von Gesprächen mit dem pädago-gischen Personal, mit den jugendlichen Besuchern sowie anhand von Literatur-auswertungen entwickelt. Inhaltlich beschäftigen sie sich mit der psycho-sozialen Situation von Strichern am Bahnhof Zoo; ein seinerzeit sehr brisantes, oft diskutiertes und gleichzeitig mit Tabus behaftetes Thema. Der Text ist des-halb rückblickend, weil die Stricher- und Drogenszene ebenso wie der umge-baute Bus nicht mehr am Bahnhof Zoo existieren. Die Gründe für das Ver-schwinden der Stricherszene werden in der folgenden Einleitung erörtert.
Anlässlich der jetzigen Veröffentlichung des Diskussionspapiers wurden die seinerzeit formulierten Thesen um dieses Vorwort und die anschließende aktuelle Einleitung ergänzt. Am originären Thesenpapier wurde folgendes geändert: Einige Sätze im Text wurden zur besseren Lesbarkeit umformuliert. Inhaltlich wurden wenige Aussagen vorsichtig ergänzt und die einzelnen Absätze dahingehend gelesen, dass eine thematische Linie stärker eingehalten wird. Jeder These wurde am Ende eine Zusammenfassung zugefügt. Der Text wurde weiter auf die neue Rechtschreibung verändert und das Layout heutigen Standards angepasst. Schließlich wurde dem Titel das Wort „Rückblick“ zugefügt. Von diesen Überarbeitungen abgesehen entsprechen Inhalt und Stil dem aus 1994.
2. Aktuelle Einleitung: Zur Entwicklung der Stricherszene am Bahn-hof Zoo
Diese aktuelle Einleitung ist als kleine Spurensuche zu verstehen, um die Entwicklung der Stricherszene am Bahnhof Zoo besser verstehen und nachvollziehen zu können. Es findet hier eine Auseinandersetzung damit statt, was sich zum Zeitpunkt der Thesen in 1994 (und auch schon davor) bis zur Gegenwart in 2011 verändert hat. Dem Verfasser dieser Zeilen wurde während der jetzigen Beschäftigung noch mal deutlich, dass es sich um ein vielschichtiges Feld handelt.
Prostitution ist seit jeher Anlass für gesellschaftliche Debatten. Zur ethischen Bewertung und dem rechtsstaatlichen Umgang damit existier(t)en weit ausein-anderreichende Positionen: Von der Forderung nach Bestrafung und Verbot bis zur Forderung nach Entkriminalisierung und Anerkennung als reguläre Erwerbs-arbeit. Am Bahnhof Zoo war der Diskurs noch kritischer, weil es meistens Ju-gendliche oder sogar Kinder waren, die sich prostituierten. Die diskutierten Strategien reichten auch hier von Repression bis zum Ansatz, die Minderjähri-gen in ihrer materiellen und seelischen Not zu unterstützen.
Der Berliner Bahnhof Zoo war während der 1970er bis 90er Jahre eine Art My-thos. Wesentlich dazu beigetragen hatte „Christiane F. - Wir Kinder vom Bahn-hof Zoo“. Kaum jemand, der dieses 1978 herausgebrachte biografische Buch nicht gelesen oder zumindest davon gehört hatte. Die Geschichte von Christi-ane, ihrem Freund Detlef und dem damit verbundenen Drogen- und Stricher- Milieu war bekannt; man wusste um die Vorgänge am Bahnhof: Jugendliche beiderlei Geschlechts nahmen Heroin, gingen „anschaffen“ und die weitere Lebensbiografie endete oft tragisch. Ein Teufelskreis aus Drogenabhängigkeit, Verrohung, Kriminalität, Prostitution, Krankheit und gescheiterten Entzügen. Das Buch und später der Film mit David Bowies Musik haben Assoziationen zu diesem Bahnhof und zur Stadt Berlin beeinflusst; für lange Dauer und weit über Deutschland hinaus.
In den 1970er Jahren überschwemmten harte Drogen das Land und die Republik hatte zahlreiche Herointote zu beklagen. Christiane F. war eine von vielen Tragödien dieser Zeit. Die Geschichte von Christiane F. fand in Berlin während einer anderen Epoche statt: Die Stadt hatte noch die Mauer, in West-Berlin lebte ein hoher Anteil an Rentnern und mit der Berlin-Zulage wurden Arbeitnehmer zum Verbleib in der Stadt motiviert. Berlin hatte eine Art von Randlage und manche verließen deshalb die Stadt. Andere nutzten diese einer Insel verglichenen Situation incl. ihrer aufgehobenen Sperrstunde als kreative Chance und/oder flohen vor der Bundeswehr gerade nach West-Berlin. Es entwickelten sich alternative Lebensentwürfe überwiegend im Bezirk Kreuz-berg. Gleichzeitig standen Institutionen, Politik und Öffentlichkeit dem damals neuen Phänomen von Drogenkonsum und Prostitution am Bahnhof Zoo eher hilflos gegenüber.
Der Bahnhof Zoo war seinerzeit der wichtigste Verkehrsknotenpunkt West-Berlins und auch eine bedeutende Verbindung zum Rest der Welt. Die Stimmung dort war schon aufgrund der politischen Situation der geteilten Stadt eher aufregend und nicht gewöhnlich. Ein Bahnhof, von dem sich die Drogen- und Stricherszene lange Zeit angezogen fühlte und der gerade auch dadurch in den Focus der Öffentlichkeit gestellt wurde. Die am Hintereingang gelegene Jebensstraße wurde ab denn 1970ern Treffpunkt der Drogen- und Stricherszene. Beigetragen zum Mythos des Bahnhofs hatte sicher auch, dass die damaligen Geschehnisse auch musikalisch verarbeitet wurden: Nina Hagen singt bspw. in den 1980ern punkig „Auf’m Bahnhof Zoo im Damenklo“, wo es um lustvollen Sex zwischen zwei Frauen geht. 1984 bringt die Band Alphaville ihren Hit „Big in Japan“ heraus, der von Heroinsucht und Prostitution am Zoo handelt. Je nach Sicht des Betrachters empfand man die im Buch, im Film oder den Songtexten beschriebenen Ereignisse als abstoßend, faszinierend oder auch beides gleichzeitig.
Berlin ist heute als deutsche Hauptstadt von der einstigen Randlage ins Zentrum der Republik gerückt; der Zustrom an Touristen und ebenso die Immo-bilienpreise steigen stetig an. Die Deutsche Bahn will an die Börse und ein von Drogen und jugendlicher Prostitution geprägter Bahnhof passt nicht in dieses Bild. Wenn man sich heute im Bahnhof Zoo aufhält, entsteht kaum noch ein „Christiane F.-Feeling“. Die einst leer und groß wirkende Bahnhofshalle wurde Mitte der 1990er Jahre komplett neu gestaltet und mit Geschäften ausgestattet. Sie macht einen gut vermieteten Eindruck. Man findet funktio-nale Schnellrestaurants, einige Dienstleistungsgeschäfte sowie dazugehörige Gäste und Kunden. Der Wachschutz oder die Polizei drehen ihre Runden und installierte Videokameras filmen das Geschehen. Sucht man das von Nina Hagen besungene Klo, so findet man am selben Ort eine umgebaute, saubere und kontrollierte Automatentoilette. Euphorischen lesbischen Sex oder die einst dort tot aufgefundenen Heroinopfer kann man sich nicht mehr vorstellen. Die schmuddeligen Ecken sind verschwunden.
Der Bahnhof Zoo wird aufgrund seiner zentralen Lage und der guten Nutzung der S- und U-Bahnhöfe auch gegenwärtig noch stark frequentiert, obwohl er kein Fernbahnhof mehr ist. IC und ICE-Züge halten seit der Eröffnung des Berliner Hauptbahnhofs in 2006 nicht mehr. Trotzdem gehen überwiegend Reisende und Umsteigende ihren Wegen nach. Trotz der zahlreichen Menschen bekommt man den Eindruck, dass der Bahnhof Zoo obwohl seiner Moderni-sierungen wieder etwas verkommt, da er nur noch regionale Bedeutung hat.
Halten sich noch „Gestrandete“, Junkies und jugendliche Prostituierte am Bahnhof Zoo auf, für die er über Jahrzehnte ein Treffpunkt war? Wenn man gegenwärtig eine Runde im und um den Bahnhof dreht, sieht man, je nach Wetterlage, in der Wandelhalle, dem U-Bahn-Bereich oder vor dem Eingang einige –überwiegend- Männer, die stark danach aussehen, als seien sie ob-dachlos und/oder alkoholabhängig. Um den Bahnhof herum machen vereinzelte Schnorrer ihr bescheidenes Geschäft. Einige junge Menschen stehen im Umkreis des Bahnhofs, bei denen man sich vorstellt, dass ihre Biografie nicht einfach war, dass sie aus einem kaputten Elternhaus stammen und ein Schulabschluss wahrscheinlich fehlt. Der Bahnhof wirkt dabei aber wie manch anderer Bahnhof in Deutschland auch. Will man einen Strichjungen erblicken, dann muss man genau suchen. Selten sieht man junge Männer oder Jugendliche, die Stricher sein könnten. Vielleicht kann man sie daran erkennen, dass sie etwas ungepflegt aussehen oder keiner erkennbaren Tätigkeit nachgehen. Aber wahrscheinlicher erblickt man keine Stricher im Bahnhof, sie sind sehr rar geworden. Gibt es doch einen, dann ist er älter. Sich prosti-tuierende Kinder unter 14 Jahren jedenfalls scheint es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr zu geben. Ebenfalls verschwunden ist die Junkieszene von früher, von einzelnen möglichen Ausnahmen abge-sehen. Bei den Obdachlosen sind wohl eher große Mengen an Alkohol, Hasch und Zigaretten als an harten Drogen im Spiel. Am Bahnhof Zoo hat sich im Laufe der Zeit somit ein deutlicher Wechsel der Problem-Szenerie vollzogen.
Es würde sich lohnen, auch das Verschwinden der Junkieszene zu ergründen. Hier aber soll es um die Frage gehen: Aus welchen Gründen ist die Stricher-Szene verschwunden? Gleichwohl waren die Szenerien nicht ganz eindeutig zu trennen; Heroingebrauch und jugendliche Prostitution verliefen oft Hand in Hand. Wenn an dieser Stelle dennoch eine Unterteilung vorgenommen wird, dann dahingehend, dass die Stricher in der Regel jünger waren und der Drogengebrauch oft erst am Anfang stand oder auf softere Drogen beschränkt war. Bei den Junkies hingegen war der Heroinkonsum schon manifestiert und eine Prostitution aufgrund der körperlichen Situation nur noch bedingt vorstellbar. Die folgenden Erklärungsversuche für das Verschwinden beziehen sich somit auf die Stricherszene, sind zu einem gewissen Teil aber auch iden-tisch mit dem der Junkieszene.
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