Die literarische Gattung der Anekdote klar zu umreißen scheint auf den ersten Blick bar
großer Schwierigkeiten; es handelt sich dabei um einen im Vergleich zu den anderen Gattungen
durchaus kurzen, prägnanten Text, der mit einer Pointe abschließt. Aufgrund ihrer Kürze
schließen sich Anekdoten oft vor einem regionalgeschichtlichen oder persönlichkeitsbezogenen
Hintergrund in einer Anthologie zusammen, ebenso lassen sich Herausgaben von Anekdoten
eines einzelnen Autors finden – etwa die Anekdoten von Heinrich von Kleist.
Ein Versuch, die Anekdote unter einem anderen Gesichtspunkt zu betrachten, wurde mit der
Anekdotensammlung »Der Spiegel: Anekdoten zeitgenössischer deutscher Erzähler«; herausgegeben
von Karl Lerbs, unternommen. Der Bremer Schriftsteller, der von 1893 bis 1946 lebte,
ist bekannt für seine Übersetzungen u.a. von Stevensons »Die Schatzinsel« und mehrerer
Werke Virginia Woolfs wie Oscar Wildes. Vor allem aber verfasste und sammelte Lerbs Anekdoten,
die er in Sammlungen zusammenführte; wie etwa »Die deutsche Anekdote«, »Die
besten bremischen Anekdoten« oder »Unter Rolands Augen. Der bremer Anekdoten anderer
Teil«1. Die Titel verraten schon den Duktus seiner Arbeit, der sich ebenfalls an Regionalität
orientiert, wobei seine Heimat Bremen dabei in den Vordergrund tritt.
Die hier zur Untersuchung vorliegende Anthologie, die im Folgenden verkürzt »Der Spiegel«
genannt wird und im Jahre 1919 veröffentlicht wurde, impliziert in ihrem Titel andere
Schwerpunkte. Zunächst trug Lerbs zwar auch Anekdoten deutscher Autoren zusammen,
doch sein Anspruch reichte noch weiter; es sollten Anekdoten seiner Zeitgenossen sein – diesem
Anspruch genügte er, indem er dreißig Autoren in die Pflicht nahm, die seinerzeit noch
lebten. Er selbst steuerte außerdem noch eine Anekdote bei und brachte sich damit als jüngster
Vertreter in seine Sammlung ein. Der älteste und gebürtige Österreicher, Peter Rosegger
(geboren 1843), war um fünfzig Jahre älter als er und zählt wie die meisten Autoren dieses
Werks zur Gruppe eher wenig bekannter Schriftsteller, doch finden sich in der Liste Lerbs'
auch Namen wie Hermann Hesse und Heinrich Mann.
Inhaltsverzeichnis
- EINFÜHRUNG
- >>ZUM EINGANG« – Karl Lerbs' ANEKDOTEN-THEORIE
- BETRACHTUNG DER »Spiegel«< - ANEKDOTEN
- Formale Betrachtung
- Inhaltliche Betrachtung
- Entsprechung der Lerbs'schen Norm
- Brüche mit der Lerbs'schen Norm
- IST EINE REDEFINITION DER ANEKDOTE AUF DER GRUNDLAGE EINER ANTHOLOGIE MÖGLICH?
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit befasst sich mit Karl Lerbs' Anekdotensammlung »Der Spiegel« und untersucht, ob eine Redefinition der Anekdote auf Grundlage einer Anthologie möglich ist. Dazu werden die theoretischen Ansätze Lerbs' analysiert und mit den einzelnen Texten der Sammlung verglichen.
- Lerbs' Definition der Anekdote
- Formale und inhaltliche Analyse der Anekdoten in »Der Spiegel«
- Überprüfung der Übereinstimmung der Texte mit Lerbs' Theorie
- Mögliche Verallgemeinerungen und Abweichungen von der Norm
- Relevanz der Anthologie für die Definition der Anekdote
Zusammenfassung der Kapitel
- Einführung: Die Arbeit stellt die Anekdotensammlung »Der Spiegel« vor und erklärt die Zielsetzung der Untersuchung. Sie beleuchtet Lerbs' Ansatz, die Anekdote neu zu definieren.
- >>ZUM EINGANG« – Karl Lerbs' ANEKDOTEN-THEORIE: Dieses Kapitel analysiert Lerbs' Definition der Anekdote und seine Argumentation für eine Neudefinition der Gattung.
- BETRACHTUNG DER »Spiegel«< - ANEKDOTEN: Dieser Abschnitt untersucht die Anekdoten in »Der Spiegel« anhand formal- und inhaltsanalytischer Kriterien. Es wird überprüft, ob die Texte Lerbs' Definition entsprechen.
Schlüsselwörter
Anekdote, Karl Lerbs, »Der Spiegel«, Anthologie, Gattungstheorie, Formale Analyse, Inhaltliche Analyse, Norm, Abweichung, Redefinition.
- Arbeit zitieren
- René Ferchland (Autor:in), 2011, "Der Spiegel des Lebendigen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176021