Mehrsprachigkeit durch Migration


Examensarbeit, 2003

122 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


INHALT

0. EINLEITUNG

1. MIGRATION
1.1. Geschichte der Migration
1.1.1. Vor 1945
1.1.2. 1945 bis 1989
1.1.2.1. Erste Phase
1.1.2.2. Zweite Phase
1.1.3. 1989 bis 2002
1.2. Aufnahmeländer

2. BILINGUALISMUS
2.1. Individueller Bilingualismus
2.2. Gesellschaftlicher Bilingualismus
2.2.1. Monolinguale Staaten
2.2.2. Eigentlich multilinguale Staaten
2.2.3. Bilinguale Staaten
2.2.3.1. Territorialer Bilingualismus am Beispiel Belgiens
2.2.3.2. Institutioneller Bilingualismus am Beispiel Kanadas
2.2.4. Multilinguale Staaten
2.2.5. Gründe für die Entstehung multilingualer Staaten
2.3. Diglossie

3. SPRACHMIGRATION
3.1. Die Geschichte der Sprachmigration
3.2. Arbeitsmigration gleich Sprachmigration?
3.2.1. Definition
3.2.2. Integration oder Assimilation
3.2.3. Periodisierung der Gastarbeitermigration
3.3. L 1 und L 2 zwischen den Generationen
3.3.1. Die erste Generation
3.3.1.1. Gruppe 1
3.3.1.2. Gruppe 2
3.3.2. Die zweite Generation
3.3.3. Die dritte Generation
3.4. Interne und externe Migration
3.4.1. Sozioökonomische Aspekte
3.4.2. Sprachliche Aspekte
3.5. Fallstudie

4. MIGRATION UND SPRACHE
4.1. Vorgeschichte
4.1.1. Neue Sprachen
4.1.2. L 1–Sprachen in den Niederlanden
4.1.3. Vorausgehende Studien
4.2. NWO – Studie
4.2.1. Grundlagen
4.3. Frühe bilinguale Entwicklung
4.3.1. Hintergrund
4.3.2. NWO – Ergebnisse
4.4. Bilinguale Entwicklung im Schulalter
4.4.1. Hintergrund
4.4.2. NWO – Ergebnisse
4.4.3. Politische Konzepte bilingualer Erziehung
4.4.3.1. Grundlagen
4.4.3.2. Schweden
4.4.3.3. Deutschland
4.4.3.4. Niederlande
4.4.3.5. Zusammenfassung
4.5. Codeswitching
4.5.1. Hintergrund
4.5.2. NWO – Ergebnisse
4.5.3. Fallbeispiel: Codeswitching
4.5.3.1. Hintergrund
4.5.3.2. Ergebnisse
4.6. Sprachwandel und Sprachverlust
4.6.1. Hintergrund
4.6.2. NWO – Methoden
4.6.2.1. Sprachwahl
4.6.2.2. Sprachkompetenz
4.6.2.3. Relativsätze
4.6.3. Ergebnisse
4.6.4. Sprachwandel bei Rückkehrern
4.6.4.1. Hintergrund
4.6.4.2. Untersuchungen
4.6.4.3. Ergebnisse

5. RESÜMEE

6. LITERATURVERZEICHNIS

0. Einleitung

Seit dem Beginn des Kapitalismus im Zuge der industriellen Revolution vor allem im 19. Jahrhundert und der zunehmenden Globalisierung der Welt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist es zu einer Mobilisierung von Millionen von Menschen gekommen, die infolge von Migrationsbewegungen ihr Herkunftsland verlassen haben, was zu einer Fülle von neuen Sprachkontaktsituationen geführt hat, die aufgrund der immer weiter steigenden Mobilität des modernen Menschen auch immer häufiger wechseln.

Die Folgen dieser neuen Sprachkontakte im Zuge der Wanderungsbewegungen der letzten 150 Jahre „sind vielleicht nur mit den Folgen der europäischen Völkerwanderung in der Spätantike zu vergleichen“[1], die der Auslöser für die Entwicklung vieler moderner europäischer Sprachen aus durch Sprachkontakten entstandener Mehr- und Mischsprachigkeit war.

Der Vergleich dieser Völkerwanderung mit den neuen Migrationsbewegungen soll das Ausmaß deutlich machen, das Wanderungsbewegungen auf Sprachen haben können, wobei jedoch die inzwischen gefestigten Sprachstrukturen in den in dieser Arbeit hauptsächlich untersuchten Aufnahmeländern Westeuropas berücksichtigt werden müssen, so daß trotz der mit der Globalisierung der Welt einhergehenden größeren Mobilität des Menschen im Vergleich zur Migration der Spätantike durch den Einfluß anderer Sprachen so gut wie keine Veränderungen in den Aufnahmesprachen zu erwarten sind.

Diese These wird dadurch bestätigt, daß das Bewußtsein für diese Sprachmischungen im Laufe der letzten zweihundert Jahre im Zusammenhang mit der Etablierung bürgerlicher Nationalstaaten in Europa größtenteils verdrängt worden ist, so daß die allgemeine Einstellung zur Sprachmischung eher negativ ist. Außerdem ist die Anzahl der Mitglieder anderssprachiger ethnischer Minderheiten in diesen Ländern meist zu gering, um Einfluß auf die Aufnahmesprache zu nehmen.

Interessant ist es aber, der Frage nachzugehen, inwieweit sich möglicherweise die Herkunftssprache der durch Migration entstandenen ethnischen Minderheiten in einem Land mit einer für sie fremden dominanten Aufnahmesprache verändert. Hierbei muss zwischen den Folgen für die Herkunfts- und Aufnahmesprache aller Mitglieder eines sozialen Migrantennetzwerks in einem Aufnahmeland und den Folgen für das individuelle Sprachverhalten einzelner Migranten vor dem Hintergrund von Herkunfts- und Aufnahmesprache unterschieden werden.

Da diese Arbeit sich hauptsächlich mit durch Migration entstandenen individuellem Bilingualismus beschäftigt, ohne jedoch den gesellschaftlichen Bilingualismus gänzlich außer acht zu lassen, spielen in der Folge vor allem der individuelle Bilingualismus und die damit verbundenen Unterschiede zwischen bilingualen und monolingualen Individuen in der sprachlichen Entwicklung eine Rolle.

Um Fragen nach einem möglicherweise unterschiedlichen monolingualen bzw. bilingualen Spracherwerb zu beantworten, wird eine Dreiteilung vorgenommen, die sich mit den wichtigsten Teilkomponenten einer individuellen bilingualen Biographie beschäftigt. Diese sind: frühe bilinguale Entwicklung, bilinguale Entwicklung im Schulalter sowie Sprachwandel und Sprachverlust. Darüber hinaus wird das bilinguale Phänomen des Codeswitching beleuchtet, da es einen zentralen Platz innerhalb einer bilingualen sprachlichen Entwicklung einnimmt.

Diese Entwicklung wird jedoch nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich behandelt, wobei hier für die frühe bilinguale Entwicklung hauptsächlich Gruppen bereits im Aufnahmeland geborener Kinder von Interesse sind. Für die bilinguale Entwicklung im Schulalter wird die Situation der erst später emigrierten Kinder näher beleuchtet, um schließlich zu Sprachwandel und Sprachverlust zu gelangen. Der letzte Punkt des Sprachwandels und Sprachverlustes beschäftigt sich vor allen Dingen mit erwachsenen oder in ihr Herkunftsland zurückgekehrten Migranten. Auch Codeswitching spielt eine entscheidende Rolle.

Durch die bereits angesprochene immer weiter zunehmende Globalisierung wird das Beherrschen von mehr als nur einer Sprache in der Zukunft eine Notwendigkeit sein, der schon heute ansatzweise mit entsprechenden bildungspolitischen Maßnahmen wie dem Fremdsprachenunterricht in der Schule Rechnung getragen wird. Ein Problem besteht jedoch im unterschiedlichen Prestige der europäischen Sprachen der Aufnahmeländer im Vergleich zu den Sprachen der meisten Migranten, so daß man von einem in der Auffassung der Aufnahmestaaten positiven staatlich geförderten Bilingualismus aus zwei europäischen Kultursprachen und einem staatlich vernachlässigten Bilingualismus aus Aufnahmesprache und Herkunftssprache der Migranten reden könnte.

Da der Schwerpunkt dieser Arbeit die Untersuchung des sprachlichen Verhaltens von Migranten ist, die im Zuge des Gastarbeitersystems seit den fünfziger Jahren nach Westeuropa gekommen sind, erscheint es notwendig, dieses unterschiedliche Prestige von Sprachen zumindest zu erwähnen, da es der Grund für eine meist restriktive Politik gegenüber Migrantensprachen ist, die zu den bei Migranten oft zu findenden sprachlichen Problemen beiträgt. Hierzu werden unterschiedliche bildungspolitische Konzepte in Europa miteinander verglichen, die von staatlicher Förderung eines aus Arbeitsmigration entstandenen Bilingualismus bis zu dessen beinahe vollständiger Vernachlässigung reichen.

Neben den sprachlichen Problemen sind jedoch auch soziale Aspekte wie Marginalisierungen, Stigmatisierungen und Ghettoisierungen in der Aufnahmegesellschaft von Bedeutung, da sie sprachliche Probleme, wenn nicht bedingen, so doch verstärken können. Trotz der mit einer Migration in ein anderssprachiges Land häufig einhergehenden Vielzahl von sozialen Problemen steht doch die Frage im Vordergrund, wie Bilingualismus durch Migration entsteht, und wie sich die sprachliche Entwicklung von bilingualen Individuen und Gruppen vor dem Hintergrund eines Migrationskontextes von der monolingualer Individuen und Gruppen unterscheidet.

Um diese Frage zu beantworten, ist die vorliegende Arbeit in fünf Kapitel unterteilt, von denen sich das erste mit der Geschichte der Migration und den unterschiedlichen politischen Konzepten der Aufnahmeländer im Umgang mit Migranten befaßt, bevor in Kapitel 2 Definitionen von gesellschaftlichem und individuellem Bilingualismus in den Vordergrund rücken, wobei der gesellschaftliche Bilingualismus am Beispiel von Staaten mit unterschiedlichen sprachpolitischen Konzepten näher erläutert wird.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der Veränderung, die Sprache in Migrationskontexten erfahren kann, wobei besonderes Augenmerk auf die sprachliche Situation von Arbeitsmigranten gelegt wird, die im Zuge des Gastarbeitersystems nach Deutschland gekommen sind. Außerdem wird der Unterschied zwischen den Auswirkungen interner und externer Migration in multilingualen Staaten am Beispiel der Schweiz untersucht.

In Kapitel 4 schließlich wird das individuelle sprachliche Verhalten vor dem Hintergrund der oben erwähnten Teilkomponenten einer typischen bilingualen Biographie näher beleuchtet, in der auch Codeswitching eine entscheidende Rolle spielt, um im fünften Kapitel die Ergebnisse der Arbeit resümierend zu betrachten.

1. Migration

Der Begriff der Migration ist soziologischer Natur und bezeichnet die Ausführung einer räumlichen Bewegung, die einen Wohnsitzwechsel zur Folge hat. Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts sorgten unterschiedliche Ereignisse in verschiedenen Ländern für Aufsehen, die alle vor dem Hintergrund dieser Definition in einen Migrationskontext gestellt werden können.

In den USA waren das die so genannten Rassenunruhen von 1992 in Los Angeles, deren Auslöser die Gewalt weißer Polizeibeamter gegen den schwarzen Autofahrer Rodney King bei einer Verkehrskontrolle war, in Deutschland gab es zahlreiche Übergriffe auf Asylantenheime, und auch die Folgen des Bürgerkrieges im heute ehemaligen Jugoslawien können vor demselben Hintergrund betrachtet werden.[2]

Diese in ihrer Intensität neuen Phänomene können im Falle der Vereinigten Staaten mit der Jahrhunderte langen Tradition der Immigration erklärt werden, die aufgrund der unterschiedlichen Herkunftsländer der Immigranten zu einer kulturellen und somit auch sprachlichen Vielfalt geführt hat. Insbesondere Schwarze haben häufig das Gefühl, dass diese von ihnen maßgeblich verursachte Vielfalt von der Mehrheit der Weißen eher negativ beurteilt wird. Dieses Gefühl manifestiert sich in Vorurteilen und Übergriffen, denen Immigranten ausgesetzt sind, wobei eine dieser diesmal auf Video dokumentierten Diskriminierungen zu Unruhen geführt hat, mit denen sich die ethnischen Minderheiten gegen die Mehrheit zur Wehr setzen wollten.

Da Deutschland nicht als klassisches Einwandererland bezeichnet werden kann, gibt es hier auch keine lange Tradition des Miteinanders verschiedener Kulturen. Arbeitsmigranten und Flüchtlinge, die aufgrund anderer Sitten und Gebräuche bei einigen Deutschen Ängste vor dem Verlust der nationalen Identität wecken, werden hier als das Fremde gesehen, das bekämpft werden muss, um die eigene Identität zu bewahren. Ein Beispiel hierfür sind die in den letzten Jahren erfolgten Übergriffe auf Asylantenheime.

Handelt es sich im Falle der Unruhen von Los Angeles um einen Kampf ethnischer Minderheiten gegen die ethnische Mehrheit, so muss man für die deutschen Übergriffe, auch wenn es sich nur um eine Minderheit innerhalb der Mehrheit handelt, von einem Kampf der ethnischen Mehrheit gegen ethnische Minderheiten sprechen. Hierbei wird im Fall Deutschlands vergessen, dass Asylbewerber häufig wegen politischer Verfolgung ihr Heimatland verlassen, es sich also nicht um eine freiwillige Migration handelt.

Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien kann insofern in denselben Kontext gestellt werden, als er eine Massenflucht aus den Kriegsgebieten zur Folge hatte, welche die europäischen Aufnahmeländer vor Probleme stellte.

Anhand dieser drei Beispiele werden bereits einige der vielen unterschiedlichen Arten von Migration deutlich, auf die ich nun näher eingehen werde, wobei die in 1.1.2. behandelte Arbeitsmigration von besonderer Bedeutung ist, da sie seit Beginn des Kapitalismus eine entscheidende Rolle für die vor dem Hintergrund der Themenstellung dieser Arbeit wichtige ethnische und sprachliche Diversifizierung der Aufnahmeländer spielt.

1.1. Geschichte der Migration

In der Folge geht es hier nun darum, die Geschichte der Migration zu betrachten. Hierbei geht es um die Gründe sowie Richtung und Hintergründe von Wanderungsbewegungen. Ich habe eine zeitliche Dreiteilung vorgenommen, die sich an Castles und Miller orientiert[3], da sich durch sie die unterschiedlichen Epochen der Migration darstellen lassen.

1.1.1. Vor 1945

Die Zeit vor 1945 lässt sich vor dem Hintergrund der Geschichte der Migration in einige bedeutende Epochen einteilen. Die erste beginnt mit der Kolonialisierung der Welt durch die Europäer, die in einem Migrationskontext vor allem das 18. Jahrhundert umfasst, aber auch noch in das 19. Jahrhundert hineinreicht, was nicht bedeutet, dass es vorher keine Migration gegeben hätte. Sie wird zu einem späteren Zeitpunkt in 3.1 vor dem Hintergrund der Sprachmigration von Interesse sein.

Die Zeit des Kolonialismus war geprägt durch verschiedene Migrationsbewegungen. Tausende Europäer emigrierten zunächst in afrikanische und asiatische Gebiete, um diese zu kolonialisieren, bevor später auch Amerika und Ozeanien von der europäischen Kolonialisierung der Welt betroffen waren. Diese Migrationsbewegungen hatten massive kulturelle und ökonomische Veränderungen in den Herkunfts- sowie den Aufnahmeländern zur Folge.[4]

Ist es bei den eben genannten Wanderungsbewegungen noch nicht deutlich, ob man sie als eine Form der Arbeitsmigration bezeichnen kann, so ist doch offensichtlich, dass es sich hauptsächlich um eine freiwillige Migration handelte.

Von Freiwilligkeit kann in der auf diese Phase des Frühkolonialismus folgenden Epoche des Dreieckshandels mit seiner millionenfachen Verschiffung von Sklaven nach Amerika nicht mehr die Rede sein. Bis 1850 waren über 15 Millionen afrikanische Sklaven Opfer dieses Systems des organisierten Menschenhandels geworden. Hier von Arbeitsmigration zu sprechen, mag zynisch klingen, trifft jedoch dennoch den Kern der Sache, da die Sklaven von den Siedlern in Amerika gebraucht wurden, um die Tabak- und Baumwollplantagen zu bewirtschaften.

Die nächste Migrationswelle setzte im 19. Jahrhundert mit dem Beginn der Industrialisierung in England ein. Das mit ihr einher gehende Phänomen der Automatisierung von Arbeitsprozessen führte zu einem wachsenden Arbeitskräftebedarf für die in den Städten neu entstehenden Fabriken. Die Landflucht der ehemaligen Bauern, die in den Fabriken arbeiten wollten oder mussten, führte zu einer zunehmenden Urbanisierung, auf welche die Städte kaum vorbereitet waren, so dass die meisten Arbeiter in Arbeitervierteln verelendeten. Auch hatten sie so gut wie keine Rechte gegenüber den Arbeitgebern; sie lebten ohne soziale Absicherungen.

Diese zunehmende Verelendung in den industrialisierten Ländern führte dazu, dass zwischen 1800 und 1830 40 Millionen Europäer nach Nord-, Südamerika oder Australien auswanderten. Von 1800 bis 1860 sind 66 % der Auswanderer aus Großbritannien und 22 % aus Deutschland, was die Dimensionen deutlich macht, in denen die Industrialisierung in Migrationsprozesse mündete.[5]

Die USA waren hierbei häufig das bevorzugte Ziel von europäischen Migranten. Die Wichtigkeit der Vereinigten Staaten als Aufnahmeland wird an Zahlen deutlich, nach denen zwischen 1820 und 1940 von 55 - 60 Millionen europäischen Auswanderern 38 Millionen die USA zum Ziel hatten.[6]

Neben diesen primären Auswirkungen auf das Migrationsverhalten der Bevölkerungen der früh industrialisierten Länder gab es weitere sekundäre Auswirkungen in anderen nicht industrialisierten europäischen Ländern. Das negative Vorbild Englands, wo die Arbeit in den neuen Industrien beinahe einer Versklavung gleichkam, veranlasste viele Menschen aus Angst vor einer ähnlichen Versklavung im Falle der Industrialisierung ihres eigenen Landes dazu, nach Amerika auszuwandern. Sie hatten die Hoffnung, dort ihr eigenes Stück Land besitzen und bearbeiten zu können, was sich so meist jedoch nicht erfüllte, so dass sie genau das wiederfanden, was sie hinter sich lassen wollten. Diese Migranten kamen aus Ländern wie Irland, Italien, Spanien und osteuropäischen Staaten.

Die zweite Auswirkung der Industrialisierung auf noch nicht industrialisierte Länder bestand in einer innereuropäischen Migration aus den eben genannten Ländern in industrialisierte Länder, da dort aufgrund der bereits angesprochenen Millionen von Auswanderern ein Arbeitskräftemangel herrschte, den diese neue Form der Migration beheben sollte. So wanderten zwischen 1876 und 1920 rund 6,8 Millionen Italiener nach Frankreich, Deutschland und die Schweiz aus, um dort dauerhaft zu arbeiten. 1931 arbeiteten so beispielsweise in Frankreich 900.000 Italiener und in Großbritannien 311.000 Iren.[7] Diese innereuropäischen Migrationen dienten also dazu, die Lücken aufzufüllen, die Millionen von Westeuropäern hinterlassen hatten, um einer Proletarisierung zu entgehen.

Die Auswanderung der Iren in die englischen Industriestädte zog einen Arbeitskräftemangel in ihrem Herkunftsland nach sich, so dass die industrielle Entwicklung dort - auch aufgrund der übermächtigen englischen Konkurrenz - erheblich verlangsamt wurde. Aus diesem Grund kam es zu Hungersnöten, in deren Folge noch mehr Iren nach Übersee auswanderten. Diese frühe Form der Arbeitsmigration war auch der Grund für die Ansiedlung russischer Juden in London, polnischer Arbeiter im Ruhrgebiet, sowie ukrainischer Arbeiter in Polen, um nur einige Beispiele zu nennen.

Während des ersten Weltkrieges änderte sich das Migrationsverhalten innerhalb Europas insofern, als durch das Abstellen der Arbeiter zum Fronteinsatz erneut Versorgungslücken in den kriegsbeteiligten Ländern entstanden, die diesmal jedoch von Zwangsarbeitern aus Polen und Russland aufgefüllt werden konnten. Der Unterschied bestand also im Zwang gegenüber der relativen Freiwilligkeit der Wanderungsbewegungen zuvor.

In der Zwischenkriegsperiode von 1918 bis 1939 gab es in Europa ab Anfang der dreißiger Jahre aufgrund der Weltwirtschaftskrise nur noch wenig Arbeitsmigration. In den Jahren von 1920 bis 1930 wurden in Frankreich wegen der Menschenverluste durch den ersten Weltkrieg noch zwei Millionen Arbeiter aufgenommen, die man von 1930 an jedoch wieder loswerden wollte.[8]

In Amerika fand in dieser Zeit die Periode der sogenannten Great Migration von 1918 bis 1950 statt, in der die Afroamerikaner der Ausbeutung und Diskriminierung durch weiße Amerikaner im Süden des Landes durch einen Wohnortwechsel in den Norden entkommen wollten, wo sie allerdings lediglich neuen Formen des Rassismus begegneten.

1.1.2. 1945 – 1989

Migration nach 1945 lässt sich in zwei Hauptphasen einteilen. Die erste Phase war dadurch gekennzeichnet, dass Arbeitsmigration aus industriell rückständigen Staaten in höher entwickelte Länder wie beispielsweise die USA, Australien oder die Staaten Westeuropas stattfand. Diese Phase hielt bis zur Ölkrise von 1973/74 an. In der zweiten Phase, die von 1974 bis 1989 reichte, waren die Beweggründe der Menschen, die ihr Heimatland verließen, um in einem anderen Staat zu leben, nicht immer so klar umrissen. Die Phase nach 1974 kann man als Übergangsphase zu den rasant gestiegenen Migrationsbewegungen seit 1989 bezeichnen.[9]

1.1.2.1. Erste Phase

In der ersten Phase, die in gewisser Weise zu ethnischen Neuzusammensetzungen der Aufnahmevölker führte, sind drei unterschiedliche Migrationstypen von Bedeutung:

1. Migration von Arbeitern aus peripheren europäischen Ländern nach Westeuropa. (häufig im Zuge von Gastarbeitersystemen)
2. Migration von Arbeitern aus ehemaligen Kolonien in die europäischen Staaten, die vordem in ihren Ländern herrschten.
3. Dauerhafte Migration nach Nordamerika und Australien, zunächst aus Europa, später aus Asien und Lateinamerika.[10]

Diese drei Migrationstypen sind insofern am wichtigsten, als sie zur Bildung von ethnischen Minderheiten in den Aufnahmeländern führten. Von besonderer Bedeutung für die Themenstellung dieser Arbeit ist die Migration von Arbeitskräften in die Industrieländer Westeuropas, auf die ich in 3.3. näher eingehen werde, da durch sie bilinguale Subkulturen in den Aufnahmeländern entstanden. Aus diesem Grund werde ich nun das deutsche Gastarbeitersystem betrachten, da dieses System die Arbeitsmigration nach Westeuropa erheblich gefördert hat. Dieses hat in ähnlicher Form auch in Großbritannien und Frankreich existiert.

Nachdem in Deutschland Ende der fünfziger Jahre klar geworden war, dass aufgrund der Verluste des Zweiten Weltkrieges zu wenig Arbeitskräfte vorhanden waren, um die Industrie in den Zeiten des sog. „Wirtschaftswunders“ voranzubringen, kam man auf die Idee, Arbeiter aus Ländern, die vom Krieg nicht in gleichem Maße betroffen waren, befristet nach Deutschland zu holen. Sie sollten für einen gewissen Zeitraum dort arbeiten und dann in ihre Heimat zurückkehren[11], was an folgender Aussage deutlich wird:

Rotation was the basic principle of the guestworker migration system.[12]

Mit der praktischen Durchführung dieser Idee wurde die Bundesanstalt für Arbeit betraut, die Rekrutierungsbüros in den betroffenen Mittelmeerländern wie der Türkei oder Griechenland eröffnete, um die Arbeitskräfte, die nach Deutschland kommen wollten, auf Fähigkeiten und medizinische Voraussetzungen zu testen.

Wollten deutsche Unternehmen ausländische Arbeitskräfte einstellen, so mussten sie eine Gebühr an die Bundesanstalt für Arbeit bezahlen und für die Unterkunft der meist in Gruppen nach Deutschland kommenden Gastarbeiter sorgen. Die soziale Absicherung dieser Arbeitsmigranten wurde durch Verträge mit den Herkunftsländern geregelt, damit sich das Risiko für diese Menschen in Grenzen hielt.

Die Herkunftsländer der Arbeitsmigranten, die nach Westeuropa kamen, waren zunächst Italien und Spanien, bevor Griechenland und Portugal hinzukamen. Danach stellten das ehemalige Jugoslawien und die Türkei die meisten Gastarbeiter, bevor schließlich auch Menschen aus Nordafrika und der Dritten Welt dauerhaft nach Westeuropa reisten, um dort zu arbeiten.[13]

Den Löwenanteil der Gastarbeiter in Deutschland kam jedoch aus der Türkei, was daran deutlich wird, daß im Jahre 1992 1,8 Millionen Türken in Deutschland lebten.[14] Die Gründe für Türken, nach Deutschland zu gehen und dort zu arbeiten, waren jedoch nicht nur im deutschen Arbeitskräftemangel zu suchen, sondern auch in der Türkei selbst.

So war der Arbeitskräfteüberschuss in der Türkei, der den Arbeitskräftemangel Anfang der sechziger Jahre in Deutschland ausglich, die Folge eines massiven Bevölkerungswachstums, was sich an Zahlen belegen lässt. „Allein zwischen 1960 und 1990 stieg die Bevölkerungszahl der Türkei auf mehr als das Doppelte, von ca. 27 Millionen auf über 56 Millionen“[15], was sich an der Quote des jährlichen Bevölkerungswachstums des Jahres 1990 ablesen läßt. Im Gegensatz zu anderen europäischen Staaten, in denen es sich zwischen Minuswachstum und 0,7 % bewegte, war es mit 2,7 % noch immer sehr hoch.[16] Ohne die Emigration von Arbeitern hätte das für die türkische Wirtschaft die Notwendigkeit der Schaffung von 400.000 bis 600.000 Arbeitsplätzen jährlich bedeutet.[17]

Neben der Senkung der Arbeitslosenzahl kam es so außerdem zu enormen Transferzahlungen türkischer Migranten in ihre alte Heimat, was das Problem der in den sechziger und siebziger Jahren negativen Leistungsbilanz der türkischen Volkswirtschaft verringerte, da sie zu einer wichtigen Einnahmequelle des Landes wurden.[18] Die Wichtigkeit dieser Transferzahlungen wird ebenfalls an Zahlen deutlich, nach denen die fast 800.000 türkischen Arbeitsmigranten in Westeuropa bereits Anfang der achtziger Jahre mit beinahe 2,5 Milliarden US-Dollar jährlich dazu beitrugen, das Defizit in ihrem Herkunftsland zu mindern.[19]

Die Dimension dieser neuen Form der Arbeitsmigration lässt sich wiederum an zwei Zahlen erkennen. Waren 1956 nur 95.000 Gastarbeiter in Deutschland tätig, so waren es 1973 bereits 2,6 Millionen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die ihre Heimat verlassen hatten, um in Deutschland zu arbeiten.[20] Der Grund für diesen rasanten Anstieg lässt sich in der starken Expansion der deutschen Industrie und den damit einhergehenden neuen Methoden der Massenproduktion von Gütern finden, für die eine große Anzahl von Arbeitskräften benötigt wurde.

Trotz dieser enormen Zahlen ging die Politik jahrelang davon aus, dass die ausländischen Arbeiter früher oder später in ihr Herkunftsland zurückkehren würden, was an Maßnahmen wie beschränkten Aufenthaltsgenehmigungen oder Genehmigungen nur für bestimmte Anstellungen deutlich wird, deren Verlust die sofortige Ausweisung nach sich ziehen konnte.

Grundlage für diesen restriktiven Umgang mit Ausländern war bis zum Inkrafttreten eines neuen Ausländergesetzes 1965 bezeichnenderweise die Ausländerpolizeiverordnung aus dem Jahre 1938, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als zehn Jahren Gastarbeiter nach Deutschland gekommen waren.[21] Diese Verzögerung, die Realität anzuerkennen, dauert bis heute an, was daran deutlich wird, dass, obwohl „die Bundesrepublik unbestreitbar zu einem Einwanderungsland geworden ist, [...] bis heute ein den gesamten Zuwanderungs- und Eingliederungsprozess regelndes Gesetzeswerk [fehlt].“[22]

Außerdem waren – um ein weiteres Beispiel für den eher negativen Umgang mit Gastarbeitern zu nennen - Familienzusammenführungen bis zum Ende der sechziger Jahre nicht erlaubt, was dazu führte, dass die Industriebetriebe, bei denen verheiratete Männer arbeiteten, deren Ehefrauen häufig ebenfalls anwarben, um so das Verbot zu umgehen. Im November 1973 schließlich führten die Ölkrise und die Erkenntnis, dass dauerhafte Immigration stattgefunden hatte, da nur ein Bruchteil der Gastarbeiter tatsächlich in ihr Heimatland zurückgekehrt war, zu einem Anwerbestopp, der bis heute Bestand hat. Die Tatsache, dass 1982 47,5 % der Gastarbeiter bereits seit mehr als zehn Jahren in Deutschland lebten, macht deutlich, dass ein dauerhafter Aufenthalt der Arbeitsmigranten zu erwarten war.[23]

Diese Arbeitsmigration hat in den Aufnahmeländer zwei Dinge bewirkt. Die Staaten, die nach 1945 ausländische Arbeiter aufgenommen haben, hatten und haben teilweise noch immer ein höheres Wirtschaftswachstum als die Länder, die das nicht getan haben. Darüber hinaus gibt es heute in den erstgenannten Ländern aufgrund der hohen Anzahl verschiedener Herkunftsländer eine größere kulturelle Vielfalt, die in Kapitel 3 noch von einiger Bedeutung sein wird. Diese Vielfalt wird jedoch nicht unbedingt von allen Bewohnern des Aufnahmelandes positiv beurteilt.

1.1.2.2. Zweite Phase

Die zweite Phase von 1974 bis 1989 war im Hinblick auf Migrationstendenzen durch gravierende weltwirtschaftliche Veränderungen sowie Veränderungen in den traditionellen Arbeitsprozessen geprägt, was schließlich dazu führte, dass neue ausländische Arbeitnehmer kaum noch benötigt wurden.

So wurden Produktionsstätten deutscher Firmen, die sich bis dahin in Deutschland befunden und Arbeiter benötigt hatten, in Länder verlagert, in denen das Lohnniveau niedriger war, um dort ihre Waren billiger produzieren zu können. Der Produktionsprozess in zuvor arbeitsintensiven Industrien, die in Deutschland verblieben, wurde darüber hinaus zunehmend automatisiert, so dass manuelle Arbeit immer weniger benötigt wurde. Diese Entwicklung führte schließlich zu einer Expansion der Arbeitsplätze im Dienstleistungsbereich, der jedoch von der Anzahl der Arbeitsplätze her nicht das gleiche Potential bot wie die Industriearbeit.

Bei den Migranten, die nach 1974 nach Deutschland kamen, handelte es sich also nicht mehr um Gastarbeiter im herkömmlichen Sinne. Die dann einreisenden Ausländer waren entweder hochqualifizierte Arbeitskräfte aus anderen Ländern, an denen in Deutschland ein Mangel herrschte, oder zunehmend Flüchtlinge und Asylsuchende, die aufgrund politischer Veränderungen in ihrem Herkunftsland in einen ihnen fremden Staat gingen, von dem sie sich eine gewisse Sicherheit versprachen. Eine weitere Gruppe von Migranten stellten die Mitglieder der Familien von Gastarbeitern dar, die im Zuge von inzwischen mehr oder weniger geduldeten Familienzusammenführungen auch nach 1974 nach Deutschland kamen.

Anhand dieser beschriebenen Veränderungen wird bereits die nach 1989 noch extremere Tendenz der Verschiebung von Migrationsauslösern weg von rein ökonomischen hin zu vielen verschiedenen Gründen deutlich.

1.1.3. 1989 – 2002

Seit Mitte der achtziger Jahre ist die Zahl der Menschen, die sich aus unterschiedlichen Gründen dafür entschieden haben, ihr Herkunftsland zu verlassen, deutlich gestiegen[24]. Der erste Grund für diesen Anstieg von Migrationsbewegungen lässt sich in der ungleichen Verteilung des Reichtums zwischen den Industriestaaten und den industriell unterentwickelten Ländern finden.[25]

Diese Diskrepanz führt bis heute zu einem Ansturm von Arbeitskräften aus den Entwicklungsländern in die Industrieländer, der als Fortsetzung der Landflucht bezeichnet werden könnte, die im Zuge der langsam aufkommenden Industrialisierung in den Entwicklungsländern zunächst zu einer Überfüllung der Städte geführt hatte. Da diese Städte aufgrund der Größe ihrer Bevölkerung nur noch wenigen Menschen Arbeit bieten können, wird die Wanderung in Länder fortgesetzt, in denen diese Chancen noch vermutet werden.

Ist dieser erste Grund noch immer ökonomischer, aber auch demographischer Natur, so können in zweiter Linie politische und ökologische Faktoren genannt werden, welche die Menschen eines Landes heutzutage zur Migration bewegen. Als Beispiel für politische Faktoren kann man die bereits in 1.1.2.2. erwähnte Verfolgung politischer Gegner durch ein herrschendes Regime nennen. Ökologische Faktoren sind beispielsweise Flutkatastrophen, die Menschen zwingen, ihr Herkunftsland zu verlassen.

Ein dritter Grund kann in ethnischen Problemen gefunden werden, die häufig dazu führen, dass ein Teil der Bevölkerung eines Landes oder auch ganze Völker von ethnisch unterschiedlichen Bevölkerungsteilen oder Völkern vertrieben oder sogar ermordet werden. Beispiele hierfür lassen sich im ehemaligen Jugoslawien oder den Konflikten zwischen Israelis und Palästinensern finden.

Die Unterschiede zur Migration vor 1989, auch wenn sie bereits seit 1974 dort ihren langsamen Anfang nehmen, lassen sich durch vier Tendenzen ausdrücken, deren Wichtigkeit sich im Vergleich zu den Jahren vor 1989 deutlich verstärkt hat.

1. Globalisierung der Migration

Immer mehr Länder sind vom Phänomen der Migration betroffen, was dazu führt, dass es aufgrund der unterschiedlichen Herkunft der Migranten zu einer immer größer werdenden kulturellen Diversität in den Aufnahmeländern kommt.

2. Beschleunigung der Migration

Immer mehr Menschen sind durch die genannten Gründe dazu gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen, was dazu führt, dass die Aufnahmeländer einen Politikwechsel vollziehen müssen.

3. Differenzierung der Migration

Der Hauptgrund für die Migranten, in ein anderes Land zu gehen, konnte fast immer damit begründet werden, dass die Betroffenen ihre ökonomische Situation verbessern wollten. Dies trifft heute nicht mehr uneingeschränkt zu, da die oben genannten Faktoren wie Flucht oder Vertreibung eine immer größere Rolle spielen.

4. Feminisierung der Migration

Waren es im Zuge der Arbeitsmigration früher fast ausschließlich junge männliche Arbeiter, die in andere Länder gingen, um dann möglicherweise im Zuge der Familienzusammenführung nach einigen Jahren ihre Ehefrauen in das Aufnahmeland zu holen, so sind es heute auch häufig Frauen, die in Industrieländer immigrieren, um ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern.[26]

Die mit diesen vier Punkten einhergehende Zunahme der Wanderungsbewegungen auf der Welt lässt sich anhand von einigen Zahlen verdeutlichen. So gab es nach Schätzungen der International Organisation for Migration (IOM) 1990 auf der Welt 80 Millionen Migranten, unter denen sich 15 Millionen Menschen befanden, die auf der Flucht waren oder um Asyl baten. In einem Zeitraum von nur zwei Jahren ist diese enorme Zahl noch einmal um 25% gestiegen, so dass es 1992 bereits 100 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund gab, von denen 20 Millionen auf der Flucht waren oder um Asyl baten.[27]

Diese Zunahme der Hilfesuchenden um fünf Millionen bestätigt noch einmal den dritten Punkt der oben aufgeführten Thesen, wonach der ökonomische Gesichtspunkt nicht mehr unbedingt im Vordergrund steht, wenn es um die Begründung von Wanderungsbewegungen geht.

1.2. Aufnahmeländer

Im Hinblick auf den Umgang mit Migranten existieren unterschiedliche Staatentypen, die ich hier näher betrachten werde. Zum einen gibt es die klassischen Einwandererländer wie die USA, Kanada, Australien, Neuseeland oder Argentinien, deren Bevölkerungen größtenteils aus europäischen Immigranten und ihren Nachfahren bestehen.

Die Ureinwohner dieser Staaten wurden häufig von den Einwanderern enteignet oder sogar weitgehend ausgerottet, so dass sie heute, ähnlich wie Arbeitsmigranten in heutigen Industriestaaten, nur noch eine marginale Rolle in der Gesellschaft spielen. Die Tatsache, dass die Einwanderer, die heute in die drei erstgenannten Staaten kommen, inzwischen nicht mehr aus Europa, sondern aus Asien und im Falle der USA häufig auch aus Lateinamerika und der Karibik stammen, macht deutlich, dass hier eine gewisse Tradition der Migration vorhanden ist.

Zum anderen sind im 20. Jahrhundert neue Einwanderungsländer entstanden, in erster Linie die Industrieländer Westeuropas, was entscheidend mit der Arbeitsmigration nach 1945 zusammenhängt. Wird in den klassischen Aufnahmeländern ein Nebeneinander der Kulturen aufgrund der langen Tradition als mehr oder weniger normal und natürlich akzeptiert, so ist es in den Staaten Westeuropas noch immer ein relativ neues Phänomen, sich mit nicht der eigenen Nationalität zugehörigen Menschen auseinanderzusetzen, was nicht zuletzt an den unterschiedlichen Ansätzen der Politik deutlich wird, dieses neu entstandene Problem zu lösen.

Dieses besteht hauptsächlich darin, Verständnis für die oft vorhandenen Unterschiede der Migranten gegenüber dem Volk der Aufnahmeländer aufzubringen, weil nur so ein friedliches Nebeneinander der verschiedenen Kulturen möglich wird.

Die Unterschiede bestehen häufig in der Andersartigkeit der Herkunfts- zur Aufnahmegesellschaft. So stammen Arbeitsmigranten häufig aus Ländern, die man als Agrarstaaten bezeichnen könnte, wohingegen ihre neue Heimat eher industriell geprägt ist. Weitere Unterschiede bestehen in den meist voneinander abweichenden Traditionen der Länder, deren Ursprung andere Religionen und mit ihr verbundene Kulturpraktiken sind. Auch physische Merkmale und vor allen Dingen die Sprache spielen eine Rolle.

Die Politik der Aufnahmestaaten gegenüber Migranten lässt sich in zwei Extrempositionen unterteilen, wobei die erste eher auf die klassischen Einwanderungsländer zutrifft, die der Fremdheit ihrer Einwanderer durch den Zwang zur individuellen Komplettassimilation begegnen, sofern diese anstreben, die gleichen Rechte wie die Einheimischen zu erhalten.

Die zweite Position, die sich vor allem in den von Arbeitsmigration betroffenen Ländern Westeuropas finden lässt, beinhaltet das Verweigern von Familienzusammenführungen und Staatsbürgerschaftsrechten, um so die Migranten nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses so schnell wie möglich in ihr Herkunftsland zurückkehren zu lassen.

Diese Extrempositionen haben sich aber im Laufe der letzten Jahrzehnte angenähert, so dass ethnischen Minderheiten inzwischen häufig das Recht auf kulturelle Unterschiede eingeräumt wird. Dieses Recht ist jedoch in verschiedenen Staaten unterschiedlich stark ausgeprägt.

Dieser kleinste gemeinsame Nenner der Akzeptanz von ethnischen Minderheiten in beinahe allen erwähnten heutigen Einwanderungsländern kam jedoch aus unterschiedlichen historischen Auffassungen zustande, wie mit der Frage der Bürgerrechte vor allem auch für Ausländer umzugehen ist. Hierbei lassen sich vier verschiedene historische Ansätze unterscheiden:[28]

1. The Imperial Model:

In diesem Modell wird das Staatsbürgerschaftsrecht, wie in früheren Zeiten üblich, über die Macht eines gemeinsamen Herrschers legitimiert, dem alle Menschen untergeordnet sind. Dieses Modell lässt bereits eine gewisse Toleranz gegenüber Anderssprachigen erkennen, da auch sie die Chance hatten, durch das Bekenntnis zum Herrscher in die bestehende Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Ein Beispiel für dieses Modell war lange Zeit das Osmanische Reich mit seiner kulturellen und sprachlichen Vielfalt.[29]

2. The Folk or Ethnic Model:

In diesem Modell wird Nation über die gemeinsame Abstammung, die gemeinsame Sprache und die gemeinsame Kultur definiert, was häufig zu einem Ausschluss von Minderheiten führt. Ein Beispiel für dieses Modell ist lange Zeit Deutschland gewesen.

3. The Republican Model

Dieses Modell definiert die Bürger eines Staates durch deren Akzeptanz einer gemeinsamen Verfassung und eines gemeinsamen Rechtssystems. Die Nation wird hier also als politische Gemeinschaft gesehen. Migranten müssen diese politischen Regeln akzeptieren und sich der dominanten Kultur und somit auch der Sprache anpassen. Ein Land, das dieses Modell noch immer und seit 1995 durch neue Gesetze zum Schutz der französischen Sprache noch restriktiver als zuvor repräsentiert, ist Frankreich.[30]

4. The Multicultural Model

Dieses Modell ist neueren Datums und lässt sich vor allem in Australien, Kanada und Schweden finden. Es basiert auf dem Ansatz, dass Migranten ihre kulturellen Eigenheiten beibehalten dürfen, solange sie sich an die politischen Regeln des Aufnahmelandes halten.

Anhand dieser sehr unterschiedlichen Positionen zum Umgang mit Migranten wird deutlich, wie sehr sich die politischen Auffassungen im letzten Jahrhundert unter dem Druck der Realität den Umständen angepasst haben, obwohl es heute immer noch mehr oder weniger willkommene Migranten gibt, was sich gut an der deutschen Position zum Umgang mit Einwanderern erkennen lässt, wonach Osteuropäer mit ethnischen Verbindungen zu Deutschland (Aussiedler), rechtlich Deutsche sind, so dass ihnen im Gegensatz zu Gastarbeitern und anderen Ausländern der dauerhafte Aufenthalt in der Bundesrepublik gestattet ist.[31]

2. Bilingualismus

Wenn man sich die Tatsache vor Augen führt, dass heute auf der Welt ohne Dialekte und Mundarten über viertausend verschiedene Sprachen existieren[32], die auf nur ungefähr 150 Länder verteilt sind[33], wird deutlich, dass es viele Menschen geben muss, die man als bi- oder sogar multilingual bezeichnen kann. Diese Sprachenvielfalt führt dazu, dass „mehr als die Hälfte der Menschheit [...] mehrsprachig [ist]“[34].

Zwar sind einige Sprachen numerisch wichtiger als andere, was zu dem Einwand führen könnte, dass es sich nur um eine oberflächliche Sprachenvielfalt handelt, die nicht zwangsläufig zu Bilingualismus führt, da auf etwa 70 % der Weltbevölkerung insgesamt nur elf Sprachen entfallen, wobei von der Anzahl der Sprecher Chinesisch vor Englisch und Spanisch liegt. Ein zweiter Einwand könnte die Beschränkung einer Sprache auf nur ein Gebiet sein, dessen geographische Lage den Sprachkontakt mit anderen Sprachen verhindert, so dass auch hier kein Bilingualismus entstehen kann. Ein Beispiel hierfür ist Island.

Diese Argumente sind für einige Sprachen sicher zutreffend, doch werden sie durch die Sprachenvielfalt in anderen Gebieten und Ländern der Erde entkräftet, in denen die Wahrscheinlichkeit größer ist, auf multilinguale Menschen zu treffen als auf Monolinguale. So haben Luxemburg und die Schweiz trotz ihrer relativ geringen Größe drei bzw. vier Sprachen, was im Vergleich zu Neuguinea noch verschwindend wenig scheint. Hier existieren ungefähr 700 verschiedene Sprachen nebeneinander, die sich nur 3 Millionen Menschen teilen.[35]

Was jedoch genau bedeutet Bilingualismus? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich der Bedeutung von Sprachmischung aus Sprachkontakten bewusst werden, die als erste 1885 von Hugo Schuchardt in seiner Streitschrift „Über die Lautgesetze – Gegen die Junggrammatiker“ erkannt wurde, in der er Abschied vom zuvor von Herder und Humboldt verbreiteten naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff in der Sprachwissenschaft nahm, der die Sprache als einen vom Menschen losgelösten Organismus betrachtete.[36]

Für Schuchardt war Sprache „kein natürlicher Organismus, sondern ein soziales Produkt, eine soziale Funktion, eine gesellschaftliche Tätigkeit.“[37] Diese Ansicht führte ihn dazu, eine soziolinguistische Perspektive zur Erklärung des Lautwandels in Sprachen zu begründen, in der Sprachkontakt und daraus resultierende Sprachmischung eine zentrale Rolle einnahmen, die er als Professor in Graz vor allem anhand von deutsch-slawischen und slawisch-italienischen Sprachkontakten verdeutlichte.

Kann Schuchardt als „Vater der Soziolinguistik“[38] bezeichnet werden, so stellt das Werk „Languages in Contact“ des Linguisten Uriel Weinreich aus dem Jahre 1953 die gelungenste Weiterführung der von Schuchardt aufgestellten Thesen dar. Es ist eines der wichtigsten Werke der Sprachkontaktforschung, in dem er „versuchte, eine Systematik zwischensprachlicher Interferenzen zu entwerfen.“[39] Diese Systematik führte zu der Erkenntnis, die Weinreichs Lehrer André Martinet wie folgt formulierte:

Es gab eine Zeit, in welcher der Fortschritt der Forschung es erforderte, jede Sprachgemeinschaft als linguistisch autark und homogen anzusehen ... Heute aber müssen wir die Tatsache unterstreichen, daß eine Sprachgemeinschaft niemals homogen und kaum jemals autark ist. Die Mundartforscher haben die Durchlässigkeit der sprachlichen Zellen nachgewiesen, es zeigte sich, daß sprachliche Veränderungen sich wie Wellen im Sprachraum ausbreiten. Aber es bleibt doch zu betonen, daß die sprachliche Mannigfaltigkeit an der Tür des Nachbarn beginnt, was sage ich, daheim und in einem und demselben Menschen.[40]

Hier findet die alte These Schuchardts ihren Abschluss, da von nun an die von ihm formulierte Wichtigkeit des Individuums bei der Veränderung von Sprachen endgültig als allgemein gültig akzeptiert wurde.

Ich werde deswegen in der Folge eine Zweiteilung zwischen individuellem und gesellschaftlichem Bilingualismus vornehmen, da mit dem Begriff des Bilingualismus unterschiedliche Dinge bezeichnet werden können, die nur bedingt etwas miteinander zu tun haben. Allgemein kann man also sagen, dass sich die Untersuchung von Bilingualismus auf die Dichotomie zwischen Individuum und Gemeinschaft reduzieren lässt.[41]

2.1. Individueller Bilingualismus

Würde man eine Person auf der Straße ansprechen, um sie nach ihrer Definition von individuellem Bilingualismus zu fragen, so käme höchstwahrscheinlich eine Antwort zustande, die sich an Idealzuständen orientiert: Ein Individuum, dass zwei Kultursprachen perfekt beherrscht, die es gleichzeitig als Erstsprachen nebeneinander erworben hat, und die es täglich gleich oft in vielfältigen Kommunikationssituationen gebraucht.

Dieser von Weinreich „ideale Zweisprachige“ Genannte[42] mag in der Realität vereinzelt durchaus existieren, jedoch repräsentiert er in keiner Weise die große Mehrheit bilingualer Menschen auf der Welt, was an der Vielzahl von Typologisierungskriterien deutlich wird, die der Definition von individuellem Bilingualismus zugrunde liegen.

So lässt sich eine Definition dieses Phänomens nicht ohne eine Differenzierung der in Kontakt stehenden Sprachen vornehmen, wobei die typologische Distanz, das Prestige sowie die kommunikative Reichweite beider Sprachen eine Rolle spielen. Außerdem wird in einigen Fällen in diesem Zusammenhang nicht von Bilingualismus, sondern von Diglossie gesprochen. Da diese jedoch eher das hierarchische Verhältnis zweier Sprachen in einer Gesellschaft bezeichnet, wird eine genauere Definition unter 2.3. nachgeliefert.

Der zweite Faktor ist die Differenzierung nach dem Grad der Sprachbeherrschung, wobei jedoch die Kompetenz eines Monolingualen hier nicht als Vergleichsgrundlage dienen kann, da es bei individuellem Bilingualismus eher um das Gleichgewicht der Fähigkeiten in beiden Sprachen geht als um deren perfekte Beherrschung.

In der Linguistik kommt diesem Faktor eine besondere Bedeutung zu, was an den vielen verschiedenen Positionen zur Definitionen von individuellem Bilingualismus vor dem Hintergrund der Sprachkompetenz deutlich wird. So definiert beispielsweise Bloomfield Bilingualismus als „native-like control of two languages“.[43]

Dieser perfekte Bilingualismus unterscheidet sich gravierend vom minimalistischen Ansatz Haugens, der ein Individuum „at the point where a speaker of a language can produce complete, meaningful utterances in the other language“[44] als bilingual bezeichnet, oder der noch minimalistischeren Definition McNamaras, der die Ansicht vertritt, dass individueller Bilingualismus bereits dann vorliegt, wenn eine minimale Kompetenz in einer der vier Sprachfertigkeiten (sprechen, schreiben, lesen, verstehen) in einer zweiten Sprache vorhanden ist.

I shall consider as bilingual a person who, for example, is an educated native speaker of English and who can also read a little French. This means that bilingualism is being treated as a continuum, or rather a series of continua which vary among individuals along a variety of dimensions.[45]

In jüngeren linguistischen Arbeiten wird häufig eine Definition herangezogen, die sich auf Mackeys Sichtweise zur Bestimmung der bilingualen Sprachkompetenz bezieht und insofern zwischen beiden Extrempositionen liegt, als er sagt, dass es schwierig ist, eine genaue Definition zu geben.

A point at which a speaker of a second language becomes bilingual is either arbitrary or impossible to determine.[46]

Auf dieser Sichtweise basierend haben Harding und Riley die These aufgestellt, dass es sinnvoller sei, den Grad der bilingualen Sprachkompetenz festzustellen als nach einer fest definierten Grenze darüber zu entscheiden, ob ein Individuum als bilingual bezeichnet werden kann oder nicht.

In other words, the problem is that of defining degrees of bilingualism. Bilingualism is not a black and white, all or nothing phenomenon; it is a more or less one.[47]

Des weiteren muss eine Differenzierung nach der Art des Spracherwerbs vorgenommen werden. Hier spielt die sprachliche Biographie jedes Einzelnen eine Rolle, die häufig allein schon zu unterschiedlich ist, um der oben genannten Idealdefinition gerecht zu werden. Der letzte Punkt dieser sicher nicht vollständigen Liste ist die Differenzierung nach dem Sprachgebrauch, der es eben häufig nicht zulässt, dass beide Sprachen gleich häufig in unterschiedlichen Kommunikationssituationen gesprochen werden.[48]

Anhand dieser Faktoren wird deutlich, dass es sich bei der Gruppe der bilingualen Individuen nicht um eine homogene Gruppe mit gleichen Fähigkeiten handeln kann. Deswegen ist eine funktionale Definition des Bilingualismus wie die von Els Oksaar angemessen, um den vielen Facetten dieses Phänomens gerecht zu werden.

Mehrsprachigkeit definiere ich funktional. Sie setzt voraus, dass der Mehrsprachige in den meisten Situationen ohne weiteres von der einen Sprache in die andere umschalten kann, wenn es nötig ist. Das Verhältnis der Sprachen kann dabei durchaus verschieden sein – in der einen kann, je nach der Struktur des kommunikativen Aktes, u.a. Situationen und Themen, ein wenig eloquenter Kode, in der anderen ein mehr eloquenter Kode verwendet werden.[49]

Diese Definition macht erneut deutlich, dass es keineswegs um die perfekte Beherrschung zweier Sprachen gehen muss, wie häufig angenommen wird. Allerdings beinhaltet sie auch das Problem der wenig klaren Trennung zwischen bilingualen Individuen und monolingualen mit Fremdsprachenkenntnissen, was aber aufgrund der anderen oben erwähnten Typologisierungsmerkmale und der Tatsache, dass sich „Mehrsprachigkeit nicht als Bündel distinktiver Merkmale“[50] definieren lässt, vernachlässigt werden kann.

Ein Problem der Linguistik besteht in der Uneinheitlichkeit der Begriffe, was an der von Mackey angesprochenen Vielzahl der unterschiedlichen Ausdrücke deutlich wird, die verwendet werden, um die Beherrschung zweier oder mehrerer Sprachen zu beschreiben.

There are several words for the knowledge and use of two or more languages and there are different terms to indicate situations which are in fact the same.[51]

So ist Bilingualismus der neueste und auch am häufigsten gebrauchte Begriff, was jedoch nicht bedeutet, dass nicht noch eine Vielzahl von anderen Begriffen existiert, die mit unterschiedlichen Blickwinkeln begründet werden können.

So besteht der Unterschied zwischen Multilingualismus und Plurilingualismus beispielsweise darin, dass beim ersten Begriff der Gebrauch von mehr als zwei Sprachen eine Rolle spielt, beim zweiten aber der Gebrauch von mehr als einer. Wenn es wichtig ist, wie viele Sprachen genau betroffen sind, wird von Trilingualismus oder gar Quadrilingualismus gesprochen.[52] Der Begriff Bilingualität hingegen wird laut Hamers und Blanc im Zusammenhang mit Untersuchungen zum geistigen Zugang zu zwei oder mehr Sprachen durch ein Individuum benutzt.[53]

Die Uneinigkeit der Begrifflichkeit wird erneut deutlich, wenn man sich die Tatsache vor Augen führt, dass all diese Begriffe für unterschiedliche Linguisten nicht unbedingt das gleiche bedeuten, was ja oben anhand der unterschiedlichen Definitionsversuche von Bilingualismus vor dem Hintergrund der Kompetenz zweier Sprachen bereits angeklungen ist.

Each of these terms, however, does not mean the same thing to everyone who uses the. Some twenty five different definitions of the term bilingualism have been cited.[54]

Aufgrund der unterschiedlichen Definitionen und Bezeichnungen im Bereich der Sprachkontaktforschung ist auch die Grenze zwischen gesellschaftlichem Bilingualismus und Diglossie eine Frage der Betrachtungsweise. Deswegen unterscheide ich in 2.2. zunächst gesellschaftlichen Bilingualismus unter Berücksichtigung verschiedener Staaten, in denen er existiert, bevor in 2.3. der Versuch einer Definition von Diglossie folgt, um die Dichotomie zwischen ihr, individuellem Bilingualismus und gesellschaftlichem Bilingualismus deutlich zu machen.

2.2. Gesellschaftlicher Bilingualismus

Durch Sprachkontakte entsteht gesellschaftlicher Bilingualismus, der vielfältige Erscheinungsformen annehmen kann. Die Gründe dafür, dass es in Europa und dem Rest der Welt kaum einen Staat gibt, in dem nicht mehr als eine Sprache gesprochen wird, liegt in der historischen Entwicklung der Länder, der Anzahl ethnischer Minderheiten und deren Anteil an der Gesamtbevölkerung eines Landes, da diese verantwortlich für den Grad der Sprachenvielfalt sind.

Allgemein lässt sich sagen, dass die Wahrscheinlichkeit, dauerhaft mehr als eine Sprache in einem Land zu finden, von der Größe der ethnischen Minderheiten abhängt. Je größer die Minderheit, desto wahrscheinlicher wird eine gewisse Form der staatlichen Berücksichtigung der Sprache dieser Menschen, wobei jedoch die allgemeine staatliche Politik gegenüber Minderheiten berücksichtigt werden muss. So lassen sich hier mehrere konträre politische Grundhaltungen unterscheiden, die zwischen den zwei Extremen der Unterstützung und der Unterdrückung von Minderheitensprachen liegen.

Die Maßnahmen zur Förderung der Sprache von Minderheiten reichen von der Anerkennung dieser Sprachen in der Verfassung über das Recht, die Kinder der Angehörigen einer solchen Minderheit in staatlichen Schulen zunächst in ihrer Muttersprache unterrichten zu lassen bis hin zur Standardisierung der Minderheitssprachen durch den Staat, sofern noch keine Standardsprache der jeweiligen Minderheit existiert. Der Vorteil dieser Methode besteht in der sanften Heranführung der Kinder an die nationale Standardsprache, ohne die eigene Muttersprache komplett aufgeben zu müssen.

Die Maßnahmen zur Unterdrückung von Minderheitensprachen sind ebenfalls vielfältig. Sie reichen von kompletter Vernachlässigung der Minderheitensprache durch den Staat, wie es jahrelang in den USA der Fall war, bis hin zu Vertreibungen aufgrund der unterschiedlichen Sprache. Ein Beispiel ist die Vertreibung von sogenannten Sudetendeutschen aus dem Sudetenland nach 1945, wobei hier jedoch sicher politische Gründe die Hauptrolle gespielt haben.

Eine weitere Möglichkeit, mit Minderheitensprachen umzugehen, besteht darin, den ethnischen Minderheiten die Nationalsprache durch Zwang näher zu bringen, wobei es häufig zu einem Komplettverbot der unerwünschten Sprache kommt, deren Gebrauch mit Sanktionen belegt wird.

Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Positionen lassen sich im Hinblick auf die Sprachenvielfalt in verschiedenen Staaten vier Ländertypen unterscheiden.

2.2.1. Monolinguale Staaten

Der erste Typ ist der monolinguale Staat, der aber eher in der Theorie existiert und ein politisches Konstrukt zur Bewahrung der eigenen Sprache darstellt, da es nicht möglich ist, einen Staat zu finden, in dem tatsächlich nur eine einzige Sprache gesprochen wird. Verhindert wird das durch ethnische Minderheiten mit einer eigenen Sprache, die es eigentlich in allen Ländern der Welt gibt.

Dem monolingualen Staat am nächsten kommt Japan, wo der Anteil der Mitglieder ethnischer Minderheiten nur 0,7 % der Gesamtbevölkerung beträgt[55], so dass das Land als praktisch monolingual und monokulturell bezeichnet werden kann. Dass Japan als einziges Land diese Kriterien weitestgehend erfüllt, heißt jedoch nicht, dass es sich um das einzige Land handelt, das sich als monolingual bezeichnet. Als solches bezeichnet sich auch Paraguay, obwohl es eigentlich multilingual ist.

Hier existieren Spanisch und die Indianersprache Guarani nebeneinander, obwohl lediglich Spanisch der Status der offiziellen Landessprache zukommt. Guarani ist die Sprache des öffentlichen Lebens, der ländlichen Gegenden, der Kommunikation in der Familie, der Emotionen und sogar der Medien, wohingegen Spanisch eher den Staatsapparat repräsentiert, indem es die Sprache der Armee, der Politik und des offiziellen Lebens ist. 90 % der Bevölkerung benutzen Guarani als Erstsprache[56], so dass individueller Bilingualismus an der Tagesordnung ist, da nur in offiziellen Situationen Spanisch gesprochen wird.

2.2.2. Eigentlich multilinguale Staaten

Der nächste Typ ist der multilinguale Staat, in dem es eine offizielle Nationalsprache neben teilweise zahlreichen inoffiziellen Sprachen linguistischer Minoritäten gibt, die jedoch nicht in gleichem Maße akzeptiert werden. Beispiele hierfür lassen sich in Europa finden, wo in fast jedem Land ethnische Minderheiten leben, die eine eigene Sprache sprechen. Hierbei ist es irrelevant, ob diese Minoritäten schon seit Jahrhunderten in Koexistenz mit der Mehrheit der Bevölkerung existieren oder ob es sich um neue Minderheiten, etwa im Zuge der Arbeitsmigration des 20. Jahrhunderts, handelt. Das führt zu der paradoxen Situation, dass diese Staaten in ihrem Selbstverständnis eigentlich noch immer monolingual sind, obwohl sie durch ihre Geschichte praktisch multilingual geworden sind.

Problematischer ist die Situation in ehemaligen europäischen Kolonien, die unter dieselbe Kategorie fallen. Hier gibt es das Problem, dass die politischen Grenzen selten mit den linguistischen Grenzen übereinstimmen, da diese im Zuge der Kolonisierung nicht berücksichtigt wurden, da die Kolonialherren ohnehin ihre eigene Sprache mitbrachten, die sie den eroberten Menschen oktroyierten.

Aus diesen Gründen gab es nach der Unabhängigkeit dieser Länder das Problem, eine offizielle Amts- und Verwaltungssprache zu finden, die keine der meist zahlreichen Bevölkerungsgruppen mit jeweils eigener Sprache diskriminiert. Zur Lösung dieses Problems wurden zwei unterschiedliche Wege beschritten. Entweder wurde wie in Tansania mit Kisuaheli eine Sprache gewählt, die von einer relativ kleinen linguistischen Gruppe innerhalb des Landes gesprochen wurde oder es wurde eine Sprache importiert, die keine der Bevölkerungsgruppen als Muttersprache hatte. Beispiele für relativ problemlose Übergänge sind Englisch in Ghana und Französisch im Senegal.

Das Problem bei der zweiten Lösung bestand jedoch darin, dass es häufig die ehemalige Kolonialsprache war, die nun als Amtssprache fungieren sollte, was insofern ein Problem darstellte, als der Großteil der Bevölkerung gezwungen war, eine neue Sprache zu erlernen. Die Multilingualität dieser ehemaligen Kolonialstaaten spiegelt sich nicht zuletzt in den sprachlichen Fähigkeiten ihrer Bürger wider, die zumindest in Afrika häufig drei Sprachen beherrschen, die sie in unterschiedlichen Situationen zu gebrauchen wissen.

So ist die ehemalige Kolonialsprache oft noch immer die Sprache der Bildung, die in den Schulen verwendet wird. Hinzu kommt eine weitere Sprache, die von der Zugehörigkeit eines Individuums zu einer bestimmten Bevölkerungsgruppe abhängt sowie eine lingua franca zur Kommunikation mit Mitgliedern anderssprachiger Bevölkerungsgruppen.

Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Kolonien das Problem der gemeinsamen Sprache nach der Unabhängigkeit für ihre Bürger nur unbefriedigend gelöst haben. Ein Beispiel ist Haiti, wo Französisch lange Zeit die offizielle Sprache war, die aber nur von 10 bis 15 % der Bevölkerung gesprochen und nur von 5 % schriftlich beherrscht wurde, obwohl sich mit Kreolisch eine Sprache hätte finden lassen, die fast jeder beherrschte. Dieses Problem wurde inzwischen mit der Aufwertung von Kreolisch zur zweiten offiziellen Amtssprache gelöst.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die meisten eigentlich multilingualen Staaten sich ihrer Sprachenvielfalt nicht bewusst sind und sich deswegen als monolingual bezeichnen, obwohl in ihnen in manchen Fällen eine größere Anzahl an bilingualen Individuen lebt als in offiziell multilingualen Staaten.

2.2.3. Bilinguale Staaten

Lassen sich in 2.2.2. de facto multilinguale Staaten finden, die aber offiziell monolingual sind, so werden nun Länder wie Finnland, Kanada, Zypern, Israel oder Belgien[57] näher betrachtet, die sich selbst als bilingual bezeichnen. Dieser Bilingualismus manifestiert sich in der Gleichrangigkeit zweier Sprachen, die in der Verfassung der jeweiligen Staaten verankert ist. Die Gründe für diese Sprachenpolitik liegen in der besonderen Bedeutung, die der kulturelle Schutz von Minderheiten in den betreffenden Ländern genießt.

So leben in Finnland lediglich 7 % der Bevölkerung mit Schwedisch als Muttersprache[58]. Trotzdem sind Finnisch und Schwedisch zumindest theoretisch gleichberechtigte Nationalsprachen. Ähnlich verhält es sich in Kanada, auch wenn der Anteil der französischsprechenden Minderheit an der Gesamtbevölkerung hier bei 26 % liegt[59], was die Notwendigkeit einer bilingualen Administration wichtiger erscheinen lässt als in Finnland.

Dieser offizielle Bilingualismus wird jedoch von Land zu Land unterschiedlich realisiert, was jedoch letztendlich auf zwei Prinzipien hinausläuft, die sich in bilingualen Staaten beobachten lassen. Diese sind das sogenannte Prinzip des territorialen Bilingualismus, dem das Prinzip des institutionellen Bilingualismus entgegensteht.

2.2.3.1. Territorialer Bilingualismus am Beispiel Belgiens

Der territoriale Bilingualismus in Belgien manifestiert sich in der Aufteilung des Landes in verschiedene Sprachzonen, in denen ausschließlich eine Sprache gesprochen wird, wobei öffentliche Einrichtungen wie beispielsweise Schulen in diesen Zonen ebenfalls nur monolingual sind. Verlässt man die Zone, in der man lebt, so ist man mit einer fremden Sprache konfrontiert, die man beherrschen muss, um sich dort zurechtzufinden. Dieses Phänomen macht deutlich, dass nicht nur die Migration vom Heimatland in ein anderssprachiges Aufnahmeland, sondern auch Binnenmigration innerhalb von dem Territorialprinzip unterworfenen Ländern zu Bilingualismus führen kann.

Der Grund für die Wahl dieses Prinzips liegt im Schutz, den es für die Kultur und die Sprache von Minderheiten bietet. Da ein Fehlen dieses Schutzes dazu führen kann, dass ethnische Minderheiten beispielsweise in offiziell monolingualen Staaten der dominanten Kultur unterworfen werden, wenn ihnen nicht genügend Raum zur Entfaltung ihrer eigenen Gebräuche eingeräumt wird, ist dieses Prinzip gut für die kulturelle Vielfalt eines Landes.

[...]


[1] Fritsche, Michael: Deutsch im gemeinsamen Haus Europa – oder: Wieviele Sprachen braucht der Mensch? (=WSM). In: Sprachtheorie und sprachliches Handeln. S.133

[2] vgl. Castles, Stephen / Miller, Mark J.: The Age of Migration (=AM), S.23

[3] vgl. AM, S. 33 ff

[4] vgl. AM, S.47ff

[5] vgl. AM, S.50f

[6] vgl. King, Russell: European international migration 1945-90: a statistical and geographical overview (=EIM). In: Mass Migrations in Europe. The Legacy and the Future (=MME). S.20

[7] vgl. EIM, S.20

[8] vgl. AM, S.54

[9] vgl. AM, S.62

[10] vgl. AM, S.66

[11] vgl. Blotevogel, Hans Heinrich / Müller-ter Jung, Ursula / Wood, Gerald: From itinerant worker to immigrant? The geography of guestworkers in Germany. In: MME, S.85

[12] Fielding, Anthony: Migrants, institutions and politics: The evolution of European migration policies (=EMP). In: MME, S.45

[13] vgl. EIM, S.22f

[14] vgl. Daller Helmut: Migration und Mehrsprachigkeit. Der Sprachstand türkischer Rückkehrer aus Deutschland (=STR). S.8

[15] STR, S.8

[16] vgl. Atalik, Gündüz / Beeley, Brian: What mass migration has meant for Turkey (=WMT). In: MME, S.156

[17] vgl. STR, S.8

[18] vgl. STR, S.8

[19] vgl. WMT, S.170

[20] vgl. AM, S.67

[21] vgl. Santel, Bernhard / Weber, Albrecht: Zwischen Ausländerpolitik und Einwanderungspolitik: Migrations- und Ausländerrecht in Deutschland (=ZAE). In: Migrationsreport 2000. Fakten – Analysen – Perspektiven. S.111

[22] ZAE, S.109

[23] vgl. EMP, S.46

[24] vgl. AM, S.4

[25] vgl. King, Russell / Öberg, Sture: Europe and the future of mass migration. In: MME, S.1

[26] vgl. AM, S.8

[27] vgl. AM, S.4

[28] vgl. AM, S.39

[29] vgl. Yaz, Kau: Die Gemischtsprachigkeit des Menschen (=GM). In: Werkstatt der Kulturen Heft 2 (=WK). S.18

[30] vgl. GM, S.18

[31] vgl. EMP, S.45f

[32] vgl. GM, S.16

[33] vgl. Grosjean, Francois: Life With Two Languages (=LT). S.4

[34] Lüdi, Georges/ Py, Bernard: Zweisprachig durch Migration (=ZM). S.1

[35] vgl. LT, S.4

[36] vgl. Wandruszka, Mario: Die Mehrsprachigkeit des Menschen. S.177 f

[37] MM, S.178

[38] WSM, S.135

[39] MM, S.193

[40] MM, S.194

[41] vgl. ZM, S.5

[42] vgl. Weinreich, Uriel: Languages in Contact. S.73

[43] Bloomfield, Leonard: Language. S.56

[44] Haugen, Einar: The Norwegian Language in America. S.7

[45] MacNamara, John: How can one measure the extent of a person’s bilingual proficiency?. In: Description and Measurement of Bilingualism. S.82

[46] Mackey, William F.: The Description of Bilingualism. In: Readings in the Sociology of Language. S.55

[47] Harding, Edith / Riley, Philip: The Bilingual Family. S.31

[48] vgl. ZM, S.6 ff

[49] Oksaar, Els (1980:43) zit. nach: ZM, S.8

[50] ZM, S. 9

[51] Mackey, William, F.: Bilingualism and Multilingualism (=BAM). In: Soziolinguistik. Ein internationales Handbuch zur Wissenschaft von Sprache und Gesellschaft (=SOZ). S.699

[52] vgl. BAM, S.699

[53] vgl. Hamers, Josiane F. / Blanc, Michel: Bilinguality and Bilingualism. S.1 ff

[54] vgl. Van Overbeken (1972:113 ff) zit. nach: BAM, S.699

[55] vgl. LT, S.6

[56] vgl. LT, S.6

[57] Belgien wird der Einfachheit halber den bilingualen Staaten zugerechnet, obwohl es eigentlich trilingual ist.

[58] vgl. LT, S.12

[59] vgl. LT, S.12

Ende der Leseprobe aus 122 Seiten

Details

Titel
Mehrsprachigkeit durch Migration
Hochschule
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg  (Germanistik Sprachwissenschaft)
Note
2,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
122
Katalognummer
V17617
ISBN (eBook)
9783638221481
Dateigröße
741 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Arbeit beschäftigt sich mit dem sprachwissenschaftlichen Phänomen des inddividuellen Bilingualismus durch Migration, der zunächst dem gesellschaftlichem Bilingualismus gegenübergestellt wird, bevor die sprachwissenschaftlichen Phänomene, die im bilingualen Individuum ablaufen, näher betrachtet werden. Im Vordergrund steht hierbei die sprachliche Entwicklung von Individuen in verschiedenen Lebensphasen, wobei auch Phänomene wie Codeswitching und Sprachverlust eine Roplle spielen.
Schlagworte
Mehrsprachigkeit, Migration, Thema Migration
Arbeit zitieren
Oliver Buchholz (Autor:in), 2003, Mehrsprachigkeit durch Migration, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17617

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