Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Bewältigung von Ängsten in Novellen der frühen Moderne.
Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und lebensweltlichen Umwälzungen, die mit dem Eintritt in das Industriezeitalter einhergingen, bewirkten auch eine neue Wahrnehmung der eigenen Person. Die Auflösung tradierter Gesellschaftsstrukturen, Rollenzuweisungen und der damit verbundene Verlust äußerer Kategorisierungsmöglichkeiten von Identität, bewirkte eine Relevanzverschiebung zugunsten innerer, persönlichkeitsstiftender Merkmale. Identität konnte nicht mehr über äußere Kategorisierungen hergestellt, sondern musste aus dem Inneren heraus entwickelt werden. Die, durch die veränderten äußerlichen Umstände bedingte, Haltlosigkeit bildet die Grundlage für die Identitätskrisen, wie sie in der Literatur der frühen Moderne dargestellt werden. Kennzeichnend für die literarische Moderne ist somit die Abnahme der Relevanz objektiver Realität zugunsten der subjektiven Realität, deren Ausdruck unter anderem eine Psychologisierung von Wirklichkeitserfahrungen, die Wiedergabe subjektiver Wahrnehmungs- und Bewusstseinsvorgänge und damit auch ein Zurücktreten vermittelnder Erzählinstanzen sind.
Innerhalb dieser Arbeit wird dargestellt, wie Figuren mit Ängsten umgehen, die sowohl aus dieser Identitätskrise resultieren als auch dieselbe bedingen, sowie ob und auf welche Weise die Figuren in der Lage sind, diese Ängste wahrzunehmen.
Des Weiteren wird untersucht, ob sich bestimmte Vorraussetzungen feststellen lassen, unter denen die Figuren in der Lage sind, ihre Ängste zu überwinden und welche Folgen das Scheitern von Angstbewältigung für die Figuren hat.
Die Kategorisierung und Identifizierung der erlebten Ängste erfolgt unter Zuhilfenahme der Theorien Sigmund Freuds, der die psychologische Wissenschaft mit der Entwicklung der Psychoanalyse revolutionierte und somit dazu beitrug, die inneren Vorgänge des Menschen in den Fokus des Interesses zu rücken. Dies ist für die vorliegende Arbeit insofern relevant, als dass es „[u]nter den Dichtern dieses Jahrhunderts […] kaum einen [gibt], der sich nicht mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt hat.“1 Die psychoanalytische Theorie wird innerhalb der vorliegenden Arbeit ebenfalls kurz dargestellt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Furcht und Angst
3. Identität und Moderne
4. Fokussierung auf psychische Vorgänge
4.1 Die psychoanalytische Methode S. Freuds
4.2 Ich, Es und ÜberIch
4.3 Neurosen
4.3.1 Die Angstneurose
4.4 Sigmund Freud und die Dichter
5. Grundängste und literarische Beispiele
5.1 Die Angst vor Selbsthingabe und IchVerlust
5.1.1 A. Schnitzler: Flucht in die Finsternis
5.1.2 S. Zweig : Buchmendel
5.1.3 F. Kafka: Das Urteil
5.2 Die Angst vor Selbstwerdung und Isolation
5.2.1 T. Storm: Schweigen
5.2.2 S. Zweig: Angst
5.2.3 A. Schnitzler: Fräulein Else
5.3 Die Angst vor Wandlung und Vergänglichkeit
5.3.1 S. Zweig: Buchmendel
5.3.2 A. Schnitzler: Ich
5.4 Die Angst vor Notwendigkeit und Unfreiheit
5.4.1 S. Zweig: Der Amokläufer
6. Schlussbetrachtung
7. Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Wissenschaftliche Literatur
8. Erklärung zur Abgabe wissenschaftlicher Arbeiten
1. Einleitung
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Bewältigung von Ängsten in Novellen der frühen Moderne.
Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und lebensweltlichen Umwälzungen, die mit dem Eintritt in das Industriezeitalter einhergingen, bewirkten auch eine neue Wahrnehmung der eigenen Person. Die Auflösung tradierter Gesellschaftsstrukturen, Rollenzuweisungen und der damit verbundene Verlust äußerer Kategorisierungsmöglichkeiten von Identität, bewirkte eine Relevanzverschiebung zugunsten innerer, persönlichkeitsstiftender Merkmale. Identität konnte nicht mehr über äußere Kategorisierungen hergestellt, sondern musste aus dem Inneren heraus entwickelt werden. Die, durch die veränderten äußerlichen Umstände bedingte, Haltlosigkeit bildet die Grundlage für die Identitätskrisen, wie sie in der Literatur der frühen Moderne dargestellt werden. Kennzeichnend für die literarische Moderne ist somit die Abnahme der Relevanz objektiver Realität zugunsten der subjektiven Realität, deren Ausdruck unter anderem eine Psychologisierung von Wirklichkeitserfahrungen, die Wiedergabe subjektiver Wahrnehmungs- und Bewusstseinsvorgänge und damit auch ein Zurücktreten vermittelnder Erzählinstanzen sind.
Innerhalb dieser Arbeit wird dargestellt, wie Figuren mit Ängsten umgehen, die sowohl aus dieser Identitätskrise resultieren als auch dieselbe bedingen, sowie ob und auf welche Weise die Figuren in der Lage sind, diese Ängste wahrzunehmen.
Des Weiteren wird untersucht, ob sich bestimmte Vorraussetzungen feststellen lassen, unter denen die Figuren in der Lage sind, ihre Ängste zu überwinden und welche Folgen das Scheitern von Angstbewältigung für die Figuren hat.
Die Kategorisierung und Identifizierung der erlebten Ängste erfolgt unter Zuhilfenahme der Theorien Sigmund Freuds, der die psychologische Wissenschaft mit der Entwicklung der Psychoanalyse revolutionierte und somit dazu beitrug, die inneren Vorgänge des Menschen in den Fokus des Interesses zu rücken. Dies ist für die vorliegende Arbeit insofern relevant, als dass es „[u]nter den Dichtern dieses Jahrhunderts […] kaum einen [gibt], der sich nicht mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt hat.“[1] Die psychoanalytische Theorie wird innerhalb der vorliegenden Arbeit ebenfalls kurz dargestellt.
Dass die bearbeiteten Erzählungen der Gattung[2] ‚Novelle’ angehören, erklärt sich aus den ihr eigenen gattungsspezifischen Merkmalen[3], die sie als besonders geeignet erscheinen lassen.
Das Wesen der Novelle, sich auf das Wesentliche zu beschränken, bewirkt eine gewisse Kürze des Erzählens und die Novelle „zeigt den Menschen integriert in Zeit und Raum, in Gesellschaft und Geschichte und gebunden an die eigenen elementaren existentiellen Bedingungen“[4]. Die Novelle ist vielleicht, wie keine andere Form von Literatur ein Spiegel ihrer Zeit und des gesellschaftlichen Umfeldes, aus dem heraus sie entsteht, denn „Überzeitlichkeit, Unvergänglichkeit, jede Form von Transzendenz ist der Novelle im Grunde fremd.
Ihr großes Thema ist der im Hier und Jetzt zwischen Gelingen und Scheitern ausgesetzte Mensch“[5]. Ein zentraler Punkt innerhalb der Novellentheorie ist der Begriff des `Wendepunktes´, der in Analogie zum Drama jenen Punkt bezeichnet, „von dem aus sich die Handlung zum Guten oder zum Schlimmen, zur Katastrophe oder zur Lösung wenden kann“[6]. Freund betont, dass eine positive Wendung „ihren Ursprung in einem inneren Wandel der zentralen Figur hat“[7]. Dieser innere Wandel ist es, der ebenfalls innerhalb der vorliegenden Untersuchung bearbeitet wird.
2. Furcht und Angst
Da innerhalb dieser Arbeit die Wahrnehmung und die Bewältigung von Angst untersucht werden soll, wie sie in den Novellen der frühen Moderne vorkommt, ist es angebracht, erst einmal den Begriff und das Phänomen der Angst genauer zu betrachten.
Elementar ist hierbei die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht. Furcht ist in der Regel durch einen äußeren Grund motiviert, der aufgeklärt und benannt werden kann. Es sind bestimmte, konkretisierbare Dinge, vor denen Menschen Frucht empfinden. Des Weiteren ist Furcht etwas, das man mit anderen Menschen teilen, also durchaus kollektiven Charakter haben kann: Eine Bedrohungssituation durch eine bewaffnete Person würde normalerweise bei jedem Menschen, der damit konfrontiert würde, Furcht auslösen. Die in dieser Situation empfundene Furcht hat einen bestimmten äußeren, benennbaren Grund.
Im Gegensatz hierzu ist Angst wesentlich diffuser und nicht zielgerichtet, da sie sich nicht auf einen äußeren Grund fixiert.
Gerade diese Unbestimmbarkeit ist es, die den Menschen ängstigt. Einer konkreten Gefahr kann man begegnen, aber das unbestimmte Nichts, vor dem man sich ängstigt, bietet keinen Anhaltspunkt und einen Gegner, den man nicht kennt, kann man schwerlich bekämpfen. Dementsprechend ist Furcht immer auch mit Angst verbunden, jedoch finden sich häufig Ängste, die ohne einen Grund zur Furcht entstehen.[8]
Im Gegensatz zur Furcht ist Angst etwas sehr Individuelles. Die meisten Menschen würden Furcht empfinden, wenn sie sich in einem Flugzeug befänden, das im Absturz begriffen ist. In diesem Fall würde eher der Furchtlose als Ausnahme von der Norm in den Fokus geraten. Ängste jedoch sind gänzlich individuell motiviert:
Die Allgemeinheit des Begriffs stößt am Phänomen der Angst auf eine Grenze, die seine Verallgemeinerungsfähigkeit nicht nur äußerlich, sondern von innen her beschränkt, da in der Angst dem Denken das Unbegreifliche in der Gestalt der Unbegreiflichkeit seiner selbst begegnet. Denken und Begreifen sind auf Allgemeinheit ausgerichtet. Die Besonderheit der Angst ist aber von inkommensurabler Singularität, sofern sie am Einzelnen haftet, dessen Individualität sich dem Begriff gerade dort entzieht, wo der Einzelne sich ängstigt. Das Phänomen der Angst zwingt dazu, die Kategorie des Einzelnen streng zu fassen. Die Einzelheit des Einzelnen lässt sich nicht zum Moment eines Allgemeinbegriffs herabsetzen; der Einzelne ist, was er ist, in der unvergleichlichen Weise eines singulare tantum.[9]
3. Identität und Moderne
Das zentrale Element der bearbeiteten Novellen ist die Krise der Identität in der Moderne.
Ausgelöst wird diese Ich-Krise in der frühen Moderne durch die Auflösung stabiler Strukturen in der Zeit der industriellen Revolution.
Die Jahre der industriellen Revolution sind nicht nur gekennzeichnet durch tief greifenden wirtschaftlichen, sondern mit dem Aufstieg des Bürgertums, auch gesellschaftlichen Wandel. Die Werte und Normen des Bürgertums, die teilweise aus dem Wertesystem des Adels übernommen wurden, sind maßgebend für das Wertesystem des 19. Jahrhunderts. Das Leben im Wilhelminischen Deutschland ist geprägt durch eine soziale Krise, die durch die Industrialisierung eingetreten ist. Diese beeinflusst das Bewusstsein des Bürgertums und spiegelt sich vor allem in der Gestaltung des privaten Lebensbereichs wieder.
Die ohnehin vorhandenen gesellschaftlichen Unterschiede werden durch das exponentielle Anwachsen der Arbeiterklasse immer augenscheinlicher. In der bürgerlichen Gesellschaft baut sich ein Druck und Zwang zur Präsentation auf, die bei nicht wenigen bürgerlichen Familien nur mit äußersten Entbehrungen aufrecht zu erhalten ist. So ist es nicht selten, dass Frauen keiner Arbeit nachgehen, obwohl das Geld dringend benötigt wird. Es wird als Zeichen von Wohlstand und Kultiviertheit gewertet, wenn die Frau keiner Arbeit nachgehen muss, sondern sich den schönen Dingen des Lebens widmen und ihre Künste ausbauen kann. Dieser Zwang zur Repräsentation und die damit verbundene Sinnkrise der Protagonistin wird unter anderem in Schnitzlers Novelle Fräulein Else thematisiert.
Mit dem Rückgang traditioneller Gesellschaftsformen und einer zunehmenden gesellschaftlichen Komplexität, verändert sich die Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt und zu sich selbst.
Da Identität immer weniger über äußere Rollenzuweisungen hergestellt werden kann, gewinnen interne Bezugspunkte an Wichtigkeit, denn Identität ist die Grundlage sozialen Handelns.
Überdauernde Interaktionsbeziehungen und damit Gesellschaften sind nur möglich, wenn der andere weiß, wer ich bin. Dazu muß ich dem anderen deutlich machen, wer ich bin. Das kann ich nur, wenn ich weiß, wer ich bin, und das wiederum hängt davon ab, was ich bislang aus meiner Umwelt erfahren habe über mich und wie ich diese Erfahrung über mich selbst zu einem Bild über mich selbst zusammenfüge, von dem ich sage: Das bin ich![10]
Hieraus ergibt sich für das Ich eine doppelte Unsicherheit: Durch die sich verändernden Lebensbedingungen verliert das Ich an Gewissheit seiner Umwelt gegenüber und dadurch ergibt sich gleichsam eine Unsicherheit des Ich sich selbst gegenüber. Die veränderlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen sich das Individuum bewegt, werden von Norbert Elias gleichgesetzt mit der
prozesshaften Ausbildung individueller Selbstregulierung trieb- und affektbedingter Verhaltensimpulse. Nicht die Zivilisation ist das eigentlich fest Bestehende, sondern der sich verändernde Zwang zum Selbstzwang und das Erlernen individueller Selbstregulierungen im Zusammenleben mit anderen Menschen.[11]
Der von Elias beschriebene Zwang zur Selbstregulierung ist eng geknüpft an die jeweils geltenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dies zeigt sich zum Beispiel in Zweigs Novelle Der Amokläufer, in der verschiedene semantische Räume Selbstzwang in unterschiedlicher Ausprägung erfordern. So kann der Protagonist seine sexuellen Bedürfnisse in Indonesien wesentlich freier ausleben, als dies innerhalb der gesellschaftlichen Normen Europas möglich gewesen wäre.[12]
Der zunehmende Verlust äußerer Rollenzuweisungen als Bezugspunkt für Identitätsbildung, erstreckt sich ebenso auf den Bereich der Geschlechterrollen, und bezieht sowohl das männliche als auch das weibliche Rollenbild mit ein. Das krisenhafte Empfinden ihrer weiblichen Identität können die dargestellten Protagonistinnen über die Verbindung mit einer starken männlichen Figur überwinden.
Dies ist zum Beispiel bei der Protagonistin von Stefan Zweigs Novelle Angst, Irene Wagner, der Fall. Diese kann in der Verbindung mit ihrem Mann ihre Identitätskrise überwinden und zu einem gesunden weiblichen Selbstempfinden gelangen. In Schnitzlers Novelle Fräulein Else dagegen kann die Überwindung der Identitätskrise in Ermangelung eines solchen männlichen Gegenparts nicht vollzogen werden.
In Theodor Storms Novelle Schweigen steht mit dem Protagonisten Rudolf von Schlitz die männliche Identitätsfindung im Vordergrund. Die Figur Rudolf gerät durch das Fehlen eines männlichen Identifikationsvorbildes und einer zu dominanten Mutterfigur in eine Identitätskrise und kann diese nur mit Hilfe seiner Ehefrau Anna, die eine in ihrer weiblichen Identität sicheren Persönlichkeit entspricht, überwinden.
4. Fokussierung auf psychische Vorgänge
Mit der modernen Wissenschaft wurden nicht nur neue Einsichten und Kenntnisse über die äußere Wirklichkeit gewonnen, auch das Innere des Menschen rückte in den Fokus und verlangte nach Neuorientierung. „Die bis dahin vorwiegend von Philosophen und Theologen betriebene Wissenschaft von der Psyche verlagerte sich mehr und mehr in die Praxis.“[13]
Die psychiatrische Wissenschaft erkennt die Seele als ein Konstrukt an, das mit naturwissenschaftlichen Methoden untersucht werden kann.
Die Psychologie wird als die Wissenschaft betrachtet, „die sich mit den Werdeprozessen der Seele beschäftigt“[14], die vom Unbewussten zum Bewussten verlaufen. Diese Philosophie des Unbewussten wurde hauptsächlich von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche auf den Weg gebracht, wobei gerade Nietzsche einen großen Einfluss auf die moderne Tiefenpsychologie hatte.[15]
Revolutionär war die so genannte „kathartische Methode“ von Josef Breuer und Sigmund Freud, bei der physische Symptome mit Hilfe von Hypnose behandelt wurden und so der Übergang von der physiologischen zur psychologischen Vorgehensweise bereitet wurde.[16] Für Freud war diese Methode jedoch nur eine Art ‚Station’ von der aus er, nach der Trennung von Breuer, seinen eigenen Weg zur Entschlüsselung des Unbewussten antrat und die Methode entwickelte, die zur Psychoanalyse führte.[17]
4.1 Die psychoanalytische Methode S. Freuds
Die Psychoanalyse ist ein Verfahren, mit dem seelische Vorgänge, die sonst kaum zugänglich sind, untersucht werden können. Auf dieser Untersuchung baut die Behandlung neurotischer Störungen auf, die darin besteht, dass verdrängte Persönlichkeitsanteile wieder ins Bewusstsein gebracht werden.
Verdrängung beschreibt in diesem Zusammenhang das Auslagern von übermächtigen Triebregungen aus dem Bewusstsein hinaus und hinein ins Unbewusste.
Der Psychoanalytiker führt die Symptome des Patienten auf eben diese unterdrückten Triebregungen zurück und zeigt ihm deren Motivierung auf. Den Weg ins Unbewusste des Patienten beschreitet Freud in seiner Zusammenarbeit mit Breuer über die hypnotische Befragung, gibt diese jedoch bald zugunsten der Analyse von Träumen auf. Die Traumdeutung entwickelt sich für ihn zu einem unverzichtbaren analytischen Verfahren.[18]
Es wird als eine wesentliche Erkenntnisleistung Freuds angesehen, der Emotion (Gefühlsregungen) und der Affektivität, d.h. der auf diese erfolgenden Reaktion, bei der Behandlung von Neurosen eine zentrale Bedeutung beigemessen zu haben.[19]
4.2 Ich, Es und Über-Ich
Freud erklärt Persönlichkeitsunterschiede durch individuelle Unterschiede im Umgang mit den drei Instanzen Ich, Es, Über-Ich und mit den eigenen Triebregungen, der Libido. Alle Gedächtnisinhalte, Triebansprüche und Emotionen können drei verschiedene Bewusstseinsformen annehmen: bewusst, vorbewusst und unbewusst. Als bewusst werden diejenigen Inhalte bezeichnet, zu denen das Ich unmittelbar Zugang hat; vorbewusst sind Inhalte, die als prinzipiell bewusstseinsfähig eingestuft werden. Der größte Teil der Gedächtnisinhalte und Triebansprüche wird jedoch als unbewusst, und damit dem Ich als nicht unmittelbar zugänglich, eingestuft.
Die Struktur von Ich, Es und Über-Ich sieht folgendermaßen aus: Das Es ist die Instanz, die auf direkte Bedürfnis- und Triebbefriedigung abzielt und dem Lustprinzip folgt.
Somit ist es als Sitz der primären Triebe anzusehen, zu denen der Sexual- oder Lebenstrieb und der Todes- oder Aggressionstrieb zählen. Der Lebenstrieb dient über die Herstellung größerer Einheiten der Erhaltung der Art und stellt somit das Individuum in den Hintergrund.
Der Todestrieb dient der Auflösung von Zusammenhängen zur Erhaltung des Individuums und stellt somit die Gemeinschaft in den Hintergrund. Diese Triebansprüche werden als dynamisch unbewusst bezeichnet.
Das Über-Ich ist die moralische Instanz, in der Gebote, Verbote und Tabus wirksam werden, die durch die Religion, die Eltern und die Gesellschaft geprägt und im Laufe der Erziehung übernommen werden. Das Ich funktioniert als Kontrollinstanz und folgt dem Realitätsprinzip, nach dem nur diejenigen Handlungen zugelassen werden, die unter Berücksichtigung gesellschaftlicher Normen als ausführbar eingestuft werden.
Ich, Es und Über-Ich bestimmen gemeinsam, welche Handlungen ausgeführt werden und die Ich-Instanz fungiert in diesem Gefüge als Kontroll- und Vermittlerinstanz zwischen den triebhaften Forderungen des Es und den normativen Forderungen des Über-Ich.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie das Ich durch Zensur und mit Hilfe von bestimmten Abwehrmechanismen das Es an der Befriedigung der vom Über-Ich als nicht akzeptabel eingestuften triebhaften Wünsche hindert: Der wichtigste Abwehrmechanismus ist die Verdrängung, bei der starke libidinöse Impulse, deren Befriedigung vom Über-Ich nicht zugelassen werden kann, abgewehrt werden, indem der aktuelle Konflikt zwischen den drei Instanzen aus dem Bewusstsein verdrängt und die libidinöse Energie in unbewusster Form gehalten wird. Dies funktioniert, solange die Abwehr des Ich aufrecht erhalten wird.
Einige weitere Mechanismen, die der Vollständigkeit halber zu erwähnen sind, sind die Projektion (Übertragung von Wünschen auf andere Personen), Regression (Aufgeben der Wünsche), Sublimierung (Suche nach Ersatzbefriedigung für Wünsche), Verschiebung (Verschiebung
von Affekten) und Konversion (Übertragung von Angstinhalten in das Körperliche).[20]
4.3 Neurosen
Unterschiedliche neurotische Symptome entstehen dadurch, dass die verdrängte Libido gegen das Ich andrängt und die Kontrolle des Verhaltens anstrebt. Dadurch, dass der verdrängte libidinöse Inhalt durch die Kontrollfunktion des Ich daran gehindert wird, bewusst zu werden, wird die Neurose aufrechterhalten. Die Überwindung der Neurose erfordert die Bewusstmachung des zur Verdrängung führenden Ereignisses. Den Widerstand des Ich, gegen die Bewusstwerdung des Konflikts versuchte Freud anfangs in Zusammenarbeit mit Breuer über Hypnose aufzulösen. Er gab dies jedoch bald zugunsten der Traumanalyse und der Methode des freien Assoziierens auf. Freud lokalisiert die Ursache der Neurose in frühkindlichen Erfahrungen, weshalb diesen in der Psychoanalyse eine starke Bedeutung zugemessen wird. Der Patient überträgt während der Behandlung sein neurotisches Verhalten unbewusst auf den Therapeuten, der dies interpretiert, das zugrunde liegende frühkindliche Trauma offen legt und dem Patienten bewusst macht, so dass dieser Heilung erfahren kann.
Freud misst der Sexualität in der Entstehung von Neurosen eine geradezu dominante Rolle bei:
So gelangte ich [Freud J. K.], von der Breuerschen Methode ausgehend, dazu, mich mit der Ätiologie und dem Mechanismus der Neurosen überhaupt zu beschäftigen. Ich hatte dann das Glück, in verhältnismäßig kurzer Zeit bei brauchbaren Ergebnissen anzukommen. Es drängte sich mir zunächst die Erkenntnis auf, da[ss], insofern man von einer Verursachung sprechen könne, durch welche Neurosen erworben würden, die Ätiologie in sexuellen Momenten zu suchen sei. Daran reihte sich der Befund, da[ss] verschiedene sexuelle Momente, ganz allgemein genommen, auch verschiedene Bilder von neurotischen Krankheiten erzeugen […].[21]
4.3.1 Die Angstneurose
Angstneurosen können ansatzweise oder auch vollständig ausgebildet vorkommen und treten sowohl isoliert als auch in Verbindung mit anderen Neurosen auf. Freud spricht in diesem Zusammenhang von einer „gemischten Neurose“ und einem „Symptomgeflecht“[22].
Zu den Symptomen der Angstneurose zählt Freud vor allem eine gesteigerte allgemeine Reizbarkeit, die in einer Anhäufung von Erregung, bzw. in der Unfähigkeit eine solche Anhäufung zu ertragen, begründet ist. Damit einhergehend beschreibt er eine Überempfindlichkeit gegen Geräusche, die gleichsam die Ursache für Schlaflosigkeit, eine häufige Begleiterscheinung von Angstneurosen, darstellt.
Des Weiteren ist ein Zustand der ängstlichen Erwartung ein charakteristisches Merkmal der Angstneurose und kann hierbei sowohl als Hypochondrie als auch als Gewissensangst zu Tage treten. Freud beschreibt den Zustand der ängstlichen Erwartung folgendermaßen:
Man kann etwa sagen, da[ss] hier ein Quantum Angst frei flottierend vorhanden ist, welches bei der Erwartung die Auswahl der Vorstellungen beherrscht und jederzeit bereit ist, sich mit irgendeinem passenden Vorstellungsinhalt zu verbinden.[23]
Ein weiteres Symptom sind so genannte Angstanfälle, die plötzlich auftreten können. Diese können als losgelöstes Angstgefühl, in Verbindung mit der Vorstellung von Lebensvernichtung oder drohenden Wahnsinns oder auch verbunden mit Störungen von Körperfunktionen, wie Atmung, oder auch Herztätigkeit auftreten.
Besonders hervorzuheben ist das Symptom des Schwindels, „der mit oder ohne Angst zu den folgenschwersten Symptomen der Neurose gehört“ und „auch durch einen Anfall von tiefer Ohnmacht vertreten werden kann“[24].
Freud beschreibt außerdem zwei Gruppen von Phobien, die sich aus den genannten Symptomen entwickeln können: Die erste Gruppe umfasst unter anderem die Angst vor Schlangen, Gewitter, Dunkelheit und Ungeziefer und die zweite Gruppe umfasst Phobien, die auf die Lokomotion bezogen sind. Zu diesen zählen beispielsweise die Agoraphobie und ihre Nebenarten.
Die Ursachen für die beschriebenen Angstneurosen sind Freuds Auffassung nach sexueller Natur:
Wo man aber Grund hat, die Neurose für eine erworbene zu halten, da findet man bei sorgfältigem, dahin zielenden Examen als ätiologisch wirksame Momente eine Reihe von Schädlichkeiten und Einflüssen aus dem Sexualleben.[25]
4.4 Sigmund Freud und die Dichter
Die Beziehungen zwischen den Freudschen Theorien der Psychoanalyse und der Literaturwissenschaft sind mannigfaltig und „so alt wie die Psychoanalyse selbst“[26]. In den Jahren seiner Selbstanalyse beginnt Freud mit der Analyse von dichterischen Werken, denn in ihnen fand er die Richtigkeit seiner Entdeckungen bestätigt; sie bestätigten ihm
vor allem aber auch seine These, da[ss] die psychoanalytischen Befunde Gültigkeit für jedermann haben, allgemein menschlich und nicht nur individuell pathologisch sind[27].
Freud zog aus den gelesenen Schriften jedoch auch Erkenntnisse und psychologisches Wissen, da er der Meinung war, dass „die Dichter den Alltagsmenschen in der Seelenkunde weit voraus seien“[28]
Auch Arthur Schnitzler schreibt Freud ein tiefes psychologisches Verständnis zu, welches in seinen Erzählungen zum Ausdruck komme.[29]
Ein eher ambivalentes Verhältnis verband Freud und Stefan Zweig, denn obwohl die Korrespondenz zwischen ihnen mit zu den „umfangreichsten zählt, die Freud geführt hat“[30] und beide ein wechselseitiger Austausch von Publikationen verband, war das Verhältnis von Seiten Freuds geprägt durch Distanziertheit.[31] Cremerius führt diesen Umstand darauf zurück, dass Zweig noch zu Lebzeiten Freuds, gegen dessen ausdrücklichen Wunsch, eine Biographie über Freud verfasst hatte, innerhalb derer Zweig, Freuds Meinung nach, sowohl ein falsches Bild von Freud als auch von der psychoanalytischen Lehre gezeichnet habe.[32]
Cremerius sieht den Grund hierfür in „abgewehrten feindseligen Gefühle[n]“ Freud gegenüber, die „sich bahnbrechen und offenkundig werden“.[33] Diese Gefühle Zweigs kommen zum Vorschein
in einer die Psychoanalyse mi[ss]verstehenden, oberflächlichen, ungenügenden und z. T. falschen Wiedergabe und Verarbeitung, nachweisbar in Zweigs theoretischen Aufsätzen, seiner Freud-Biographie und in biographischen Romanen.[34]
„Bald begannen auch die Schriftsteller sich für die psychoanalytische Forschung zu interessieren“ und Cremerius weist daraufhin, dass fast alle Freuds Werke in unterschiedlicher Intensität rezipierten.[35] Der Einfluss von Freuds Theorien auf die Literatur dieser Zeit war immens, prägten sie doch eine ganze Epoche und damit auch die literarischen Werke, die in dieser Zeit entstanden.
5. Grundängste und literarische Beispiele
Es gibt verschieden Arten von Neurosen, denen unterschiedliche Ängste die Grundlage bieten und die durch frühkindliche Entwicklungsstörungen ausgelöst werden können: Hierzu zählen die schizoide, die depressive, die zwanghafte und die hysterische Persönlichkeitsstörung. Diese Persönlichkeitsstrukturen sind anteilweise in jedem Menschen zu finden und erst wenn sich eine zunehmend einseitige Akzentuierung ausprägt, kann von einem gestörten Persönlichkeitsbild gesprochen werden. Die einzelnen Persönlichkeitsstörungen werden im Folgenden erläutert und anhand einiger literarischer Beispiele aus Novellen der frühen Moderne bearbeitet.
5.1 Die Angst vor Selbsthingabe und Ich-Verlust
Schizoide Persönlichkeiten haben Angst davor sich hinzugeben, fürchten mitmenschliche Nähe und leben somit den Impuls zur Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung übermäßig aus.
Ein Mensch, dem eine solche Persönlichkeitsstruktur zu eigen ist, ist infolgedessen bemüht, möglichst unabhängig von seinem Umfeld zu leben und distanziert sich von seinen Mitmenschen. „Auf die Umwelt wirken solche Menschen fern, kühl, distanziert, schwer ansprechbar, unpersönlich bis kalt.“[36] Ihre Reaktionen auf menschliche Nähe erscheinen Mitmenschen oft unverständlich, schroff und abweisend. Durch die Isolation von seiner Umwelt ist der schizoide Mensch immer weniger zu normalem mitmenschlichen Umgang in der Lage, da ihm die Orientierungsmöglichkeit fehlt, die ein normaler Umgang mit anderen Menschen bietet. Daraus folgt eine Konzentration auf „die Sinnesorgane, den erkennenden Intellekt, das Bewu[ss]tsein, die Ratio“[37], um die Orientierungslosigkeit im menschlichen Miteinander auszugleichen, was zugleich jedoch wiederum eine Verkümmerung der emotionalen und sozialen Kompetenz unterstützt.
Als Ursachen für eine solche Persönlichkeitsentwicklung sieht Fritz Riemann:
eine zartsensible Anlage, eine große seelische Empfindsamkeit, Labilität und Verwundbarkeit. Als Selbstschutz legt man eine Distanz zwischen sich und die Umwelt, weil man zu große physische und psychische Nähe wegen der radarähnlich fein reagierenden Sensibilität und gleichsam Durchlässigkeit als zu »laut« empfindet […]; er [der schizoide Mensch J. K.] ist von der Anlage her gleichsam ein zu offenes System, zu »hautlos«, mu[ss] sich daher abgrenzen und teilweise verschließen, um nicht von der Fülle aller aufgenommenen Reize überschwemmt zu werden.[38]
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei der schizoiden Persönlichkeit die Abspaltung der Gefühlsebene von der rationalen Ebene einen stark unterschiedlichen Reifegrad, mit Betonung der Rationalität, bedingt.
Die fehlende emotionale Orientierungsmöglichkeit bewirkt das Fehlen von ‚emotionalen Mitteltönen’, dies bedeutet, dass schizoide Persönlichkeiten ihre Emotionen nur in Extremen ausdrücken können.
Diese fehlende soziale Kompetenz, die durch das Fehlen gesunder Sozialkontakte in der Kindheit ausgelöst wurde, bewirkt wiederum ein Zurückziehen aus der Gesellschaft und die zunehmende soziale Isolation verstärkt zusätzlich die bereits vorhandene emotionale Orientierungslosigkeit im Umgang mit anderen Menschen.
Aufgrund dieser sozialen Isolation hat der schizoide Mensch keine Möglichkeit anderen seine Ängste mitteilen zu können und dieser fehlende Austausch macht die Auseinandersetzung und Bewältigung der bereits übersteigerten Ängste nahezu unmöglich. Durch die daraus resultierende Anhäufung von Ängsten, kann es im Extremfall zur Ausbildung von Psychosen kommen, bei denen der schizoide Mensch seine inneren Ängste, die er nicht bewältigen kann, auf Objekte der Außenwelt projiziert und diese somit einfacher bekämpfen, beseitigen oder auch einfach nur vermeiden kann. Dies kann in einem kompletten Weltverlust münden, denn durch das Vermeiden der Welt, die um ihn herum existiert, verliert diese irgendwann so weit an Bedeutung, dass sie eigentlich aufhört zu existieren: Der schizoide Mensch wird zum Mittelpunkt eines Universums, das nur aus ihm selbst besteht.
Ebenso kann es durch die beschriebene Selbstbewahrung und Ich-Bezogenheit dazu kommen, dass die schizoide Persönlichkeit alles von der Außenwelt Wahrnehmbare auf ihre eigene Person bezieht. Für sie gibt es somit keinerlei Zufälligkeit mehr, alles geschieht mit geheimem Bezug und hat somit eine Bedeutung für ihre eigene Person, die ergründet werden muss.
5.1.1 A. Schnitzler: Flucht in die Finsternis
Im Zentrum von Arthur Schnitzlers 1931 erschienener Erzählung Flucht in die Finsternis steht der zunehmende Realitätsverlust des Protagonisten Robert. Zu Beginn der Erzählung kehrt der 43-jährige Sektionsrat Robert in der Hoffnung „vollkommene[r] Genesung […] von einer sechsmonatigen zerstreuenden Reise“[39] nach Wien zurück. Robert sah sich zu dieser Reise genötigt, da
er sich im letzten Frühling gezwungen sah, jeder Beschäftigung zu entsagen, weil sein Gedächtnis versagte […], ihn die gleichgültigsten Orte ärgerlich oder gar schmerzlich berührten, als er sogar sein geliebtes Klavierspiel aufgeben mu[ss]te, weil es ihn selbst manchmal zu Tränen rühren konnte, deren er sich dann schämte.[40]
Eine Vorausdeutung auf Roberts künftiges Schicksal findet sich bereits zu Beginn der Erzählung, als er sich an einen früheren Bekannten erinnert, der „unheilbarem Wahnsinn verfallen“[41] gewesen sei. Hier zeichnet sich bereits das Ende von Roberts eigener Entwicklung ab, der am Schluss der Erzählung, seinem Wahn verfallen, seinen Bruder Otto und sich selbst töten wird.
Robert hatte im Erleben der fortschreitenden Geisteskrankheit des einstigen Bekannten die Forderung an seinen Bruder Otto gestellt,
dieser möge, wenn er irgendeinmal, sei es morgen oder in ferner Zukunft, die Vorzeichen einer Geisteskrankheit an ihm [Robert J. K.] entdecke, ihn ohne weiteres auf rasche und schmerzlose Weise, wie sie dem Arzte ja immer zu Gebote stünde, vom Leben zum Tode befördern.[42]
Dieses einmal vom Bruder erbetene Versprechen ist es jedoch, das in Robert zunehmend den Wahn hervorbringt, sein Bruder könnte ihn fälschlicherweise für verrückt halten und ihn daraufhin töten:
Aber kam es nicht auch vor, da[ss] Ärzte sich täuschen? Können sie nicht selbst irrsinnig werden und einen geistig Gesunden für geisteskrank halten? Und ist auf solche Art nicht einer dem andern rettungslos ausgeliefert – der Kranke dem Gesunden, wie der Gesunde dem Kranken?[43]
Durch die innerhalb des Textes dominierende erlebte Rede und der damit verbundenen Innensicht Roberts, ist es möglich, seinen fortschreitenden geistigen Verfall nachzuvollziehen und innerhalb desselben zwei aufeinander folgende Phasen voneinander abzugrenzen.
Während der ersten Phase ist Roberts Denken geprägt von seiner Angst, verrückt zu werden. In dieser Phase nimmt er seinem Bruder Otto das Versprechen ab, ihn zu töten, falls sich diese Befürchtung jemals bewahrheiten würde.
In der zweiten Phase hat sich Roberts Angst dahingehend gewandelt, dass er fürchtet, fälschlicherweise von seiner Umwelt als verrückt angesehen zu werden. Im Zentrum dieser Angst steht das dem Bruder abgenommene Versprechen, welches sich langsam zum Mittelpunkt seiner Überlegungen entwickelt:
Plötzlich fühlte er eine würgende Angst in sich aufsteigen […]. Er war nicht wahnsinnig; er war gesund. Aber was half ihm das, wenn ihn andere für wahnsinnig hielten? Was half es ihm, wenn am Ende der eigene Bruder ihn für wahnsinnig hielt?[44]
Robert zeigt zunehmend schizoide Verhaltensweisen: Aufgrund seiner Gedächtnislücken entwickelt er die Vorstellung, er könne im Dämmerzustand Morde verübt haben und würde nun von seiner Umwelt dahingehend beobachtet:
Und plötzlich, mit einer bohrenden Angst, fragte er sich, ob das Gespräch mit Alberta […] nicht etwa noch eine Fortsetzung ganz anderer Art gefunden hatte, die ihm aus dem Gedächtnis entschwunden; ob er nicht wirklich zu einem Schlage gegen sie ausgeholt – ob er sie nicht gar erwürgt und nachher unter verwittertem Laub versteckt und eingescharrt hatte?[45]
Eine ähnliche Überlegung taucht wenige Seiten später noch einmal auf, als sich Robert nach einem Stelldichein von seiner Geliebten verabschiedet: „Die habe ich doch ganz bestimmt nicht umgebracht, sagte er dann zu sich, und unwillkürlich sah er ringsum, ob irgendwer in der Nähe wäre“[46]. Später „drängte sich ihm die Vermutung immer gebieterischer auf, da[ss] Alberta von seiner Hand den Tod gefunden“ und dass sie „vielleicht nicht die einzige gewesen [war], die dieses Schicksal erlitten hatte“.[47]
Roberts Frau Brigitte war bereits vor zehn Jahren nach dreijähriger Ehe plötzlich verstorben und er überlegt nun in seinem zunehmend problematischen Geisteszustand, ob er sie eventuell auch getötet haben könnte:
aber da es sich nun einmal heraus gestellt hatte, da[ss] sein Dasein eine ganze Zahl solcher völlig ins Dunkel der Vergessenheit gerückter Stunden in sich fa[ss]te, warum sollte er den Mord an Brigitten nicht ebenso verübt haben wie den an Alberta? – Den an Alberta -? Was hatte denn Alberta damit zu tun?[48]
Robert zeigt zunehmend Anzeichen eines Verfolgungswahnes und meint an seiner Umwelt ein „wachsende[s] Mi[ss]trauen“[49] ihm gegenüber festzustellen und sieht als Begründung hierfür einen sich entwickelnden Wahnsinn bei seinem Bruder Otto:
Ob es sich nicht so verhielt, da[ss] Otto, der in seiner eigenen Seele die ersten Anzeichen einer Verstörung zu erkennen glaubte und davor zurückscheute, das Unheil in satanischer Weise von sich abzuwenden versuchte, indem er es in eine andere, seiner Ansicht nach längst dafür vorbestimmten Seele, in die des eigenen Bruders hinüberdeutete? Wie oft schon hatte man gehört und gelesen, da[ss] ein Wahnsinniger die gesunden in seiner Umgebung für wahnsinnig hielt, da[ss] ein geistig völlig normaler Mensch fälschlich als irrsinnig erklärt und ins Narrenhaus gesperrt wurde?[50]
Die Vorstellung Roberts, dass Otto ihn umbringen wolle, steigert sich, bis Robert gegen Ende der Erzählung fluchtartig Wien verlässt, um einem angeblich geplanten Mord durch seinen Bruder zu entgehen. Als der ihm nachgereiste Otto vor seiner Tür steht, erschießt Robert ihn, flieht Hals über Kopf und wird drei Tage später selbst tot aufgefunden.
Ursache für die Entwicklung der Geisteskrankheit des Protagonisten ist die schizoide Persönlichkeitsstruktur Roberts.
Innerhalb der Novelle finden sich vermehrt Hinweise für eine völlige Ich-Bezogenheit des Hauptcharakters. „Beschäftigen Sie sich nicht ein bi[ss]chen zu viel mit sich selbst?“[51], lautet die treffende Einschätzung, die Robert durch eine andere Figur erfährt. Hiermit ist seine Grundproblematik bereits auf den Punkt gebracht: Die Erforschung des eigenen Ichs steht für Robert im Mittelpunkt seines Interesses. Durch diese Ich-Fixierung erkennt Robert die Widersprüchlichkeit und Komplexität seines Wesens, die ihn verstört und mit der er nicht umgehen kann. Er ist nicht in der Lage, die unterschiedlichen Anteile seiner Persönlichkeit zu einem gesunden Konstrukt zu verschmelzen. Die völlige Fixierung auf das eigene Ich, die in einer tiefen Angst vor Selbsthingabe verwurzelt ist, bewirkt Roberts endgültigen Identitätsverlust.
Eine gesunde Persönlichkeit benötigt gerade die Interaktion mit anderen Menschen, da mit dieser erst eine eigene Identität entwickelt werden kann.
Nur über das Erleben von Gemeinsamkeiten und Differenzen, kann ein Mensch das ihm Eigene erkennen und seine Identität finden. In seiner Furcht vor Ich-Verlust hat sich Robert dem beraubt, was überhaupt erst die Voraussetzung für eine gesunde Ich-Werdung geschaffen hätte.
Die Angst vor Selbsthingabe kann Robert nicht überwinden, weil ihm durch das Fehlen echter sozialer Bindungen der Zugang zu seinen grundlegenden Ängsten verwehrt bleibt.
Besonders seine Beziehungen zu Frauen machen die Oberflächlichkeit seiner Sozialkontakte deutlich: Die Ehe mit seiner ersten Frau Brigitte hatte er als Belastung empfunden[52], seine ehemalige Geliebte Alberta hatte er ohne lange zu überlegen freigegeben, damit sie einen anderen Mann heiraten konnte[53] und auch seine spätere Verlobte Paula bedeutet Robert nichts.[54]
Allerdings fragt sich Robert stellenweise, ob seine Hoffnung nicht vielleicht gerade in einer gesunden, aufrichtigen und intimen Beziehung zu einem anderen Menschen bestanden hätte:
Wenn ich ihr früher begegnet wäre, hätte es mir geholfen? Wäre ich ein anderer geworden, ein Gesünderer, ein Besserer als ich heute bin? War mir mein Dasein von Beginn an vorgezeichnet? Oder hab’ ich irgendeinmal die Wahl gehabt – die Wahl zwischen Schwäche und Stärke, zwischen Gesundheit und Kranksein, zwischen Klarheit und Verwirrung?[55]
Am Ende der Novelle ist es Robert jedoch nicht gelungen, sich seiner unbewussten Angst vor Selbsthingabe bewusst zu werden und diese zu überwinden.
Da eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung nicht vollzogen werden konnte, bleibt der Figur nur die Auflösung der Situation durch Selbsttötung.
5.1.2 S. Zweig: Buchmendel
Die Novelle Buchmendel von Stefan Zweig handelt von dem jüdischen Buchhändler Jakob Mendel.
Zu Beginn der Novelle betritt der namenlose Ich-Erzähler ein Wiener Kaffeehaus und erinnert sich nach einiger Zeit daran, dass er dort zwanzig Jahre zuvor den „bucklige[n] galizische[n] Jude[n] Jakob Mendel“[56] kennen gelernt hatte. Er war damals von einem Kollegen an der Universität in das Café Gluck mitgenommen worden, um dort von Jakob Mendel, dem „Magier und Makler der Bücher“[57], Hilfe bei einer Literaturrecherche zu bekommen. Die Figur des Jakob Mendel zeigt in ihrer Angst vor mitmenschlicher Nähe, und der damit verbundenen Selbsthingabe, deutlich schizoide Züge.
Der Ich-Erzähler erinnert sich daran, wie Mendel mehr als dreißig Jahre seines Lebens jeden Tag am selben Tisch im Café Gluck gesessen und „sich schwingend“[58] gelesen hatte, während er die Welt um sich herum völlig vergaß.
Auf Nachfrage „zählte er [Jakob Mendel] sofort, wie aus einem unsichtbaren Katalog lesend, zwei oder drei Dutzend Bücher fließend auf, jedes mit Verlagsort, Jahreszahl und ungefährem Preis“[59] und war wegen seines einzigartigen Gedächtnisses „hoch angesehen im Café Gluck“[60].
Mehr als dreißig Jahre seines Lebens sitzt Mendel jeden Tag am selben Tisch in dem Wiener Kaffeehaus.[61]
In dieser Zeit baut er von seiner Seite her jedoch keinesfalls eine Beziehung zum Personal des Kaffeehauses oder dessen Gäste auf, denn: „jeden Morgen kam der Herr Standhartner, der Besitzer, in persona an seinen Tisch und begrüßte ihn (freilich meist, ohne da[ss] Jakob Mendel […] diesen Gruß bemerkte)“ und zu „den anderen Gästen sprach er [Jakob Mendel J. K.] nie“[62].
Die deutliche Ich-Abgrenzung und Isolation zeigt sich besonders in folgender Passage:
als der Herr Standhartner ihn einmal höflich fragte, ob er [Jakob Mendel J. K.] bei dem elektrischen Licht nicht besser lese als früher bei dem fahlen, zuckenden Schein der Auerlampen, starrte er verwundert zu den Glühbirnen auf: diese Veränderung war trotz dem Lärm und Gehämmer einer mehrtägigen Installation vollkommen an ihm vorbeigegangen.[63]
Jakob Mendel befindet sich zwar in einem Kaffeehaus, ist sich seiner Umgebung jedoch nicht bewusst. Eine solch gravierende Wandlung, wie die Umstellung auf elektrisches Licht, geht unbemerkt an ihm vorbei, auch der damit verbundene Baulärm dringt nicht zu ihm vor.
Es scheint, als wäre Jakob Mendel ein in sich geschlossenes System, das nur begrenzt in Kontakt zu seiner Umwelt tritt:
Er rauchte nicht, er spielte nicht, ja man darf sagen, er lebte nicht, nur die beiden Augen lebten hinter der Brille und fütterten jenes rätselhafte Wesen Gehirn unablässig mit Worten, Titeln und Namen.[64]
Die fehlende Teilnahme am Leben und das Fehlen sozialer Kontakte erschwert Mendel den Umgang mit seinen Mitmenschen.
[...]
[1] Johannes Cremerius: Freud und die Dichter. Gießen 2003, S. 83.
[2] Obwohl sich bereits zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten mit der Novelle als Teil der literarischen Textlandschaft beschäftigt haben, herrscht Dissens darüber, was sie als literarische Gattung ausmacht und definiert, sowie darüber, ob es die Gattung Novelle überhaupt gibt oder, ob es sich hierbei nur um eine literarische Form handelt. Vgl. Hugo Aust: Novelle. Stuttgart 2006, S. 1.
[3] Aust weist daraufhin, dass in der jüngeren Forschungsliteratur „[…] immer wieder betont [wird], da[ss] die vermeintlichen Novellenmerkmale weder einzeln noch zusammen eine brauchbare Novellendefinition begründen könnten […]“. Dies läge einerseits daran, dass diese Begrifflichkeiten zu weit gefasst wären und aufgrund dessen die Novelle nicht spezifisch gegen andere Gattungen abgrenzen könnten oder andererseits daran, dass die Begriffe zu eng gefasst würden, um der Vielschichtigkeit der Novellenliteratur gerecht werden zu können. Aust macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass es nicht die Merkmale an sich sind, die Anspruch auf Gültigkeit erheben, sondern, dass es diejenigen sind, die „sie bloß bei der Entscheidung […] verwenden, ob eine Erzählung eine Novelle ist oder nicht […]“. Vgl. Aust: Novelle, S. 7.
[4] Winfried Freund: Novelle. Stuttgart 1998, S. 58-59.
[5] Freund: Novelle, S. 59.
[6] Ders., S. 36.
[7] Ders., S. 36.
[9] Gunther Wenz: Der Begriff Angst (1844) von Vigilius Haufniensis. Eine Erinnerung an Sören Kierkegaard (1813-1855). In: Psychotherapie und Seelenheil. Perspektiven aus Religion, Kunst und Wissenschaft. Festschrift zum 60. Geburtstag von Dr. Bernd Deininger. Hg. von Gunther Wenz und Thomas Bretting. München 2006, S. 47-63, S.48.
[10] Hans-Peter Frey / Karl Hausser (Hg): Identität. Stuttgart 1987, S. 6.
[11] Hermann Korte: Soziologie. Konstanz 2004, S. 126.
[12] Siehe Kapitel 5.4.1.
[13] Gerhard Wehr: Die großen Psychoanalytiker. Profile – Idee – Schicksale. Düsseldorf 2003, S. 19.
[14] Wehr: Die großen Psychoanalytiker, S. 21.
[15] Vgl. ders., S. 24-27.
[16] Vgl. ders., S. 32.
[17] Anthony Stephens weist daraufhin, dass man auch „am Ende des 20. Jahrhunderts ein Weiterleben der Freudschen Tradition im weitesten Sinne konstatieren [darf], wenn auch im Bereich der klinischen Psychotherapie Freuds messianische Hoffnungen und die Ansprüche auf Alleingültigkeit seiner Lehre keinesfalls in Erfüllung gegangen sind“. Vgl. Anthony Stephens: Die Erfindung und Mutation psychischer Machtsysteme. Freud, Lacan, Bronfen. In: Die Macht und das Imaginäre. Hg. von Rudolf Behrens und Jörn Steigerwald. Würzburg 2005, S. 15-30, S. 16.
[18] Vgl. Wehr: Die großen Psychoanalytiker, S. 39.
[19] Ders., S. 43.
[20] Vgl. Humberto Nagera: Psychoanalytische Grundbegriffe. Eine Einführung in Sigmund Freuds Terminologie und Theoriebildung. Frankfurt am Main 1987, S. 408-511.
[21] Sigmund Freud: Das Vokabular der Psychoanalyse. Hg. von J. Laplanche und J. G. Pantalis. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1972, S. 411-412., S. 411
[22] Freud: Hysterie und Angst, Studienausgabe. Band 6. Frankfurt a. M. 2000.S. 28.
[23] Ders., S. 30.
[24] Ders., S. 32.
[25] Ders., S. 35.
[26] Cremerius: Freud und die Dichter, S. 15.
[27] Ders., S. 16.
[28] Ders., S. 17.
[29] Ders., S. 17.
[30] Ders., S. 23.
[31] Vgl. Ders., S. 23-30.
[32] Vgl. Ders., S. 31-37.
[33] Ders., S. 42.
[34] Ders., S. 42.
[35] Ders., S. 18.
[36] Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. München 1998, S. 21.
[37] Riemann: Grundformen der Angst, S. 23.
[38] Ders., S. 34.
[39] Schnitzler: Flucht in die Finsternis. In: Gesammelte Werke in drei Bänden, S. 791-889, S. 795.
[40] Schnitzler: Flucht in die Finsternis, S. 800.
[41] Ders., S. 799.
[42] Ders., S. 799-800.
[43] Ders., 847.
[44] Ders., S. 847.
[45] Ders., S. 811-812.
[46] Ders., S. 817.
[47] Ders., S. 818-819.
[48] Ders., S. 820.
[49] Ders., S. 850.
[50] Ders., S. 850-851.
[51] Ders., S. 825.
[52] Vgl. ders., S. 819: „Die Ehe hatte innerhalb ihrer ganzen dreijährigen Dauer durchaus als glücklich gegolten […]. Nur er selbst wu[ss]te, wie schwer er von allem Anbeginn grade unter der Sanftmut und Gutherzigkeit seiner Frau gelitten hatte.“
[53] Vgl. ders., S. 811: „So hatten sie sich am Ende dahin geeinigt, da[ss] sie noch heute Abend dem Amerikaner ihr Jawort erteilen […] solle. Robert erinnerte sich auch sehr deutlich, wie er […] in einem nicht eben unangenehmen Gefühl der Befreitheit mit einem letzten kaum wehmütigen Blick […] die Bergstraße an den See hinuntergefahren war.“
[54] Vgl. ders., S. 856: „Aber keinerlei Sehnsucht wurde wach in ihm, weder nach jener längst Dahingeschwundenen [Brigitte J. K.] noch nach der gegenwärtig Geliebten [Paula J. K.]
[55] Ders., S. 825.
[56] Stefan Zweig: Buchmendel. In: Novellen der Leidenschaft. Frankfurt am Main 1966, S. 204-233, S. 7.
[57] Zweig: Buchmendel, S. 207.
[58] Ders., S. 207.
[59] Ders., S. 210.
[60] Ders., S. 216.
[61] Vgl. ders., S. 230: „der über dreißig Jahre wo gsessen ist Tag für Tag.“
[62] Ders., S. 217.
[63] Ders., S. 217.
[64] Ders., S. 214.
- Arbeit zitieren
- Janina Kieckbusch (Autor:in), 2010, Angstwahrnehmung und Angstbewältigung in Novellen der frühen Moderne, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176533
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