Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
I. EINLEITUNG
1. Hermeneutisches Vorverständnis
2. Exegese der Themenstellung und Methodik
II. HAUPTTEIL
1. Das Seelsorge-Handbuch von Engemann
1.1 Engemanns Biographie
1.2 Die seelsorgerliche Praxis
1.2.1 Das Verständnis von Praktischer Theologie und der Aufbau des Handbuches
1.2.2 Die Problemstellung in der Seelsorge
1.2.3 Das Ziel der Seelsorge
1.2.4 Die Mittel des Seelsorgenden
1.3 Die Gottesvorstellung und ihre Rolle für die seelsorgerliche Praxis
1.3.1 Die Prolegomena
1.3.2 Von Gott
1.3.3 Vom Mensch
1.3.4 Vom Heil zwischen Gott und Mensch
2. Das Seelsorge-Handbuch von Klessmann
2.1 Klessmanns Biographie
2.2 Die seelsorgerliche Praxis
2.2.1 Das Verständnis von Praktischer Theologie und der Aufbau des Handbuches
2.2.2 Die Problemstellung in der Seelsorge
2.2.3 Das Ziel der Seelsorge
2.2.4 Die Mittel des Seelsorgenden
2.3 Die Gottesvorstellung und ihre Rolle für die seelsorgerliche Praxis
2.3.1 Die Prolegomena
2.3.2 Von Gott
2.3.3 Vom Mensch
2.3.4 Vom Heil zwischen Gott und Mensch
3. Der Vergleich hinsichtlich der Rolle der Gottesvorstellung
3.1 Die Prolegomena und ihre Rolle für die Poimenik
3.2 Von Gott und seine Rolle für die Poimenik
3.3 Vom Mensch und seine Rolle für die Poimenik
3.4 Vom Heil zwischen Gott und Mensch und seine Rolle für die Poimenik
III. SCHLUSS
1. Kritische Anfragen an die Seelsorgelehren der Herausgeber
2. Resümee und hermeneutische Reflexion
Literaturverzeichnis
I. EINLEITUNG
1. Hermeneutisches Vorverständnis
Das Thema dieser wissenschaftlichen Hausarbeit wurde aus dem Themenbereich "Neuere poimenische Konzeptionen im Vergleich" gestellt, welchen ich hinsichtlich eines Vikariates zur Vertiefung von anwendbaren Fachwissen gewählt hatte. Dies zeigt, dass ich bei der Wahl des Themenbereiches eher die Perspektive[1] von Praktischer Theologie als Anwendungswissenschaft eingenommen hatte. Ich möchte mich aber in dieser Arbeit - durch Engemann und Klessmann angeregt - der Perspektive der hermeneutischen Wahrnehmungswissenschaft anschließen. Aus diesem Grund werde ich im Hauptteil die Biographie von Engemann und Klessmann in den Blick nehmen, sowie im Schlussteil mein eigenes Vorverständnis[2] reflektieren:
Ich erwarte, dass ein Vergleich der beiden Handbücher überwiegend Kongruenzen statt Differenzen zu Tage fördern wird.[3] Dieses Vorverständnis leite ich aus meinen Vorkenntnissen über Engemann bzw. Klessmann ab. Beide Autoren habe ich bisher in Form der "Einführung in die Homiletik" bzw. in Form des "Lehrbuch Pastoralpsychologie" als stark von den Humanwissenschaften geprägt kennengelernt. Deshalb gehe ich auch davon aus, dass eher wenige Gottesvorstellungen zu finden sein werden.
2. Exegese der Themenstellung und Methodik
Die Themenstellung lässt Freiheit zur Auslegung: Für zwei Begriffe im Thema existiert keine Definition in der Fachliteratur[4], zwei weitere ergeben nur aus dem Kontext heraus Sinn. Deswegen werde ich die Termini der Themenstellung konkretisieren und dabei die Methodik plausibilisieren.
Der Singular "Gottesvorstellung" kann den Eindruck erwecken, dass es sich bei den Seelsorge-Handbüchern von Engemann[5] und Klessmann um Monographien handelt. Allerdings fungieren beide als Herausgeber. Dass in der Themenstellung nicht der Zusatz "(Hrsg.)" enthalten ist, lege ich so aus, dass die Theologie (Gottesvorstellung und seelsorgerliche Praxis) der Herausgeber und nicht der einzelnen Autoren in den Handbüchern verglichen werden soll. Methodisch äußert sich dies darin, dass ich die nur Theologie der beiden Herausgeber untersuchen werde, was die biographischen Einflüsse und die Analyse der Konzeption der Handbücher einschließt.[6]
Der Begriff "Gottesvorstellung" ist in der Fachliteratur nicht definiert. Ich lege diesen Sachverhalt so aus, dass die Themenstellung hier auf eine weite Auslegung abzielt, und es also nicht nur um die jeweilige Gotteslehre[7] der Herausgeber, sondern ganz allgemein um die Dogmatik[8] der Herausgeber gehen soll. Dass nicht der Begriff "Systematische Theologie" verwendet wurde, deute ich so, dass das Problem des Verhältnisses von Dogmatik und Ethik sowie von Ethik und Poimenik außen vor bleiben soll. Deshalb werde ich insbesondere das Problem des usus legis politicus im Zusammenhang mit der Zwei-ReicheLehre außen vorlassen.[9] Dass nicht der Begriff "Dogmatik" in der Themenstellung gewählt wurde, interpretiere ich so, dass zwar ein interdisziplinärer Charakter durch die Verhältnisbestimmung von Poimenik und Dogmatik gewünscht ist, der Schwerpunkt aber auf der Seelsorgelehre liegen soll. Meine methodische Konsequenz ist, dass ich Dogmatik-interne Streitfragen außen vorlasse. Stattdessen wähle ich - auch hinsichtlich des Rahmens der Kirchlichen Aufnahmeprüfung - die lutherische[10] Theologie als fixen Bezugspunkt für die Untersuchung der Gottesvorstellung. Zur besseren Übersicht werde ich die Dogmatik der Herausgeber in Anlehnung an die Systematik der Altprotestantischen Orthodoxie[11] gliedern.
Das "impliziert"[12] in der Themenstellung lässt erahnen, dass die Gottesvorstellung der Herausgeber in den Handbüchern in der Regel nicht explizit dargelegt sein wird, und - wenn überhaupt - nur indirekt aus der Seelsorgelehre extrahiert werden kann, was mein Vorverständnis bestätigt. Es werden sich im jeweiligen Handbuch Lücken bei der Gottesvorstellung finden, die sich zudem nicht decken müssen. Dies hat das Problem zur Folge, dass ein Vergleich von unterschiedlichen Entitäten schlecht möglich ist.[13] Ich werde deshalb zum Füllen dieser Lücken bei der Analyse der Gottesvorstellung auf weitere Werke der Herausgeber zurückgreifen.
Den der Fachliteratur unbekannten Terminus "seelsorgerliche Praxis" lege ich als Poimenik aus.[14] Die Elemente "Praxis" und "Seelsorge" habe ich in formal ähnlich engen Zusammenhang in der Definition der Seelsorgelehre gefunden.[15] Dass in der Themenstellung gerade nicht der Begriff "Seelsorgelehre" verwendet wurde, sehe ich als deutlichen Hinweis darauf, dass nicht der einführende Zweck[16], sondern die in den poimenischen Konzeptionen bearbeiteten Probleme fokussiert werden sollen. Deshalb - und zur besseren Übersichtlichkeit - gliedere ich die Darstellung der Seelsorgelehren in Problemstellung, Ziele und Mittel.
Das "Handbuch der Krankenhausseelsorge" von Klessmann ist der speziellen Poimenik zuzuordnen, das "Handbuch der Seelsorge" von Engemann der allgemeinen.[17] Ich vergleiche die unterschiedlichen Entitäten indem ich bei Klessmann in die allgemeine und spezielle Seelsorgelehre untergliedere, und - wo die allgemeine nicht aus dem Handbuch extrahierbar ist - auf sein "Lehrbuch der Seelsorge" zurückgreife. Beim Vergleich werde ich dann aber die spezielle Poimenik Klessmanns mit besonderem Gewicht einfließen lassen, denn die Themenstellung zielt auf das Handbuch und nicht das Lehrbuch ab.
Das Thema gebietet mit dem "hinsichtlich" eine deutliche Einschränkung: Die beiden Handbücher sollen nur hinsichtlich der Rolle[18] der Dogmatik für die Poimenik verglichen werden. Deshalb werde ich zum einen die Seelsorgelehren an sich nicht miteinander vergleichen, sondern nur im Zusammenhang der Gottesvorstellung. Zum zweiten werde ich das Verhältnis der Dogmatik zu anderen praktisch-theologischen Teilbereichen nicht bearbeiten.[19] Und zum dritten werde ich die Ekklesiologie wegen der Gefahr des Abgleitens in die Pastoralpsychologie nur am Rande erwähnen.[20] Methodisch löse ich dies so auf, dass ich jeweils für beide Herausgeber nach der Biographie zuerst die Poimenik und dann die Dogmatik inklusive der Bezüge zur Poimenik darstelle. Den Vergleich der Gottesvorstellung und deren Rolle für die Seelsorgelehre zwischen den beiden Herausgebern stelle ich separat im Anschluss als Abschluss des Hauptteils dar, auch wenn dies unvermeidbar zusätzliche Wiederholungen mit sich bringt;[21] ich verzichte dabei auf unzählige Querverweise wie z.B. "vgl. II.1.3.4", weil in meinen Augen über die einschlägigen Termini von Engemann (z.B. "werdendes Selbst") und Klessmann (z.B. Solidarität) die Verbindung zu den Darstellungen der Poimenik und Dogmatik der Herausgeber deutlich erkennbar ist.
Weil die Themenstellung keine Kritik fordert, werde ich mich diesbezüglich im Hauptteil in Zurückhaltung üben, und meine Anfragen an die Poimenik der Herausgeber erst im Schlussteil vor dem Resümee und der hermeneutischen Reflexion äußern.
Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich - angeregt von der kirchengeschichtlichen Methodik[22] und dem lutherischen "ad fontes"[23] - die Herausgeber Engemann und Klessmann selbst zu Wort kommen lassen werde, indem ich deren einschlägige Termini verwende und einige Quellenzitate kursiv gedruckt einbinde.
II. HAUPTTEIL
1. Das Seelsorge-Handbuch von Engemann
1.1 Engemanns Biographie
Engemann ist Sohn eines lutherischen Pfarrers. Als junger Erwachsener wendet er sich charismatisch-evangelikaler Frömmigkeit zu, welche er in der Retroperspektive als "Kampf gegen sich selbst wertet. Im Theologiestudium widmet er sich in einer Gegenbewegung v.a. den Humanwissenschaften und grenzt sich fortan deutlich von einer "regressiven" charismatischen Theologie als Feindbild ab - auch in seiner Poimenik.[24]
Seit 1994 ist Engemann Professor für Praktische Theologie an der Westfälischen Wilhelmsuniversitat Münster, die theologisch uniert geprägt ist.[25]
1.2 Die seelsorgerliche Praxis
1.2.1 Das Verständnis von Praktischer Theologie und der Aufbau des Handbuches
Praktische Theologie als "Wissenschaft von der Kommunikation des Evangeli- ums[26] begreift Engemann als (semiotisch-)[27] hermeneutische[28] Wahrnehmungswissenschaft, die von Erkenntnissen der Kommunikationswissen- schaft[29] geprägt ist, was sich insbesondere in den Kapiteln 1 und 2 seines Handbuches niederschlägt: Kapitel 1 beginnt mit humanwissenschaftlichen "Basiswissen"[30], welches in Kapitel 2 kommunikationstheoretisch konkretisiert wird. In Kapitel 3 des Handbuches möchte Engemann wohl die Bandbreite allgemeiner[31], und in Kapitel 4 und 5 wohl die Bandbreite spezieller[32] poimeni- scher Konzeptionen vorstellen. Das Ziel einer "repräsentativen Darstellung"[33] verfehlt[34] er meines Erachtens aber, was dem Feindbild der charismatischen Theologie geschuldet ist, welche er konsequent übergeht.[35] Insgesamt interpretiere ich den Aufbau des Handbuches bzw. die Auswahl der Beiträge der anderen Autoren vor allem als Arrondierung der zwei Artikel Engemanns, die seine poimenische Konzeption in nuce referieren: Seelsorge als Gespräch mit Lehrdimension.
1.2.2 Die Problemstellung in der Seelsorge
Engemann begründet entsprechend der hermeneutischen Perspektive von Praktischer Theologie die Problemstellung der Poimenik empirisch[36] mit soziologischen Untersuchungen: Die postmoderne Erlebnisgesellschaft erschwere eine gelungene Lebensführung.[37] Einerseits resultiere die "Fixierung auf den Bauch”[38] in einem steigendem Konsumzwang: "Freiheit und Unfreiheit werden mehr und mehr auf die Beteiligungsmöglichkeiten am Konsum bezogen”[39]
Andererseits führe die "Grenzenlosigkeit seiner Wünsche"[40] zu einem "erschöpften Selbst"Das auf permanenten Selbstbezug gestellte Individuum muss ständig auf Hochtouren arbeiten, um sich und anderen seinen Autonomie zu dokumentieren".[41] Das "erschöpfte Selbst" leide also unter dem ständigem " Es-selbst-sein-Sollen" .[42]
Zu diesem empirischen Problem gesellt sich ein (praktisch-)theologisches: "Aus therapeutischer Sicht reichte es, wenn der Patient gesund war; und aus kerygmatischer Sicht, wenn der Sünder erlöst war"[43] Die zwei dominanten Paradigmen[44] von Poimenik des 20. Jahrhundert haben nach Engemann das geschilderte empirische Problem des "erschöpften Selbst" in der postmodernen Erlebnisgesellschaft nicht erfasst, denn sie haben nur die "Freiheit von etwas"[45] als Ziel: "Wenn in der Seelsorgelehre von Freiheit die Rede war, so bewegten sich die entsprechenden Erläuterungen eines Lebens in Freiheit vor allem zwischen den Polen Heil und Heilung, Therapie und Kerygma. Freiheit wurde primär als Befreiung apostrophiert und bedeutete dann in erster Linie Freiheit von Sünde, Tod und Teufel oder Freiheit von Angst, [...] von neurotischen oder depressiven Einstellungen".[46]
1.2.3 Das Ziel der Seelsorge
Das poimenische Ziel Engemanns ist demgegenüber die "Freiheit zu etwas"[47], nämlich zur gelungenen Lebensführung: "Ungekonnte Lebensführung bedarf nicht der Heilung oder Linderung, auch nicht einfach der Vergebung, sondern einer das Leben betrachtenden Unterredung mit dem Ziel, es führen zu können."[48] Engemann grenzt sich damit sowohl von dem therapeutischen ("Heilung") wie auch dem kerygmatischen ("Vergebung") Paradigma von Seelsorge ab; er möchte insbesondere nicht durch versteckte Verkündigung Mission betreiben. Die Zielgruppe derer, denen er mit einer gelungenen Lebensführung aus den Schlingen der Erlebnisgesellschaft helfen möchte, sind primär bereits gläubige Christen: "Es geht um eine Freiheit, die auch für Menschen, die (schon) aus der Vergebung leben und 'gesund' sind, eine Herausforderung darstellt, der sie mit seelsorgerlicher Begleitung besser als ohne diese gewachsen sind."[49]
Eine seelsorgerliche Unterredung in der Postmoderne hat nach Engemann "nach Möglichkeiten heilvollen Intervenierens in die Spiele der Erlebnisgesellschaft zu suchen"[50]. Es geht in einer Seelsorge der "Freiheit zu etwas" also um das "Selbst-sein-wollen" statt um das "Selbst-sein-sollen".
1.2.4 Die Mittel des Seelsorgenden
Engemann konzipiert Seelsorge als Gespräch mit Lehrdimension[51]. Es geht um die Vermittlung von "Lebenskunst", was bedeutet, "unter vorgegebenen Bedingungen ein nicht vorgegebenes Leben zu führen, indem ich in Auseinandersetzung mit meinen Möglichkeiten und Grenzen einerseits und meinen Wünschen andererseits einen Spielraum erkenne und auf der Basis eigener Urteile freie Entscheidungen treffe, die meinen Willen widerspiegeln und mich in meinem Verhalten bestimmen".[52]
Engemann[53] grenzt sich mit seiner christlichen[54] Lebenskunst von der populären[55] Lebenskunst der Erlebnisgesellschaft ab, in der es nicht auf Willen des Einzelnen ankommt ("Selbst-sein-wollen"), sondern um Milieu-typische Anpassung ("Selbst-sein-sollen"), welche als eigener Wunsch missverstanden wird. Durch die "die Aufhebung der Grenzenlosigkeit seiner Wünsche" verliert ein Mensch nicht an Autonomie, sondern gewinnt an "Kontur,[56] ; die "Aufdeckung von Wunschkonflikten bzw. die Interpretation von Wünschen”[57] statt der "Fixierung auf den Bauch" bewahrt den Menschen davor, als "erschöpftes Selbst" und Opfer des Konsumzwanges zu enden. Der biographische Kampf Engemanns gegen die Zwänge der charismatischen Theologie wird meines Erachtens weiterentwickelt in eine Frontstellung ("Intervenieren") auch gegen gesellschaftliche Zwänge, insbesondere gegen den Zwang des "Selbst-sein-sollen" mit der "Fixierung auf dem Bauch". In diesem Hedonismus[58] bekommt das zweite, abgeleitete Feindbild Engemanns scharfe Umrisse: "Das Schlimmste, was einem Menschen geschehen kann, besteht Versicherungen, Parteien und den Medien zu Folge darin, dass er zum 'Konsumkrüppel' wird [...]. Entscheidend ist [...], dass das seelsorgerliche Gespräch z.B. dazu beiträgt, dass dieser Mensch wieder in sein Leben hineinfindet [...] [um] es führen zu können - auch bei sinkendem Verbrauch."[59] Engemann zielt mit dieser Konsumkritik vor allem auf das Spannungsschema des Unterhaltungsmilieus[60] und des Selbstverwirklichungsmilieus[61] ab, welche einen hedonistischen Lebensstil pflegen. Die Methode Engemanns ist das (seelsorgerliche Einzel-)Gespräch, welches er als ein "vom Evangelium inspiriertes Lehrgespräch"[62] charakterisiert[63] und biblisch legitimiert[64]. Im einem solchen Lehrgespräch soll "gut beraten"[65] werden, allerdings nur im Effekt, und nicht in der Form.[66] Die Bibel dient lediglich als Illustration[67] von Möglichkeiten der eigenen Willensfindung anhand der "Lebensweisheiten Jesu"[68] als "Lebenswissen [...] mit seinen Vorstellungen, Bildern und Gleichnissen von einem in Freiheit gelebten Leben aus Glau- ben"[69]. Die Bibel dient also nicht als Quelle konkreter Ratschläge (z.B. in Form biblischer Gebote) für den Einzelfall.[70] Engemann betont deutlich: "Die aus seiner [Anm.: Jesus] Lehre hervorgehenden Aussagen können weder auf eine befreiende 'Botschaft der Gnade' reduziert, noch als 'Gesetz' befolgt werden. "[71]
Die Rolle und Identität des Seelsorgenden beschreibt Engemann dabei so: "Seelsorger werden [...] zu Anwälten der Freiheit eines Menschen, dass sie ihm dabei helfen, sich einen Willen anzueignen."[72] Der Seelsorgende kann bei der Wahrnehmung der "Spielräume"[73] helfen, grundsätzlich hat er aber "Lebenskunst" als Hilfe zur Selbsthilfe, als "Handwerk der Freiheit[74] richtungsweisend (direktiv) zu vermitteln.
[...]
1 Als wesentliche Perspektiven von Praktischer Theologie gelten einerseits das Verständnis als Anwendungswissenschaft v.a. von Dogmatik und Ethik, anderseits das Verständnis als hermeneutische Wahrnehmungswissenschaft mit Unterformen wie z.B. der Semiotik (vgl. Schroer, Artikel Praktische Theologie, S. 210 sowie Nicol, Grundwissen, S. 246).
2 In der Hermeneutik ist die Erkenntnis validiert, dass jedes Verstehen von einem Vorverständnis konstruiert ist (vgl. Schreiter, Artikel Hermeneutik, S. 546), welches auch durch die Biographie bedingt ist (vgl. Schweitzer, Artikel Biographie praktisch-theologisch, S. 1604).
3 Es zeichnet sich zudem formal eine gewisse Nähe der Autoren ab: Klessmanns Lehrbuch der Seelsorge, welches ich zur Ergänzung der Untersuchung seines Handbuches heranziehen werde, behandelt die Konzeption von Engemann (Klessmann, Lehrbuch, S. 112-114). Im Handbuch von Engemann ist ein Artikel von Klessmann zu finden (Engemann, Handbuch, S. 390-410).
4 Ich habe keine allgemein anerkannten Definitionen dieser Begriffe in Form von Lexikonartikeln z.B. in der TRE, RGG oder auch im Brockhaus gefunden.
5 Bei Engemann stellt sich das Problem, dass eine neuere Auflage (2.Aufl. 2009) existiert, die allerdings keine Angabe darüber enthält, ob es eine unveränderte Neuauflage ist oder nicht. Mir wurde per Mail vom 25.03.2011 von der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH Leipzig versichert, dass es sich um eine unveränderte Neuauflage handelt. Eigene Untersuchungen haben ergeben, dass es doch eine Veränderung gibt: Es wurde ein Autorenverzeichnis hinzugefügt. Dies hat aber keine Auswirkungen auf den Inhalt, so dass alternativ auch die neuere Auflage verwendet werden konnte.
6 Herausgeber kreieren mit der Auswahl der Autoren und der Anordnung der Beiträge eine eigene geistige Schöpfung (vgl. N.N., Artikel Herausgeber, S. 323). Auf die weiteren Autoren der beiden Handbüchern werde ich folglich nur am Rande und nur dort eingehen, wenn sie gegenüber den Herausgebern entweder besonders abweichen oder besondere Übereinstimmung suchen. Damit lassen sich die Konturen der Theologie von Engemann und Klessmann noch etwas schärfer zeichnen.
7 Den Umfang einer Gotteslehre beschreibt z.B. Leonhardt, Grundinformation, S. 121-170.
8 Vgl. Joest, Dogmatik, S. 13.
9 Das Problem würde ich so beschreiben: Ist Engemanns "Auflehnung" gegen die Erlebnisgesellschaft sowie Klessmanns "Auflehnung" gegen die Institution Krankenhaus wegen der Würde des Menschen mit Luthers Zwei-Reiche-Lehre (die v.a. auf Röm 13,1-7 mit u.a. "Jedermann sei untertan der Obrigkeit" basiert) evtl. unvereinbar? Kann die Gesellschaftsform (Erlebnisgesellschaft) als Ausfluss der Politik (Obrigkeit) gewertet werden?
10 Unter lutherischer Theologie verstehe ich die Theologie Martin Luthers, die ich mit Verweis auf die einschlägigen Werke von Joest und Leonhardt abstecken werde. Vgl. insbesondere Leonhardt, Grundinformation, S. 40-43.
11 Vgl. Joest, S. 106f.
12 Vgl. N.N., Artikel implizieren, S. 156.
13 Der Vergleich ist ein "Terminus zur Bezeichnung eines Erkenntnisverfahrens, bei welchem Entitäten [...] vergleichend an die Seite gestellt werden, um Ähnlichkeiten, Gleichheiten, Identitäten oder Proportionen zu entdecken" (Schenk, Artikel Vergleich, S. 698).
14 Alternativ wäre im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit im Fach Praktische Theologie zumindest denkbar, dass mit der "seelsorgerlichen Praxis" eine empirische Erhebung gemeint sein könnte. Allerdings würde das im Rahmen des Vergleiches der beiden Werke nur dann Sinn machen, wenn das Personalpronomina "ihrer" auf "Handbücher" bezogen wird, was vom Kontext wie auch phorisch fern liegt.
15 Hauschildt, Artikel Seelsorgelehre, S 54: "Seelsorgelehre [...] stellt Überlegungen darüber an, was Seelsorge als kohärente Praxis ist, mit dem Zweck, andere in die Seelsorge einzuführen."
16 Aspekte der Lehre finden sich recht häufig vor allem bei Klessmann in Form von Aufgaben- und Anforderungsprofilen, welche er oft mit Aufzählungszeichen markiert, z.B. in seinem Handbuch auf S. 14 und S. 18 oder S. 62f.
17 Vgl. Nicol, Grundwissen Praktische Theologie, S. 100f.
18 Der Begriff der Rolle ist eine Metapher und vor allem aus der Soziologie entlehnt. Dort beschreibt er die Stellung einer Person in der Gesellschaft (vgl. N.N., Artikel Rolle, S. 1924). Die Themenstellung zielt also darauf ab, welche theologische Bedeutung die Gottesvorstellung für die Konzeption der Seelsorgelehre der Herausgeber hat.
19 Als solche Teilbereiche wären v.a. die in beiden Handbüchern behandelte Seelsorge im Rahmen von Liturgik inklusive der Kasualien sowie pastoralpsychologische Aspekte von Seelsorge zu nennen.
20 Daneben würde sich bei der Rolle der Ekklesiologie für die Poimenik noch die Frage nach dem Verhältnis zwischen parochialer und spezieller Seelsorge stellen, welche im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelbar ist.
21 Ich arbeite also im Hauptteil im wesentlichen seriell. Ein rein paralleles Verfahren könnte zwar wegen des geforderten Vergleiches als auf der Hand liegend betrachtet werden, ist aber in meinen Augen formal unübersichtlich und würde vor allem materiell die theologischen Bögen der Herausgeber fragmentieren. Ein rein serielles Verfahren hingegen würde zu einer Überfrachtung des Vergleiches führen und Gefahr laufen, beim Vergleichen der Gottesvorstellungen untereinander die Beziehung zur Poimenik aus dem Auge zu verlieren; zudem wäre die Versuchung groß, dabei auch die Seelsorgelehren selbst vergleichen.
22 Vgl. Markschies, Arbeitsbuch Kirchengeschichte, S. 1f.
23 Vgl. Leonardt, Dogmatik, S. 106f. Gute Darstellung in: http://de.wikipedia.org/wiki/Ad_fontes (Stand: 08.05.2011 15:15 Uhr).
24 Quelle dieser Ausführungen ist die autobiographische Skizze in Engemann, Personen, S. 37-40. Einzelne Momente seines charismatisch-evangelikalen Lebensabschnitts verarbeitet Engemann im Artikel "Intim und intern. Zum Phänomen der Regression. Facetten charismatisch-evangelikaler Frömmigkeit in pastoralpsychologischer Sicht." Der Begriff "Regression" kann auch als Wertung abschätzig verstanden werden.
25 Zu dieser Einschätzung komme ich wegen der örtlichen Zugehörigkeit zur unierten Evangelischen Landeskirche von Westfalen (vgl. Stichpunkt "Unsere Kirche" in http://www.evangelisch-inwestfalen.de/fileadmin/ekvw/dokumente/wir_ueber_uns/unser_leben.pdf, Stand: 05.05.2001; 09:26 Uhr).
26 Engemann, Praktische Theologie, S.4.
27 Vgl. Engemann, Semiotik und Theologie, S. 14.
28 Vgl. Engemann, Personen, Zeichen und das Evangelium, S. 279 als rhetorische Frage formuliert: "Aber wie macht man das? [...] Wie dividiert man alles Persönliche heraus [...] um Gott allein zu Wort kommen zu lassen?"
29 Die verschiedenen kommunikationswissenschaftlichen Theorien werden u.a. in Engemann, Personen, Zeichen und das Evangelium, S. 40-48 und Engemann, Homiletik, S. 116-162, verarbeitet und in seinem Handbuch in Kapitel 2 hinsichtlich der Seelsorge aufgegriffen.
30 Engemann, Handbuch, S. 14: "Basiswissen [...] über das man sich verständigt haben sollte, bevor man sich mit der Seelsorge selbst befasst". Vor allem am "sollte" wird klar, dass für Engemann eine Poimenik ohne dieses "Basiswissen" unzureichend ist. Hierin zeigt sich die Abgrenzung zu v.a. Konzeptionen charismatischer Poimenik.
31 Es werden in Kapitel 3 erst tendenziell kerygmatische Konzeptionen von Riess und Bukowski, dann pastoralpsychologisch gefärbte therapeutische Konzeptionen vorgestellt. Der Autor Meyer-Blanck vertritt mit seiner Reinterpretation des Bruches von Thurneysen (vgl. Engemann, Handbuch, S. 21) zwar ebenfalls eine eher kerygmatische Konzeption, stellt aber unter anderm auch die lutherische Differenzierung von Gesetz und Evangelium dar, die für Engemann offensichtlich grundlegend ist, weshalb er nach meiner Interpretation diese Konzeption als "Basiswissen" im 1. Kapitel statt im 3. Kapitel verortet.
32 Engemann greift in seinem Kapitel 4 die Krankenhausseelsorge und Seelsorge im Zusammenhang von Kasualien auf. Die Artikel von Roessler ("Krise, Trauma und Konflikt") und Schieder ("Seelsorge und Lebenskunst") interpretiere ich als abrundende und überleitende Texte zu und zwischen Engemanns ersten (hier v.a. die Krise des freien Willens in der Erlebnisgesellschaft) und zweiten Artikel (Lebenskunst). Kapitel 5 scheint mir statt "seelsorgerlichen Ressourcen" ebenfalls spezielle Poimenik zu behandeln, darunter auch parochiale Poimenik und Seelsorge im Religionsunterricht. Den Artikel der Autorin Dahlgrün (Seelsorge im Rahmen der Beichte) hätte ich statt in Kapitel 5 eher in Kapitel 4 im Themenkomplex Kasualien verortet. Daran ist zu sehen, dass mir die Konzeption des Handbuches auf S. 14f, und vor allem die Systematik der Kapitel 3 bis 5 nicht ganz schlüssig ist.
33 Engemann, Handbuch, S. 13.
34 Engemanns humanwissenschaftlicher Zugang ist in Form therapeutischer Konzeptionen dominant; es werden nur drei eher kerygmatische Konzeptionen vorgestellt. Zudem befasst sich das ganze Kapitel 2 mit Aspekten der Kommunikation in der Seelsorge.
35 Engemann gibt in seinem Werk charismatischen Seelsorge-Konzeptionen (vgl. Klessmann, Lehrbuch, S. 70-74) nicht nur keinen Raum und kritisiert implizit deren unzureichendes humanwissenschaftliches "Basiswissen", sondern grenzt sich in seinem Handbuch über den von ihm ausgewählten Autor Ziemer auf S. 50 auch davon ab: "Unreif sind die rigiden Glaubenseinstellungen, das zwanghafte Festgelegtsein auf bestimmte religiöse oder moralische Dogmen [...] . Solche Glaubenseinstellungen können Hinweis auf eine gestörte Persönlichkeit, u. U. auch auf neurotische Symptome sein." In der geschilderten "Unreifheit" sehe ich deutliche Anklänge auf die von Engemann selbst diagnostizierten Charakter der "Regression" der charismatischen Frömmigkeit.
36 Vgl. Ulfig, Lexikon, S. 103.
37 Vgl. Engemann, Handbuch, S. 315.
38 Ebd., S. 317.
39 Ebd., S. 316.
40 Ebd., S. 319.
41 Ebd., S. 316.
42 Vgl. ebd., S. 315f. Weitgehend identisch analysiert dies der Autor Patalong in ebd., S. 77.
43 Ebd., S. 468.
44 Vgl. Nicol, Grundwissen, S. 101f.
45 Engemann, Handbuch, S. 310.
46 Ebd., S. 467.
47 Ebd., S. 310.
48 Ebd., S. 467.
49 Ebd., S. 468.
50 Engemann, Personen, Zeichen und das Evangelium, S. 358.
51 Vgl. die Überschrift in Engemann, Handbuch, S. 469.
52 Ebd., S. 311.
53 Der von Engemann gewählte Autor Schieder steigert diese Abgrenzung sogar noch: "Die Weisheitsliteratur der Bibel stellt - ausreichendes hermeneutisches Geschick vorausgesetzt - die populäre Lebenskunstliteratur allemal in den Schatten" (ebd., S. 388).
54 Ich bezeichne Engemanns Konzeption als "christliche" Lebenskunst aus zwei Gründen. Einerseits, weil er die protestantische Soteriologie als gegeben vorraussetzt - er möchte vor allem schon Gläubigen helfen. Andererseits, um die Frontstellung gegen die "populäre" Lebenskunst zu verdeutlichen.
55 Vgl. Engemann, Personen, Zeichen und das Evangelium, S. 323.
56 Ebd., S. 319.
57 Ebd., S. 320.
58 Vgl. Ulfig, Lexikon philosophischer Begriffe, S. 171
59 Engemann, Handbuch, S. 472f.
60 Vgl. Schulze, Erlebnisgesellschaft, S. 330.
61 Vgl. ebd., S. 321.
62 Ebd., S. 469.
63 Vgl. Engemann, Handbuch, S. 468f: Vorbehalte gegenüber einer im 19. Jahrhundert gängigen didaktischen Seelsorge (Achelis) rühren nach Engemann von der "kerygmatischen Reduktion der Lehrdimension" her. Wohl aufgrund dieser Vorbehalte vermeidet Engemann die Bezeichnung "didaktische Seelsorge", sondern spricht von der "Lehrdimension der Seelsorge". Auch den Begriff des "Hirten" (vgl. ebd., S. 145f) vermeidet er.
64 Vgl. ebd., S. 469f: "Der häufigste Ausdruck für die Verbreitung des Evangeliums (durch die Person Jesu) ist das Verb didaskein (lehren). [...] Jesus bietet also mit seinem Evangelium nicht nur etwas zum Glauben, sondern auch etwas zum Verstehen und Beherzigen: Lebens-Kunde." Es ist offensichtlich, dass sich hinter der "Lebens-Kunde" Jesu die "Lebenskunst" Engemanns verbirgt, indem er mit der Doppeldeutigkeit des Begriffes der "Kunde" spielt.
65 Ebd., S. 472.
66 Vgl. ebd., S. 472.
67 Engemann selbst bezeichnet die Bibel als "Ressource" (ebd., S. 467).
68 Ebd., S. 470. Engemann nennt in ebd., S. 471f einige Beispiele.
69 Ebd., S. 467.
70 Vgl. ebd., S. 471 ("ohne die Bibel zu zitieren").
71 Ebd., S. 469.
72 Ebd., S. 312.
73 Ebd., S. 470.
74 Ebd., S. 312.