DVRK - Dynastische Volksrepublik Korea?

Erbliche Nachfolge in autokratischen Regimen am Beispiel Nordkoreas


Masterarbeit, 2011

85 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Konzeptspezifikationen und deren Anwendung auf Nordkorea
2.1 Erbliche Nachfolge
2.2 Autokratie, Diktatur, Totalitarismus
2.3 Charismatische Herrschaft
2.3.1 Veralltäglichung des Charismas und Post-Totalitarismus?

3. Forschungsstand und Theorien

4. Fallstudie Nordkorea
4.1 Das Kronprinzen-Problem
4.2 Eindeutige Designation
4.3 Haltung des Militärs
4.4 Konstitutionelle Rahmenbedingungen
4.5 Präzedenzfall

5. Alternative Erklärungen
5.1 Ideologie und Personenkult
5.2 Kultur und Politische Kultur
5.3 Die Rollen Südkoreas und Chinas
5.4 Expertenbeurteilungen

6. Fazit
6.1 Ein zweiter dynastischer Machtwechsel?

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Kim, Kim & Kim“ (Spiegel 08/2010), „Dynastie der Diktatoren“ (Focus 08/2010), „Zeit für einen frischen Diktator“ (taz 09/2010), „Kim Jong Il regelt sein Erbe“ (Süddeutsche 09/2010), „Familie Kim setzt sich ein“ (Zeit 09/2010), „Militärparade für Kronprinzen“ (Welt 10/2010).

Diese Titelzeilen sind nur eine Auswahl der medialen Berichterstattung im Zusammenhang mit einer Parteikonferenz der Partei der Arbeit Koreas (PdAK) am 28. September 2010 und einer großen Militärparade am 10. Oktober 2010 in Pjöngjang. Spekulationen internationaler Beobachter zufolge galten die beiden genannten Veranstaltungen der Vorbereitung eines zweiten dynastischen Machtwechsels in der Demokratischen Volksrepublik Korea (DVRK, Nordkorea). Neben seiner sicherheitspolitischen Relevanz ist das Regime offenbar insbesondere wegen seiner Isolation und vermeintlichen Einzigartigkeit interessant. Die Neugier an dem ostasiatischen „Zombie-Staat“ (Maull 2002) steht allerdings in einem eklatanten Missverhältnis zu den gesicherten Erkenntnissen, die außerhalb Nordkoreas über dieses Land verfügbar sind. Für Außenstehende, speziell in westlichen Demokratien, handelt es sich um eine „Red Box“ (McEachern 2010). In Bezug auf das „Nachfolgethema“ sind Mutmaßungen aktuell besonders verbreitet, da ein Ende des Diktators immer auch ein Ende der Diktatur bedeuten kann. Wie eine genauere Betrachtung des Phänomens der erblichen Nachfolge in modernen Autokratien zeigt, ist die Faszination mit Blick auf ein derartiges Ereignis aber keinesfalls neu. So hat John Herz schon 1952 formuliert:

„To the dictator it poses a problem and constitutes a danger. To his aides it is a temptation. To the bystander, within and without, it is a fascination” (Herz 1952: 20).

In der Vergangenheit hat die vergleichende Politikwissenschaft Staaten der „Dritten Welt“ jedoch vor allem unter dem Aspekt der Systemtransformation untersucht und der Frage der Führungsnachfolge in einem gegebenen System kaum Beachtung geschenkt (Hoffmann 2007: 6). Für dynastische Machtwechsel gilt dies umso mehr, da es sich dabei – außerhalb von traditionellen Monarchien – um eine empirische Seltenheit handelt. Despotische Machthaber werden in der Regel durch einen Putsch, einen Sieg der Opposition oder die eigene Partei zum Rücktritt gezwungen (Brownlee 2007). Nordkorea ist sogar der weltweit einzige sozialistische Staat, in dem es je zu einer erblichen Nachfolge gekommen ist (Köllner 2010: 1). In jüngster Vergangenheit zeichnet sich hier jedoch ein Wandel ab: Insgesamt zehn Potentaten haben nach dem Zweiten Weltkrieg die Macht an ihre Söhne weitergegeben, die Hälfte davon allein im 21. Jahrhundert. In verschiedenen Regionen der Erde stehen gegenwärtig dynastische Herrscher an der Spitze republikanischer Autokratien, darunter beispielsweise Syrien, Aserbaidschan und Singapur. Bis zum Beginn des „Arabischen Frühlings“ Ende 2010 hielten sich Spekulationen um bevorstehende dynastische Machtwechsel in Ägypten, Jemen und Libyen hartnäckig. Weitere Regime, in denen die Nachfolgefrage in absehbarer Zeit akut werden könnte, wie Äquatorialguinea und Usbekistan scheinen den „Thron“ ebenfalls in der Familie halten zu wollen. Nicht nur in der arabischen Welt ist ein Trend zur „Dynastisierung“ des Nachfolgeprozesses evident. Gleichzeitig mangelt es an wissenschaftlichen Erklärungen des Phänomens erblicher Nachfolge in nicht-monarchischen Autokratien. Die Ursachen einer erfolgreichen Übergabe der Macht sind weitgehend unklar. Die vorliegende Arbeit soll daher im Rahmen einer qualitativen Einzelfallstudie folgende Forschungsfrage beantworten:

Wie ist die Erblichkeit der charismatischen Herrschaft Kim Il Sungs in der Demokratischen Volksrepublik Korea zu erklären?

Die determinierenden Faktoren des Machtwechsels bilden dementsprechend den Schwerpunkt der Untersuchung. Darüber hinaus soll reflektiert werden, ob Kim Il Sung nur sein Amt oder auch die damit verbundene Macht und Autorität vererbt hat. Nach Max Weber handelt es sich bei dem besagten Phänomen um einen Teil jenes allgemeinen Prozesses, den er die „Veralltäglichung des Charisma“ nennt (Weber 1972: 142). „Dieser Begriff beschreibt den Übergang von der persönlichen und willkürlichen Macht charismatischer Art zu einer unpersönlicheren Macht, die entweder auf festgeschriebene Regeln oder auf traditionelle Prinzipien gegründet ist – in jedem Fall eine Beschränkung der Willkür persönlicher Macht“ (Djaziri 2005: 112). Dies deutet darauf hin, dass mit einer erblichen Nachfolge eine zumindest graduelle Veränderung des politischen Systems einhergeht. Bis heute bilden Webers Idealtypen legitimer Herrschaft eine unverzichtbare Referenz zur Analyse von Herrschaftsbeziehungen. Speziell im Hinblick auf Diktaturen ist dabei das Konzept der charismatischen Herrschaft von Relevanz.

Aus diesem Grunde wird im nächsten Kapitel, nach einer Definition von „Erbfolge“ und der Vorstellung verschiedener autokratischer Regimetypen, der Zusammenhang von charismatischer Herrschaft und eben jenen Systemen beleuchtet. Am Ende jedes Abschnitts wird dabei das jeweils beschriebene Konzept auf Nordkorea angewendet. Das dritte Kapitel bietet einen Überblick über die vorhandenen Theorien zur Erklärung des Phänomens erblicher Nachfolge. Darüber hinaus werden hier verschiedene Hypothesen entwickelt, um diese anhand des Falles der DVRK zu testen. Den Ausgangspunkt bilden dabei die Ergebnisse einer breit angelegten vergleichenden Studie von Jason Brownlee aus dem Jahr 2007.[1]

Der eigentliche Hauptteil der Arbeit besteht im vierten Kapitel. Das vorrangige Ziel ist es hier, die Ursachen des (Einzel-)Falls der nordkoreanischen Erbfolge möglichst vollständig zu erfassen. Dabei werden bestehende Theorien sowie entwickelte Hypothesen getestet. Zu den berücksichtigten Einflussfaktoren zählen ferner die konstitutionellen Rahmenbedingungen des Machtwechsels sowie die Haltung des Militärs. Abschließend soll die jeweilige Erklärungskraft der Theorien im vorliegenden Fall beurteilt werden, um somit Rückschlüsse auf ihre Generalisierbarkeit zu ziehen.

Im fünften Kapitel schließlich werden alternative Erklärungen geprüft. Hier steht die Frage im Vordergrund, ob „andere kausale Faktoren nicht eine ebenso gute oder gar bessere Erklärungskraft besitzen“ (Gschwend/Schimmelfennig 2007: 19). Zu den Besonderheiten des nordkoreanischen Systems zählen vor allem seine Ideologie, der Personenkult um den „Großen Führer“ und den „Geliebten Führer“ sowie seine (politische) Kultur. Es ist anzunehmen, dass das Regime einen wesentlichen Teil seiner Legitimität über diese drei Faktoren bezieht. Da es im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich war, eigene Feldforschung zu betreiben, kommen am Ende des fünften Kapitels ausgewiesene Nordkoreaexperten zu Wort, die eigens zu diesem Zwecke interviewt worden sind.

Das Fazit ergänzt die gewonnenen Erkenntnisse um den Versuch einer Prognose im Hinblick auf einen etwaigen zweiten dynastischen Machtwechsel in der Volksrepublik. Dabei kommt es darauf an, die Reichweite und Bedingungen der Gültigkeit der Theorien zu reflektieren. Letztlich kann es sich hier nur um eine probabilistische Aussage handeln.

2. Konzeptspezifikationen und deren Anwendung auf Nordkorea

Um die im nächsten Kapitel formulierten Theorien anhand des Falles „Nordkorea“ testen und gemachte Beobachtungen erklären zu können, ist es erforderlich, auf verschiedene Konzepte zurückzugreifen. Dazu zählen insbesondere „Erbfolge“, „Autokratie“, „Diktatur“, „Totalitarismus“ und „Charisma“. Eine wissenschaftliche Verwendung dieser Konzepte macht zunächst ihre exakte Spezifikation nötig. Es soll daher im Folgenden genau bestimmt werden, was mit dem jeweiligen Terminus gemeint ist, was seine definierenden Attribute sind und wie die Konzepte zueinander stehen (vgl. Gschwend/Schimmelfennig 2007: 16). Am Schluss jedes Abschnitts wird erörtert, inwiefern sich die jeweiligen Begriffe auf Nordkorea anwenden lassen.

2.1 Erbliche Nachfolge

„Le roi est mort, vive le roi !”

„Der König ist tot, es lebe der König!“, lautete die Kurzformel, mit der in Frankreich bis ins 19. Jahrhundert der Tod des alten Monarchen ausgerufen und gleichzeitig die Ernennung des neuen Königs bekannt gegeben wurde. Nach diesem dynastischen Prinzip geht die Krone nach dem Tod des Staatsoberhauptes ohne weitere Akte unmittelbar an den Nachfolger über. Auf diesem Wege blieb die Kontinuität der Erbmonarchie gewahrt (Weber-Fas 2008: 166). Allgemein bezeichnet erbliche Nachfolge oder Erbfolge die Methode der Herrscherbestellung und Thronfolge auf der Grundlage der Verwandtschaft von Nachfolger (Sukzessor) und Amtsvorgänger (Antezessor). In der Regel geht das zu beerbende Amt dabei an den ältesten oder den ältesten männlichen Nachkommen (Primogenitur) (Schmidt 2004: 200). Eng verknüpft mit dem Begriff der Erbfolge ist der Ausdruck „Dynastie“. Laut dem „Lexikon Politik und Recht“ ist eine Dynastie „ein Herrschergeschlecht, dem nach einschlägigen Regeln der Thronfolge die erbliche Stellung des Monarchen zusteht“ (Weber-Fas 2008: 65).

Die Schlussfolgerung, dass eine Erbfolgeregelung etwaigen Streitigkeiten um einen frei werdenden Posten vorbeugen könnte, liegt nahe: Die Nachfolge im höchsten politischen Amt bedeutet für jedes politische System eine potentielle Krise (vgl. Hoffmann 2007: 5). Eine autokratische Nachfolge, also der Prozess bei dem ein Individuum ein anderes an der Spitze eines autokratischen Regimes ersetzt (Kurrild-Klitgaard 2000: 63), ist für derartige Systeme häufig besonders prekär. Nicht selten kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen um das zu besetzende Amt, die sogar den Fortbestand des Regimes insgesamt infrage stellen können. Das grundsätzliche Problem dabei aber ist folgendes: Die Verfassungen der überwiegenden Mehrheit gegenwärtiger Autokratien sehen keine „Stellung des Monarchen“ vor.[2] Bereits die offiziellen Ländernamen von Aserbaidschan, Syrien, Togo, Gabun und Nordkorea – allesamt Staaten, in denen in den vergangenen 20 Jahren ein dynastischer Machtwechsel stattgefunden hat – kennzeichnen diese als „Republiken“. „Republik bezeichnet einen Staat, in dem die Herrschaft im Gegensatz zur erblichen Monarchie von mehreren (sei es als Aristokratie oder Demokratie) in zeitlich befristeten Wahlämtern ausgeübt wird“ (Rieger 2010: 923). Folglich existieren de jure zumeist auch keine „einschlägigen Regeln“ für eine Erbfolge. Stattdessen verfügt rechtlich jeder erwachsene Bürger über ein passives (und aktives) Wahlrecht. Es besteht also im Falle einer erblichen Nachfolge typischerweise eine Diskrepanz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit.

„In vordemokratischen Gesellschaften galt die Herrscherbestellung durch Erbfolge weithin als friedensstiftende, Kontinuität und Stabilität der Herrschaft verbürgende Regel. […] Aus dem Blickwinkel moderner Demokratie verletzt Erbfolge grundlegende Prinzipien politischer Gleichheit, insbesondere das Recht des gleichberechtigten Zugangs zu politischen Ämtern und das Recht der Bürger an Bestellung, Kontrolle und Abwahl der Herrschenden mitzuwirken“ (Schmidt 2004: 200).

Um eine erbliche Nachfolge in republikanischen Autokratien von anderen Formen des Machtwechsels zu unterscheiden, werden in der vorliegenden Arbeit drei Faktoren gewählt:

1) De facto Transfer des höchsten Regierungsamtes vom Vater auf den Sohn,
2) Vorbereitung oder Initiierung der Machtweitergabe vor dem Tod des Herrschers,
3) Fehlen von rechtlichen Bestimmungen für die Herrschaft einer bestimmten Familie (wie etwa in traditionellen Monarchien) (Brownlee 2007: 599).

Eine Betrachtung Nordkoreas unter Berücksichtigung dieser drei Kriterien ergibt folgendes Bild: Auch wenn das Präsidentenamt in der „Demokratischen Volksrepublik“ offiziell nach dem Tod Kim Il Sungs 1994 unbesetzt geblieben ist, steht Kim Jong-Il seitdem faktisch an der Spitze der Exekutive. Offiziell übernahm er die Staatsführung drei Jahre nach dem Tod seines Vaters, mit seiner Ernennung zum Generalsekretär der Partei der Arbeit Koreas (PdAK). 1998 beschloss Kim Jong-Il, das noch immer vakante Amt des Präsidenten dauerhaft dem Mythos seines Vaters zu überlassen (Maierbrugger 2007: 54). Darüber hinaus ist bekannt, dass Kim Jong-Il bereits seit Mitte der 1970er Jahre als Nachfolger seines Vaters innerhalb der Partei aufgebaut worden ist (Lintner 2005: 85). In der Verfassung der DVRK sucht man jedoch vergeblich nach einem exklusiven Anspruch der Kim-Familie auf bestimmte politische Ämter. Folglich stellt der Machtwechsel von Kim Il Sung auf Kim Jong-Il in Nordkorea eine Erbfolge im Sinne der genannten drei Kriterien dar. Die folgende Tabelle bietet einen Überblick über die Erbfolgen in republikanischen Autokratien seit 1975:

Abbildung 1

Erbfolge in republikanischen Autokratien (1975-2011)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Brownlee 2007: 601 mit Ergänzungen des Autors.

2.2 Autokratie, Diktatur, Totalitarismus

Allgemein lassen sich all diejenigen Regime (Staatsformen) wahlweise als autokratisch oder als Diktatur bezeichnen, die nicht demokratisch sind (vgl. Lauth 2010: 102). Wörtlich meint der griechische Ausdruck Autokratie soviel wie „selbstherrliche Machtausübung“. Der Machtträger (Autokrat) kann eine Einzelperson oder ein Kollektivakteur, wie etwa eine Junta sein (vgl. Schmidt 2004: 65). Tullock definiert einen Autokraten vergleichsweise umfassend als „an individual who de facto is the ultimate decision-maker within a political regime“ (Kurrild-Klitgaard 2000: 64; Hervorhebung im Original). Einer Negativdefinition von Sartori folgend ist eine Autokratie kein System, „indem niemand sich selbst auswählen kann, niemand sich die Macht zum Regieren selbst verleihen kann und deshalb niemand sich unbedingte und unbeschränkte Macht anmaßen kann“ (Sartori 1992: 210 zitiert nach Lauth 2010: 102).

Die Diktatur hingegen bezeichnete ursprünglich die Institution des Ausnahmezustands im Römischen Reich, die der Senat zur Überwindung eines Notstands festlegen konnte. Der Diktator erhielt dabei zeitlich befristet unbeschränkte Vollmachten. Heute wird der Begriff meist zur Bezeichnung einer nicht-legitimen Herrschaft gebraucht, die weitgehend ohne Beschränkung durch Verfassung und Gesetz ausgeübt wird. Allerdings kann die politische Herrschaft in einer Diktatur auch im Namen einer höheren Legitimität ausgeübt werden und partiell legitim sein (vgl. Schmidt 2004: 166 f.).

Autokratische Herrschaftsformen werden ferner unterschieden in autoritäre und totalitäre Regime. Der Subtyp des Totalitarismus ist eine politische Herrschaftsform, in der die Macht monopolisiert und der Führungsanspruch gegenüber den Unterworfenen prinzipiell uneingeschränkt ist. Dies umfasst nicht nur die politische Existenz und die Alltagswelt, sondern sogar das Bewusstsein jedes Einzelnen. Wie Carl Friedrich und Zbigniew Brzezinski konstatieren, lassen sich totalitäre Regime anhand von sieben Kriterien identifizieren: eine totalitäre Ideologie, eine darauf gestützte Einparteienherrschaft, eine terroristische Geheimpolizei, Nachrichtenmonopol, Waffenmonopol, eine zentralisierte Wirtschaft und die permanente Mobilisierung der „Massen“ (Heberer/Derichs 2008: 2).

„Hannah Arendt, die wohl wichtigste philosophische Begründerin der Totalitarismustheorie nach dem Zweiten Weltkrieg unterschied autoritäre von totalitären Systemen durch deren unterschiedliche Vernichtung der persönlichen Freiheit. Autoritäre Herrschaft, schrieb sie 1955, schränke die Freiheit ein, totalitäre Herrschaft schaffe sie hingegen ab (Arendt 1955). Der theoretische Kern des Begriffs ist also der uneingeschränkte Verfügungsanspruch der Machthaber als dominierendes Herrschaftsprinzip. Dabei ist nicht der Staat der vorrangige Machtträger. Es ist vielmehr die totalitäre Weltanschauungspartei oder ihr Führer, die ihre Herrschaft ideologisch legitimieren (,Klassenlose Gesellschaft‘, ,Superiorität der eigenen Rasse und des eigenen Volkes‘, ,Einheit von Religion und Politik‘) und für alle Individuen als verbindlich erklären. Der Staat wird für diese Zwecke in Dienst genommen“ (Merkel 2010: 48).

Merkel zählt Nordkorea bis heute zu den kommunistisch-totalitären Systemen, in denen sich eine Parteidiktatur zu einer Führerdiktatur entwickelt hat. „Nordkorea [setzt] als letztes wirklich totalitäres Regime weitgehend auf Repression und Isolation“ (Merkel 2010: 498). De facto wird das Regime dort nicht durch ein Kollektiv, sondern von einem einzigen charismatischen Führer[3] geleitet. Als weitere typische Beispiele führt er die Sowjetunion Stalins (1929-1953), die VR China Mao Tse-Tungs (1949-1976), oder das Rumänien Ceaușescus (1974-1990) an (vgl. Merkel 2010: 52).

„Kommunistische Führerdiktaturen [sind] fast immer unter den Typus totalitärer Systeme zu fassen. In bestimmten Phasen können sie wie […] in Nordkorea unter Kim Il Sung sultanistisch-totalitäre Züge annehmen“ (Merkel 2010: 52).

Im Länderbericht 2008 von „Polity IV“, einer privaten US-amerikanischen Initiative zur Demokratiemessung, wird Nordkorea für den Zeitraum von 1967 bis heute mit einem Autokratiewert von 9 versehen (wobei 10 der Spitzenwert ist).[4] Dem Handeln der Exekutive sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Nach Jahrzehnten der Herrschaft Kim Il Sungs, wandelte sich Nordkorea in eine personalistische Diktatur, in der der Herrscher über der Parteistruktur steht. Das Regime praktiziert einen Personenkult um Kim Il Sung (den „Großen Führer“) und seinen Sohn Kim Jong-Il (den „Geliebten Führer“). Wahl und Aktivität der Legislative werden vollständig von der Partei und der staatlichen Bürokratie kontrolliert. Das Parlament, die Oberste Volksversammlung, tagt nur äußerst selten in kompletter Besetzung. Das Tagesgeschäft wird von seinem Ständigen Komitee erledigt, dem 15 Mitglieder angehören. Die verfassungsmäßigen Garantien für eine unabhängige Justiz und freie Wahlen sind in der Praxis nicht implementiert. Die Gerichte unterliegen ­– ebenso wie sämtliche Institutionen – einer strengen Kontrolle durch die dominante Partei (vgl. Polity IV 2008: 2). Ein ähnlich kritisches Urteil fällt die deutsche Bundesregierung hinsichtlich der Art der Herrschaftsausübung in der DVRK in ihrem jüngsten Menschenrechtsbericht:

„Schwere Verletzungen der bürgerlichen und politischen Rechte (Versammlungs-, Informations-, Presse- und Meinungsfreiheit etc.) sind in Nordkorea systemimmanent. Sie werden von nordkoreanischer Seite mit den Prinzipien des herrschenden politischen Systems gerechtfertigt, wonach Menschenrechte nicht als Rechte des Individuums anzusehen seien. Zwar erwähnt die nordkoreanische Verfassung ,Meinungs-, Presse-, Versammlungs-, Demonstrations- und Organisationsfreiheit‘ (Artikel 67) und nennt seit einer Verfassungsänderung vom 9. April 2009 auch den Schutz der Menschenrechte als staatliche Aufgabe (Artikel b). Diese Rechte sind jedoch nicht konkretisiert“ (Auswärtiges Amt 2010).

Übertragt man die definierenden Attribute des Konzeptes Totalitarismus nun auf Nordkorea, so lassen sich gute Argumente dafür finden, das dortige Herrschaftssystem als totalitäres Regime zu bezeichnen. Da es sich beim Totalitarismus um einen Subtypus der Autokratie (Diktatur) handelt, trifft demnach die letztgenannte Charakterisierung ebenso zu. Darüber, dass die Herrschaft Kim Il Sungs dem Idealtypus eines totalitären Regimes sehr nahe gekommen ist, besteht in der Literatur weitgehende Einigkeit. Gegenwärtig existieren allerdings zwei sich widersprechende Auffassungen in der Politikwissenschaft bezüglich der Einordnung des nordkoreanischen Systems: Wissenschaftler der Teildisziplin Internationale Beziehungen (Regionalstudien) tendieren dazu, die Einzigartigkeit der DVRK inklusive der dort herrschenden Ideologie und des Personenkults um Kim Il Sung und Kim Jong-Il zu betonen. Damit verbindet sich die – noch immer für adäquat gehaltene – Kategorisierung des Systems als totalitär. „Kim Jong-Il ist es gelungen, ein totalitäres System zu etablieren, welches durch ein lückenloses Informationsmonopol zusammengehalten wird“ (Kuhn 2005: 246). Frank geht noch darüber hinaus, wenn er erstens sagt, dass es in diesem speziellen Fall nicht möglich sei, „eine Momentaufnahme des politischen Systems zu generieren und diese anschließend zu systematisieren“ (Frank 2008: 325) und zweitens betont, dass „power in North Korea remains Kim’s sole domain“ (Frank 2010).

Forscher aus dem Bereich der Vergleichenden Politikwissenschaft registrieren demgegenüber ein generelles Ende des Totalitarismus-Paradigmas. „Zurzeit scheint also weltweit tatsächlich kein totalitäres politisches System mehr zu existieren“ (Gerschewski 2008: 4). Gerschewski vertritt die Auffassung, dass Nordkorea aufgrund von zaghaften Wirtschaftsreformen im Jahr 2002, einer zunehmenden Verfügbarkeit von Informationen aus dem Ausland sowie dem gestiegenen Einfluss des Militärs als „post-totalitär“ zu bezeichnen sei. Damit geht wiederum die Annahme einher, dass die Ideologie und der Personenkult im Land auf die Tagespolitik letztendlich kaum Einfluss hätten (vgl. McEacher 2010: 21). Diese Debatte ist insofern nicht nur von abstrakter Bedeutung, als sie untrennbar mit der Frage verknüpft ist, ob Kim Il Sung nur sein Amt oder auch sein Charisma und die damit verbundene Macht vererbt hat. Darüber hinaus kann sie Aufschluss darüber geben, welche Akteure möglicherweise neben der Person des Herrschers für den Machttransfer eine relevante Rolle gespielt haben (und in Zukunft spielen werden). Bevor die These vom „post-totalitären Nordkorea“ eingehend diskutiert wird, soll im nächsten Abschnitt erläutert werden, was unter charismatischer Herrschaft zu verstehen ist.

2.3 Charismatische Herrschaft

„Ein Charisma haben, heißt den Geist Gottes haben“ (Sohm 1892 zitiert nach Hatscher 2000: 41).

Wie geschildert, gelangen die Herrscher in autokratischen Republiken im Gegensatz zu Monarchien originär nicht qua Geburt ins Amt. Vielmehr handelt es sich bei den Machthabern an der Spitze dieser Regime überwiegend um ehemalige Revolutionsführer oder Kommandanten einer Bürgerkriegspartei, die erfolgreich waren und somit schließlich den Posten des Staatschefs erhielten. Ihre Autorität entspringt einem besonderen Verdienst, den sie in den Augen ihrer Entourage nur durch ihre außergewöhnlichen Qualitäten erlangen konnten. Bereits der Apostel Paulus spricht in seinen Briefen des Neuen Testaments von solchen Qualitäten und bezeichnet sie als gottgegebene „Gnadengabe“ oder als „Charisma“ (vgl. Hatscher 2000: 40). Auch Diktatoren verfügen nach Auffassung ihrer Anhänger häufig über herausragende Eigenschaften, weshalb in diesem Zusammenhang von charismatischen Führern die Rede ist.

Max Weber greift den ursprünglich theologischen Ausdruck des Charismas in seiner Herrschaftstypologie auf. Er verwendet dabei die Begriffe „Autorität“ und „Herrschaft“ synonym und meint damit „den als rechtmäßig anerkannten Einfluss […] einer Person, Gruppe oder sozialen Institution“ (Schultze 2010: 62). Nach Weber existieren drei „reine Typen“ (Idealtypen) legitimer Herrschaft: Die traditionale, die rationale und die charismatische Herrschaft. Für die Typenbildung kommt es Weber darauf an, auf welchen Motiven der Gehorsam beruht bzw. auf welchen Prinzipien die Bereitschaft sich zu fügen basiert. Wenn diese Prinzipien von den Herrschenden und dem Volk geteilt werden, handelt es sich um eine legitime Form der Herrschaft (vgl. Braun/Schmitt 2009: 54). „Keine Herrschaft begnügt sich, nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre ,Legitimität‘ zu erwecken und zu pflegen“ (Weber 1972: 122). Dieser Glaube ist es erst, der ein Herrschaftssystem stabil werden lässt und somit dessen Fortbestand sichert.

Im Falle der Herrschaft charismatischen Charakters ruht die Legitimitätsgeltung primär „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie geschaffenen Ordnungen“ (Weber 1972: 124). Ein charismatischer Führer ist also eine Persönlichkeit mit bestimmten Fähigkeiten oder Qualitäten, die als herausragend wahrgenommen werden. Aufgrund dieses Charismas wird sie als übernatürlich, übermenschlich, gottgesandt und vorbildlich angesehen und deshalb als Führer anerkannt (Mikl-Horke 2001: 127).

„Im Fall der charismatischen Herrschaft wird dem charismatisch qualifizierten Führer als solchem kraft persönlichen Vertrauens in Offenbarung, Heldentum oder Vorbildlichkeit im Umkreis der Geltung des Glaubens an dieses sein Charisma gehorcht“ (Weber 1972: 124).

Charismatische Führer erschaffen in einem kreativen Prozess eine „neue“ Welt. Die ursprünglichen Bewohner dieser Welt, die Stabilität und Reproduktion gewöhnt sind, erfahren „plötzlich“ Neuerungen. In einem revolutionären Prozess wird die Vergangenheit umgestürzt (Schmidt 2004: 133). Die Gemeinschaften, die durch solche Führer hervorgebracht werden, sind vor allem segmentär und schwach ausdifferenziert (Leggewie 2010: 366). Weber bezeichnet die Beherrschten in diesem Fall als „Jünger“, „Vertrauensmänner“ oder „Gefolgschaft“ (Weber 1972: 141).

Welche „außeralltäglichen“ Fähigkeiten sind es nun, die Kim Il Sung in den Augen seiner Anhänger zu einem charismatischen Herrscher mach(t)en? Tatsächlich lässt sich diese Frage kaum beantworten.

In praktischer Hinsicht hat dies vor allem drei Ursachen: Erstens hat Kim selbst die Grenzen seines Landes – von einigen Besuchen in China und Russland abgesehen – nicht oft verlassen. Zweitens sind die meisten seiner Guerilla-Kameraden aus den Tagen des anti-japanischen Befreiungskampfes entweder seit langem tot oder sie gehören dem engsten Führungskader an, aus dem quasi keine Informationen nach außen dringen. Schließlich ist die bis heute anhaltende Rivalität zwischen Nord- und Südkorea dafür verantwortlich. Jegliche offiziellen Publikationen des Nordens dienen der Fortentwicklung des Personenkults um den „Großen Führer“. Demgegenüber haben Mitteilungen Südkoreas (und der USA) insbesondere aus der Zeit des Kalten Krieges nahezu ausschließlich dämonisierenden Charakter (vgl. Hurst 2003: 7 f.).

Eine der wenigen belastbaren Quellen hat vor diesem Hintergrund der ausgewiesene Nordkoreaexperte Andrei Lankov vorgelegt, der selbst in den 1980er Jahren die Kim Il Sung-Universität in Pjöngjang besucht hat. Aus sowjetischen Archiven und Interviews mit ehemaligen Weggefährten Kim Il Sungs hat Lankov verschiedenste Informationen zu einem konsistenten Bild zusammengefügt. Wie Frank sagt:

„Eine bislang noch nicht hinreichend genutzte Quelle von Fakten über Nordkorea sind die Archive der ehemaligen sozialistischen Länder, insbesondere der wichtigsten Verbündeten Sowjetunion und VR China. Erste Arbeiten hierzu zeigen das enorme Potenzial dieser Ressourcen“ (Frank 2008: 354).

Den Recherchen Lankovs zufolge hielt sich Kim Il Sung zwischen 1941 und 1945 in der Sowjetunion auf und kämpfte während dieser Zeit in der Mandschurei gegen die japanischen Besatzer. Nach der Kapitulation des Japanischen Kaiserreichs 1945 kehrte er als 33 Jahre alter Offizier der sowjetischen Armee im Dienstgrad Hauptmann nach Nordkorea zurück. Gemeinsam mit seinen Kameraden erreichte er Pjöngjang Ende September 1945. Als Guerilla-Kommandeur verfügte er zwar bereits über eine gewisse nationale Reputation, war aber bei weitem noch nicht allen seiner Landsleute bekannt. Am 14. Oktober 1945 trat Kim Il Sung erstmalig bei einer öffentlichen Kundgebung (die staatliche Geschichtsschreibung spricht von 100.000 Besuchern) zu Ehren der Roten Armee auf und wurde dort vom sowjetischen General Lebedev als „Nationalheld“ und „herausragender Guerillaführer“ präsentiert (vgl. Lankov 2002: 17 ff.).

In der Folge entstand ein Mythos um die Person Kim Il Sungs, der von da an in der kommunistischen Propaganda Koreas perpetuiert worden ist. Auf eine detaillierte Schilderung der Umstände, die zur Gründung der DVRK 1948 geführt haben sowie des Verlaufes des Koreakrieges von 1950 bis 1953, soll an dieser Stelle verzichtet werden. Gesagt sei hier lediglich, dass es Kim ab 1948 gelang, eine „neue“ (kommunistische) Herrschaftsordnung im Norden des Landes zu errichten. „Dabei half ihm sicherlich die Tatsache, dass er in der koreanischen Widerstandsbewegung gegen die japanische Kolonialmacht aktiv gewesen war und somit […] einen Anteil an der Befreiung Koreas aufzuweisen hatte“ (Maull 2009: 216 f.). Nach Ende des Koreakrieges nahm diese Ordnung gar „sektenartige Züge“ an (Maull 2009: 217). Der daran anknüpfende Personenkult und die von Kim entwickelte Ideologie werden gesondert in Kapitel 5 behandelt. Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass Kim Il Sung nicht nur ein charismatischer Herrscher war, sondern darüber hinaus ein totalitäres System errichtet hat.

2.3.1 Veralltäglichung des Charismas und Post-Totalitarismus?

„Beim Personalcharisma wird die Frage nach Institutionalisierung des Charismas allerspätestens dann unvermeidlich, wenn der (nahende) Tod des Charismaträgers die Nachfolgefrage akut werden lässt“ (Bliesemann de Guevara/Reiber 2011: 26).

Nachdem nun dargestellt worden ist, was einen charismatischen Herrscher in der Definition nach Weber ausmacht und inwiefern sich dieses Konzept auf Kim Il Sung anwenden lässt, sollen im Folgenden die Fragen beantwortet werden: Wie kann der Fortbestand eines solchen Charismas über den Tod eines Autokraten hinaus gewährleistet werden? Bedingen sich Totalitarismus und charismatische Herrschaft gegenseitig? Welchem Regimetyp und welcher Herrschaftsform ähnelt die DVRK gegenwärtig am ehesten?

Grundsätzlich tritt ein charismatischer Führer in Not- oder Ausnahmezeiten auf, doch er muss sein Charisma auch im Alltag aufrechterhalten. Dies stellt insbesondere beim Ausbleiben von Erfolgen ein Problem dar. Wie alle Herrscher streben auch charismatische Führer nach Machterhalt und Stabilisierung ihrer Herrschaft. Dazu entwickeln sie Strategien, die ihre Herrschaft in normalen Zeiten sichern sollen. Diese Strategien werden als „Veralltäglichung des Charismas“ bezeichnet (Mikl-Horke 2001: 127). Daneben drängen häufig die Anhänger des Herrschers sowie der Verwaltungsstab des Herrschaftsverbandes aus materiellem Eigeninteresse auf eine Veralltäglichung, wenn die charismatische Herrschaft zur Dauereinrichtung wird (Schmidt 2004: 133).

„Strategien der Veralltäglichung des Charismas sind die Übertragung der charismatischen Zuschreibung aufgrund von Vererbung (Erbcharisma: Dynastien) und der Übergang des Charismas von der Person auf das Amt (Amtscharisma: Papst, Allerchristlichster König). Damit kommt es zu einer Transformation der charismatischen Herrschaft in eine traditionale bzw. legale Herrschaft. Eine andere Möglichkeit der Veralltäglichung ist die Umformulierung der charismatischen Fähigkeit in eine sachliche Befähigung, die erlernbar ist durch eine bestimmte Erziehung und Ausbildung. Eine herrschaftsfremde Umdeutung des Charismas erfolgt, wenn die Legitimität demokratisch festgestellt wird und der Herrschende vom Volk abgesetzt werden kann“ (Mikl-Horke 2001: 127).

Nach dieser Interpretation handelt es sich bei der Veralltäglichung um ein Nullsummenspiel zwischen Charisma einerseits und Rationalität andererseits. Die Bedeutung des genuinen Charismas für die Legitimität der Herrschaft nimmt analog zum Wachstum der Vernunft ab.

„Mit der Veralltäglichung mündet der charismatische Herrschaftsverband in patrimoniale oder bürokratische Formen der Alltagsherrschaft. Die Nachfolgefrage kann auf verschiedene Weise gelöst werden, unter anderem durch institutionalisiertes Neu-Aufsuchen eines zum charismatischen Herrscher befähigten, durch Nachfolgerdesignation seitens des Charisma-Trägers oder durch Erbcharisma, das auf der Vorstellung ruht, das Charisma sei eine Qualität des Blutes und hafte an der Sippe seine Trägers“ (Schmidt 2004: 133).

Diese Lesart der Weberschen Herrschaftssoziologie kann jedoch nicht gänzlich überzeugen, da sie die Frage des Übergangs vom Charisma auf die Tradition oder die Legalität als primäre Quelle der Herrschaft nicht beantwortet. Weber nennt neben der Nachfolgerdesignation und dem Erbcharisma noch weitere Lösungsmöglichkeiten der Nachfolgefrage, darunter das erwähnte „Neu-Aufsuchen eines Charisma-Trägers“ und die „Offenbarung“. Im ersten Fall wird der neue Herrscher nach gewissen Merkmalen ausgewählt, so dass sich „Regeln“ herausbilden und somit letztlich eine „Traditionalisierung“ der Herrschaft erfolgt (Weber 1972: 143). In Bezug auf die Offenbarung nennt Weber unter anderem die Beispiele des Losentscheids oder der Orakelbefragung. „Dann ist die Legitimität des neuen Charisma-Trägers eine aus der Legitimität der Technik abgeleitete (Legalisierung)“ (Weber 1972: 133).

Damit bleibt jedoch weiterhin offen, welche Bedeutung das persönliche Charisma des Nachfolgers für die Legitimität seiner Herrschaft im Falle von Erbcharisma und Designation hat. Im Bezug auf das Erbcharisma existieren zwei Antworten auf diese Frage: (1) In den ständischen Gesellschaften etwa des „mittelalterlichen Okzidents“ und in Japan wurde eine „Erbordnung“ (Primogeniturerbrecht) etabliert, was den Schluss nahe legt, dass hier eine Traditionalisierung stattgefunden hat. „Das persönliche Charisma kann völlig fehlen“ (Weber 1972: 144). Im Alltag wird hier an die Heiligkeit der seit jeher geltenden Traditionen geglaubt (Weber 1972: 124). (2) Alternativ beschreibt das Erbcharisma aber ebenso die Vorstellung, dass die außeralltäglichen Fähigkeiten genetisch bedingt seien und sich über das Blut von Generation zu Generation weiter vererben ließen. Somit würde es sich weiterhin um eine charismatische Herrschaft im eigentlichen Sinne handeln und der Charismaträger wäre zumindest sporadisch gezwungen, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Gleiches gilt im Falle einer „Nachfolgerdesignation seitens des bisherigen Charisma-Trägers“. Auch dabei findet keine automatische Transition in eine völlig andere Herrschaftsform statt. Weber selbst spricht davon, dass hier die „Anerkennung seitens der Gemeinde“ erforderlich ist (Weber 1972: 143). Der einzige Unterschied zur genuin charismatischen Herrschaft besteht offenbar darin, dass die Legitimität nicht durch persönliche „Heldentaten“, sondern durch Designation erworben wurde. Darüber hinaus bleibt die Frage, warum die Beherrschten einen designierten Nachfolger anerkennen, weitgehend unbeantwortet.

In der Literatur zu Fragen des Charismas und seiner Definition herrschen unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Charisma erlernt werden kann oder nicht:

„Auf der einen Seite herrscht – innerhalb eines transzendenten Weltbildes – die Vorstellung, dass Gott allein über die Vergabe von Charisma verfügt, auf der anderen Seite gibt es – mit Konzentration auf rein diesseitige Kräfte – die Ansicht, man könne Charisma anhand von rationalen Regeln erlernen“ (Hatscher 2000:22).

Weber allerdings ist in diesem Punkt eindeutig: „Charisma kann nur ,geweckt‘ und ,erprobt‘, nicht ,erlernt‘ oder ,eingeprägt‘ werden“ (Weber 1972: 145). Die Relation zwischen charismatischer Herrschaft und Totalitarismus lässt sich wie folgt zusammenfassen:

“Totalitarianism requires charismatic leadership, ruthless repression, ideological commitment, and intense mobilization to be maintained. When one or more of these falters or disappears altogether – whether due to military setbacks or the leader’s physical frailty − a change of regime is likely to begin (if the totalitarian regime is not first defeated by external powers). But it is highly improbable that regime transformation will be to democracy as the legacies of totalitarianism are still very pervasive. There are too few reformers in the regime and there is too little pluralism in society to bring about such a radical change. Instead the emergence of collective political leadership, the gradual rise of ‘institutional pluralism’, a declining commitment to ideology, and the advent of ritualized mobilization indicates that a transition to post-totalitarianism has taken place” (Thompson 1998: 321).

Die These vom “post-totalitären Staat“, korreliert mit Max Webers Annahme von der Veralltäglichung des Charismas. Dabei wird davon ausgegangen, dass ein totalitäres System aus den folgenden Gründen nicht lange bestehen kann: Bei den Zielen solcher Regime handelt es sich um unerreichbare Utopien. Die revolutionäre Euphorie geht sukzessive verloren und die Elite, die im Rahmen der Revolution an die Macht gelangt ist, sieht sich einem kognitiven Dilemma gegenüber: Das Regime ist, in seiner bestehenden Form, ungeeignet, die proklamierten Ideale zu realisieren, doch die Elite ist daran interessiert, ihre Privilegien zu sichern und einen Regime-Change zu verhindern. Dementsprechend verliert der Staat viel von seiner utopischen Motivation, wird bürokratisiert und erfüllt routinemäßig staatliche Funktionen (McEachern 2010: 21). Als klassisches Beispiel für einen post-totalitären Staat wird die Sowjetunion in den letzten Jahren der Herrschaft Stalins sowie nach dessen Tod angeführt. Ab 1951 formierte sich innerhalb des Sowjet-Gulags organisierter Widerstand gegen das Regime, der sich bis zum Tod Stalins 1953 zu einer ernst zu nehmenden Revolte entwickelte. Die despotische Machtposition Stalins wurde dadurch und durch die von Stalins Nachfolger, Chruschtschow, formulierte Kritik am Führungsstil und Personenkult Stalins, nachhaltig beschädigt (vgl. Thompson 1998: 321). Zusammenfassend führt eine signifikante Erosion im Bereich eines der sieben Totalitarismus-Kriterien nach Friedrich und Brzezinski dazu, dass sich das Regime schleichend dem Subtypus des Autoritarismus nähert. Das Post-Totalitarismus-Konzept soll also vor allem dazu dienen, auch graduelle Veränderungen im politischen System theoretisch erfassen und den Einfluss von Institutionen sowie darin agierenden Akteuren beschreiben zu können. Zu Bedenken ist dabei allerdings, dass es sich in beiden Fällen (Totalitarismus und Autoritarismus) um Idealtypen handelt.

[...]


[1] Ich danke an dieser Stelle Prof. Dr. Patrick Köllner für den entsprechenden Hinweis.

[2] Die verbliebenen absoluten Monarchien der Welt sind: Brunei, Katar, Oman, Saudi-Arabien, Swasiland und Vatikanstadt (Wahlmonarchie).

[3] Zumindest für Kim Il Sung kann hier eindeutig von einer charismatischen Herrschaft im Sinne Max Webers gesprochen werden. Inwiefern Kim Jong-Il und dessen designierter Nachfolger Kim Jong-Un, über ein ebensolches Charisma verfügen, ist Gegenstand dieser Arbeit. Siehe dazu auch Abschnitt 2.3.

[4] Die von Polity IV angewendete Methode der Demokratiemessung nach Jaggers und Gurr wird mitunter für ihre Intransparenz und mangelnde Objektivität kritisiert.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
DVRK - Dynastische Volksrepublik Korea?
Untertitel
Erbliche Nachfolge in autokratischen Regimen am Beispiel Nordkoreas
Hochschule
Helmut-Schmidt-Universität - Universität der Bundeswehr Hamburg  (Institut für Internationale Politik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
85
Katalognummer
V176856
ISBN (eBook)
9783640983025
ISBN (Buch)
9783640983230
Dateigröße
1074 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
dvrk, dynastische, volksrepublik, korea, erbliche, nachfolge, regimen, beispiel, nordkoreas, erbfolge, dynastie, kim jong-un, politisches system, ostasien, machtwechsel, Demokratische Volksrepublik Korea
Arbeit zitieren
Bachelor Patrick Rohmann (Autor:in), 2011, DVRK - Dynastische Volksrepublik Korea?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/176856

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